Kabat-Zinn: 22. Achtsamkeit und chronische Schmerzen

 

Der achtsame Umgang mit chronischen Rückenschmerzen

Wer noch niemals mit chronischen Schmerzen zu tun hatte, macht sich keine Vorstellung davon, wie sehr sie das Leben verändern und sich auf alles auswirken können, was man tut.


Man muss nicht Invalide sein, um die Folgen eines Rückenleidens auf deprimierende Weise zu spüren zu bekommen. Auch wer nur einen »schlimmen Rücken« hat, der ihn zur Vorsicht zwingt, kann sich manchmal wie gelähmt vorkommen. Zuweilen reicht es aus, einen Kugelschreiber vom Boden aufzuheben, in die Badewanne zu steigen oder eine unvorsichtige Drehung beim Verlassen des Autos zu machen, um auf Tage oder Wochen hinaus in die Rückenlage gezwungen zu sein, die allein die starken Schmerzen erträglich macht.


Aber nicht nur der Schmerz selbst, sondern auch die ständige Gefahr, ihn mit einer falschen Bewegung wieder auszulösen, beeinträchtigt eine normale Lebensführung. Tausenderlei alltägliche Verrichtungen verlieren ihre Selbstverständlichkeit und erfordern ein besonders langsames und vorsichtiges Vorgehen. Und auch in Zeiten der Schmerzfreiheit kann das ungute Gefühl von Instabilität und Zerbrechlichkeit der tragenden Körpermitte eine große Verunsicherung bedeuten. Nichts fühlt sich richtig an, ob man steht, geht oder sich umdreht. Man hat das Gefühl, sich abstützen zu müssen, und ist ständig auf der Hut vor Kollisionen mit Gegenständen oder Menschen, die das labile Gleichgewicht erschüttern könnten. Es ist kaum möglich, ein Gefühl von »Normalität« zu entwickeln, wenn der zentrale Drehpunkt des Körpers auf diese Weise zum Problem wird.


Manchmal kann man sich trotz aller Vorsicht den Rücken verrenken. Ohne dass man sich eines bestimmten Auslösers bewusst ist, versteift sich die Rückenmuskulatur, und man ist für Tage oder Wochen in seinem Befinden zurückgeworfen. In dem einen Augenblick geht es noch ganz passabel, und im nächsten steckt man in ernsten Schwierigkeiten.


Menschen mit chronischen Rückenproblemen haben »gute Tage« und »schlechte Tage«, und bei den meisten von ihnen sind die schlechten weit in der Überzahl. Es kann äußerst demotivierend sein, von einem Tag zum nächsten zu leben, ohne zu wissen, wie man sich morgen fühlen und wozu man noch in der Lage sein wird. Konkrete Planungen entfallen, und es wird nahezu unmöglich, einer normalen Arbeit nachzugehen und auf unkomplizierte Weise soziale Kontakte zu pflegen. Und wenn es doch einmal einen guten Tag gibt, übertreibt man es in seiner Begeisterung und seinem Nachholbedarf leicht und muss es nachher büßen – ein Teufelskreis kann entstehen. Ein Rückenproblem zwingt geradezu zur Achtsamkeit, weil jede Unachtsamkeit in der Bewegung und im alltäglichen Tun zu massiven Einschränkungen der Beweglichkeit führen kann.


Im Sinne der Schmerzakzeptanz und -regulierung erzielen unter den Klinikpatienten mit chronischen Schmerzen jene die besten Ergebnisse, die den Umgang mit dem Schmerz von vornherein als ein langfristiges Sanierungsprogramm betrachten, die also keine wesentliche Verbesserung innerhalb von acht Wochen erwarten. Besser und realistischer ist es, von sechs Monaten, einem Jahr oder sogar zwei Jahren auszugehen und mit Geduld und Ausdauer weiterzuarbeiten, ohne sich um anfängliche Erfolge oder deren Ausbleiben zu sehr zu kümmern. Dessen ungeachtet besteht die Möglichkeit, dass sich die Lebensqualität schon mit dem allerersten Üben des Body-Scans verbessert.


