Heilendes Bewusstsein: Symptome und Gedanken

Grete Flach verriet mir, dass es für jeden Patienten wichtig sei, seine Gedanken zu steuern. »Du darfst nicht immer zur Krankheit hindenken«, sagte sie, »wenn du das tust, verstärkst du die Symptome. Beschäftige dich lieber mit etwas anderem. Bei mir ist auch nicht alles so glatt gegangen, wie es sollte oder wie ich es wollte. Aber wenn ich etwas hatte, dann bin ich rausgegangen, habe das Grabscheit genommenund gegraben, oder die Säge und habe Holz gesägt, oder die Hacke und habe Holz gehackt, oder ich habe irgendetwas anderes getan. Bis ich wieder hereingekommen bin, war alles weg. Ganz einfach, weil ich keine Zeit hatte, meine Gedanken immer wieder an denselben Platz zu schicken.«


Hinter diesem Rat der Heilerin steckt eine philosophische Idee, die auch von den Weisen des Ostens vertreten wird: Essind die Gedankenformen, sagen diese Lehrer, die erst die Wirklichkeit schaffen. Wenn wir uns immer wieder mit einer Idee befassen und ihr Raum in unserem Geist geben, gewinnt dieser Gedanke materielle Kraft.Ein Schmerzimpuls, den wir mit inneren Bildern untermalen, wird sich verstärken, weil er Bedeutung erhält.


Sorgen und Ängste, die wir gleichzeitig denken, vielleicht die Befürchtung, hinter dem entdeckten Symptom könne sich eine schwerwiegende Erkrankung verbergen, nähren das Symptom und machen es größer, rücken es in den Vordergrund der Wahrnehmung. Das Gehirn aber kann nicht zwischen Gedankenformen und äußerer Wahrnehmung unterscheiden: Ob ich mir nur bildhaft vorstelle, ein Glas Wasser zu trinken oder ob ich
tatsächlich das Glas ergreife – im Gehirn entstehen an derselben Stelle vergleichbare Muster, das haben Untersuchungeninzwischen zweifelsfrei belegt. So haben Träume und Phantasien, Ängste und Projektionen, eine materielle Kraft. Die gedachte oder befürchtete Wirklichkeit erschafft sich selbst. (Symptome können natürlich auch wichtige Zeichen sein, und im Zweifelsfall muss eine ärztliche Diagnose Klarheit schaffen. Diese besonderen Fälle sind hier nicht gemeint, sondern jene alltäglichen Beschwerden, die unsere Lebensqualität beeinflussen.)

 

Der Rat der Heilerin ist im Alltag schwer umzusetzen. Von den Symptomen wegzudenken, ist aber tatsächlich möglich. Vor allem kommt es darauf an, mit dem Geist in die Gegenwart zu gehen, sich vollständig auf das zu konzentrieren, was wir gerade tun und dabei alle Gedankenformen sanft beiseite zu schieben. Dies kann nur dann gelingen, wenn wir sie lediglich betrachten, ohne zu werten, wie das Eckhard Tolle rät, der seine Lehre in der Tradition des Ostens formuliert.


Der einfache und auf den ersten Blick beinahe naive Vorschlag der Heilerin zielt in dieselbe Richtung: Indem wir uns auf eine alltägliche Handlung konzentrieren und dabei vollständig präsent bleiben, geben wir unserem Selbst einen anderen Fokus und lassen den ängstlichen Gedanken nicht mehr den Raum, unsere Wirklichkeit zu schaffen.


Das ist noch keine Heilung, auch wenn diese Methode bei kleinen Beschwerden durchaus helfen kann. Aber es ist der Beginn eines anderen Denkens, das uns mit heilsamen Aspekten der Seele in Kontakt bringen kann.