Zusätzlich zu der Bereitschaft, langsam und systematisch an chronischen Rückenschmerzen zu arbeiten, sollte zum strategischen Vorgehen auch eine realistische Zielvorstellung gehören, was mit konsequenter Arbeit zu erreichen ist. Es kann sinnvoll sein, sich auszumalen, in welcher körperlichen Verfassung man in drei oder in fünf Jahren sein will. Denn eine solche Vision hilft dabei, konsequent einem Programm achtsamer Leibesübungen zu folgen. Es kann auch nützlich sein, sich in der Rolle eines Sportlers zu sehen, der ein professionelles Trainingsprogamm zu absolvieren hat, das sich nicht nur auf den Rücken konzentrieren, sondern den ganzen Körper stärker und geschmeidiger machen soll. Unser Trainingsziel ist die eigene Sanierung. Der Ausgangspunkt ist dabei immer die augenblickliche körperliche Verfassung. »Sanieren« kommt vom lateinischen sanare, das nichts anderes heißt als »gesund machen«, »heilen«. Den Körper zu sanieren bedeutet also keineswegs nur, seine Funktionstüchtigkeit wiederherzustellen, sondern im Körpererleben die Erfahrung von Heilheit zu machen.


Zu einem langfristigen Sanierungsprogramm, insbesondere zur Stabilisierung des Rückens, können zum Beispiel die Übungen gehören, die man in der Physiotherapie gelernt hat, oder möglichst umfassende Yoga-Arbeit, die im Einzelnen allerdings mit dem Arzt oder Physiotherapeuten besprochen werden sollte. Wenn Ihnen einzelne Übungen zu schwer fallen, vereinfachen Sie sie, lassen Sie sie ganz weg, oder ersetzen Sie sie durch andere, auch je nach Tagesform. Es ist nicht notwendig, alle Übungen auszuführen. Beschränken Sie sich auf diejenigen, die Ihr Arzt für sinnvoll hält, und meiden Sie die anderen, von denen er abrät oder bei denen Sie vorläufig noch ein ungutes Gefühl haben. Wie wir schon gesehen haben, dann jede noch so einfache Körperbewegung oder -position zu Yoga werden, solange sie achtsam und sorgsam ausgeführt oder eingenommen wird. Auch achtsames Pilates kann hier je nach Umständen ein gangbarer Weg sein.


Für jedes Übungsprogramm zur achtsamen Körperarbeit gilt aber, dass es sehr langsam und behutsam absolviert werden muss, vor allem bei Rückenproblemen. Eine Physiotherapeutin, die viele unserer Patienten behandelte, sagte mir einmal, dass sie besonders gerne mit Menschen arbeite, die das MBSR-Programm durchlaufen haben. Sie seien deutlich sensibler und entspannter und bewiesen ein viel besseres Körpergefühl als andere, die nicht in der Achtsamkeit geschult sind und nicht wissen, wie man mit der Dehnung, Streck- oder Beugebewegung atmet oder mit dem Körper und der Schmerzempfindung arbeitet, anstatt gegen sie. Auch die Teilnehmer selbst berichten, dass sich ihnen durch das bewusste Einsetzen ihres Atems die Übungen ganz anders erschließen.


Für Menschen mit Rückenproblemen ist die Entwicklung des Körpergefühls durch regelmäßiges Training sogar noch wichtiger. Denken Sie an die Formel »Use it, or lose it« – was man nicht gebraucht, verkümmert. Die Rückenschmerzen dürfen nicht zur Entschuldigung dafür werden, dass man den ganzen Körper vernachlässigt. Zusätzlich zu Ihren Übungen im achtsamen Yoga können Sie Ihren Körper insgesamt kräftigen, indem Sie regelmäßig spazieren gehen oder mehrfach in der Woche Rad fahren, eventuell auch auf einem Heimtrainer, schwimmen gehen oder  Wassergymnastik betreiben. Wenn Sie bereit sind, alles zu tun, was in Ihrer Macht steht, um sich im Geiste des MBSR körperlich zu sanieren, sollten Sie jeden Tag, wenigstens aber jeden zweiten Tag, zumindest einige Streck-und Dehnübungen ausführen, wie sie in Kapitel 6 beschrieben sind, selbst wenn es anfangs nur fünf Minuten sind.


Im Zentrum Ihres Sanierungsprogramms sollte weiterhin der tägliche Body-Scan stehen, wie er in den Kapiteln 5 und 21 beschrieben ist. Nutzen Sie diese fünfundvierzig Minuten der Stille, ob es Ihnen nun leicht- oder schwerfällt, um Augenblick für Augenblick mit Ihrem Körper auf einer tiefen Ebene in Kontakt zu kommen. Denken Sie an die sieben Haltungsaspekte aus dem zweiten Kapitel, und gehen Sie vor allem wohlwollend und liebevoll mit sich selbst um. Mit das Heilsamste, was Sie im Verlauf des Tages für sich und Ihren Körper tun können, ist das Atmen. Umfluten oder umfangen Sie mit Ihrem Atem die Körperregion, die Ihnen Schmerzen oder Beschwerden bereitet, um auf dieselbe Weise Verspannungen und Verhärtungen zu lösen, wie wir es auch im Body-Scan tun. Lenken Sie den Atem bewusst in die schmerzende Region hinein, spüren Sie, wie er also beispielsweise in die Lendengegend einströmt und mit ihr eins wird. Stellen Sie sich beim Ausatmen vor oder spüren Sie, wie die  Schmerzempfindung sich löst und mit dem Atem ausströmt, während sich Ihr ganzer Körper zusammen mit der schmerzenden Rückenpartie entspannt. Orientieren Sie sich bei dieser Übung nicht über den jeweiligen Tag, ja nicht einmal über den einzelnen Moment hinaus. Bleiben Sie im Hier und Jetzt. Nehmen Sie jeden Tag, jeden Augenblick so, wie er sich anbietet. Lösen Sie sich nach Möglichkeit von allen Vorstellungen, wie Sie sich fühlen, wie weit die Schmerzen nachlassen sollten, und beobachten Sie einfach nur den Atem in seinem rhythmischen Fluss. Bringen Sie sich selbst und Ihrer Situation wieder so viel Wohlwollen, Mitgefühl und Akzeptanz wie möglich entgegen, in jedem Augenblick, mit jedem Atemzug. Wenn Sie bei diesem »Teil-Scan« Ihre Position verändern müssen, damit er besser gelingt, dann tun Sie das unbedingt. Finden Sie heraus, was Ihnen guttut. Dazu gehört auch die Wahl der Unterlage, falls Sie im Liegen üben, sei es auf dem Boden auf einer dicken Matte oder auf dem Bett, ob Sie dabei die klassische »Totenstellung« einnehmen oder sich lieber auf die Seite drehen und die Beine anziehen. Tun Sie, was immer Ihnen intuitiv richtig erscheint, um Sie in Ihrer Übung zu unterstützen.

 

Gerade bei Rückenproblemen und Rückenschmerzen ist die Achtsamkeit im alltäglichen Tun von besonderer Bedeutung, ja, unverzichtbar. Je mehr Sie sich Ihres Tuns im Tun bewusst sind, umso besser. Sie werden wahrscheinlich wissen, dass Sie beim Heben – auch von leichten Objekten – Ihren Körper nicht verdrehen dürfen. Man hebt mit geradem Rücken, gebeugten Knien, das Gewicht eng am Körper, und dreht sich erst, wenn man aufrecht ist. Dieser kontrollierte Ablauf unterstützt außerdem die Koordination von Bewegungsempfinden, Atemgewahrsein und bewusster Körperhaltung. Steigen Sie mit einer Drehbewegung aus dem Auto aus? Falsch. Drehen Sie sich vorsichtig auf dem Sitz, und richten Sie sich danach auf. Greifen Sie mit gestreckten Beinen nach dem Wasserkasten auf dem Boden? Falsch. Gehen Sie mit geradem Rücken in die Knie, und heben Sie das Gewicht langsam aus der Kraft der Oberschenkel. Achtsamkeit in den alltäglichen Bewegungsabläufen kann viel dazu beitragen, sich vor Verletzung und Schmerz zu schützen.


Eine andere Herausforderung ist die Hausarbeit. Nehmen wir als Beispiel das Staubsaugen. Das einseitig belastende Heben und Ziehen des Staubsaugers kann zusammen mit den anderen Bewegungen beim Staubsaugen für den Rücken gefährlich sein. Aber auch hier lassen sich die Bewegungsabläufe mit Bedacht und Phantasie in eine Art achtsamen Yoga verwandeln. Um unter dem Bett und der Couch zu saugen, können Sie je nach Beweglichkeit in die Hocke oder auch auf alle viere gehen und dabei die Streck- und Beugebewegungen bewusst und im Einklang mit dem Atem ausführen, ganz so, wie Sie es auch bei einer Yoga-Übung tun würden. Wenn Sie auf diese Weise staubsaugen, langsam und achtsam, nehmen Sie auch rechtzeitig die Zeichen von Überlastung wahr. Beschließen Sie die Arbeit mit fünf oder zehn Minuten Yoga, um sich zu entspannen und versteifte Muskeln zu dehnen.