 

Wer eine bedrohliche Erkrankung hat, kann ohne Hoffnung nur schwer weiterleben. Die Hoffnung zu stärken, den Glauben, dass Genesung vielleicht möglich ist, dieses Prinzip war Grete Flach besonders wichtig. Es komme immer darauf an, den Menschen Mut zu machen, ganz gleich, unter welchen Symptomen sie litten, hat sie mir einmal gesagt. Ohne Hoffnung gebe es keine Heilung, und selbst wenn sich die Erkrankung als widerstandsfähig gegen alle Hilfe erweisen sollte, sei doch ein Leben in Hoffnung der Verzweiflung immer vorzuziehen. Wer der Hoffnung keinen Raum gebe, überlasse der Erkrankung das Feld und gebe der Angst den ganzen Raum.


Viele Menschen, die sich als Realisten sehen, können diesen Gedanken nur schwer akzeptieren. Wer den Kranken falsche Hoffnung mache, sagen sie, sei ein Lügner, denn wenn das Leben auf dem Spiel stehe, hätten Patienten den Anspruch auf die ganze Wahrheit. Aber was bedeutet das wirklich? Aus der Sicht der Schulmedizin gibt es zahlreiche Erkrankungen, die unheilbar sind, in einem bestimmten Stadium jedenfalls scheint es tatsächlich keine Behandlungsmöglichkeiten mehr zu geben, dann kann nur noch eine Schmerztherapie die Symptome lindern, keinesfalls mehr heilen.

 

Weil in vielen, vielleicht den meisten Fällen Mediziner ihre Diagnose von der Wirklichkeit bestätigt sehen, nehmen sie nicht wahr, dass es immer wieder einmal überraschende, völlig unerwartete Veränderungen im Bild der Erkrankung geben kann, dass also selbst in aussichtslos erscheinenden Fällen Heilung nicht ausgeschlossen ist. Diese »Spontanheilungen« sind aus medizinischer Sicht Ausnahmen von der Regel, sie lassen unsere Vorstellung von den Fähigkeiten des Körpers und der Seele aber in anderem Licht erscheinen.


Die ganze Wahrheit ist deshalb: Heilung ist immer möglich, auch in schwerwiegenden Fällen, die das Leben unmittelbar bedrohen. Und auch wenn die Chance auf Rettung vielleicht nicht groß ist, zeigen viele Beispiele doch, dass sie besteht. Jeder Patient hat also zu jedem Zeitpunkt Grund zur Hoffnung.


Der Psychoonkologe Carl O. Simonton hat schon vor langer Zeit darauf hingewiesen, dass eine überwiegend skeptische Sicht der Heilungschancen den Verlauf einer Erkrankung negativ beeinflussen kann, und die moderne onkologische Forschung bestätigt diese These.[13] Weil der Patient, verängstigt durch die ärztliche Diagnose, eine Heilung nicht mehr für möglich hält, stürzt er oft in die Depression, ein Zustand, der die Symptome verstärkt, wie neue Untersuchungen zeigen. Die Ärzte und ihr Patient erwarten eine schrittweise Verschlechterung, und diese Voraussage trifft ein – eine sich selbst erfüllende Prophezeiung.


Umgekehrt kann die Erwartung des Kranken, eine bestimmte Therapie werde ihm helfen, die Wirkung auch chemischer Medikamente verstärken. Ohne den Glauben an die Wirksamkeit haben auch Chemotherapeutika wohl nicht die volle Kraft, oder ein vielfach getestetes wirkungsvolles Medikament versagt vollständig, wie das die deutsche Ärztin in den Anden erlebt hatte.

 

Die ganze Wahrheit für einen Patienten ist also umfassender, hat mehrere Aspekte: Es gibt immer Hoffnung, selbst in einer lebensbedrohlichen Situation, aber es ist natürlich auch möglich, dass sich die Symptome nicht verbessern, vielleicht auch, dass die Krankheit zum Tode führt. Was am Ende geschehen wird, ist in gewisser Weise offen.


Eine solche Haltung nimmt dem Patienten nicht die Verantwortung ab, sich mit seiner Situation auseinander zu setzen, also auch die Möglichkeit des Todes zu sehen und vielleicht zu akzeptieren. Aber sie lässt ihm ein Fenster der Hoffnung, das seine Lebenskraft stärken und ihm eher helfen wird, nicht vor der Zeit aufzugeben.