Natürlich werden nur die wenigsten Menschen auf diese Weise beim Staubsaugen und den anderen häuslichen Arbeiten vorgehen. Wenn Sie aber erst einmal ein wenig im Alltag experimentieren, werden Sie schnell feststellen, dass Achtsamkeit in Verbindung mit den anderen Fähigkeiten, die Sie sich durch die Yoga- und Meditationsübungen erwerben, ein lästiges Arbeitspensum in eine therapeutische Übung und eine frustrierende Beschränkung in eine Gelegenheit zur Selbstheilung verwandeln kann. Wer nicht mit Rückenproblemen zu tun hat, kann das achtsame Staubsaugen als Vorbeugung üben. Und wenn Staubsaugen für Sie überhaupt nicht in Frage kommt, so wird es andere Arbeiten im Haushalt geben, bei denen Sie im gleichen Sinne verfahren können. Wie im Yoga arbeiten Sie mit und an den Grenzen Ihrer Möglichkeiten, wobei Sie auf die Signale Ihres Körpers achten. So können Sie erleben, wie Ihr Körper im Laufe von Wochen und Monaten kräftiger wird.


In der Klinik empfehlen wir unseren Patienten mit Rückenproblemen, sich den Lebensbereichen, in denen es durch ihre körperliche Verfassung am meisten Ausfälle gibt, auf sehr vorsichtige Weise wieder anzunähern und zunächst ein bisschen damit zu experimentieren, was ihnen möglich ist. Schmerzen zu haben muss nicht bedeuten, sich in seiner Körperlichkeit in Frage zu stellen. Vielmehr sind die Beschwerden ein Grund mehr, mit dem Körper zu arbeiten und ihn so weit wie möglich zu kräftigen, damit Sie sich in wichtigen Bereichen auf ihn verlassen können. Nichts wird besser, wenn Sie auf Ihren gewohnten Spaziergang, die Einkäufe in der Stadt, die Hausarbeit oder Ihr Liebesleben verzichten.


Experimentieren Sie, aber tun Sie es auf achtsame Weise! Finden Sie heraus, was funktioniert oder was Sie verändern müssen, um den wichtigsten Alltagsaufgaben nachkommen zu können, auch wenn es vielleicht nur in eingeschränkter Form möglich ist. Berauben Sie sich nicht aus einem Impuls der Ängstlichkeit oder des Selbstmitleids der Aktivitäten, die das Leben bereichern und ihm Bedeutung und Struktur geben. Erinnern Sie sich an unsere Feststellung in Kapitel 12, dass mit einer Aussage wie »Ich kann nicht« das Unvermögen vorprogrammiert ist. Es handelt sich um eine »selbsterfüllende Prophezeiung«, die sich ihre eigene Realität schafft.


Aber da es lediglich ein Gedanke ist, der auch falsch sein kann, wäre es besser, sich in diesem Moment selbst zu beobachten und den »Ich-kann-nicht«-Gedanken bewusst durch einen anderen zu ersetzen: »Vielleicht geht es ja doch, mal sehen, wenn ich es mit Achtsamkeit versuche …« Immer und immer wieder haben mir über die Jahre Menschen berichtet, dass es ihnen buchstäblich das Leben gerettet habe, in dieser Weise mit und an sich zu arbeiten.

Schmerz und Meditation

Es ist kein Zufall, dass uns die Meditation einiges über die Bewältigung von Schmerz zu lehren hat. Die intensive Schulung in der Meditation ist traditionell die Domäne der Klöster und spirituellen Zentren. Während der vergangenen gut zweieinhalbtausend Jahre hatten die Mönche ausgiebig Gelegenheit, ihre Erfahrungen mit dem Schmerz in die Entwicklung von Methoden zur Schmerzüberwindung einfließen zu lassen. Ausdauerndes Meditieren kann physisch wie psychisch sowohl qualvoll als auch beglückend und befreiend sein. Man stelle sich nur einmal vor, das Programm unseres Ganztagsseminars, wie es in Kapitel 8 dargestellt ist, über Wochen oder Monate in Schweigen beizubehalten. Und tatsächlich gibt es Menschen, die genau das in speziellen Meditations-Retreats tun und es meist als zutiefst bereichernd erleben.


Wenn man für längere Zeit mit gekreuzten Beinen reglos auf dem Boden sitzt, in der Regel für eine halbe bis zu einer ganzen Stunde oder sogar länger und das täglich insgesamt zehn Stunden über Tage oder Wochen, kann es sein, dass der Körper irgendwann unerträglich zu schmerzen beginnt. Betroffen sind vor allem Rücken, Nacken, Schultern und Knie. Für gewöhnlich legen sich diese Schmerzen von selbst wieder, aber sie bis dahin tagelang durchzustehen ist eine ziemliche Herausforderung. Wer bereit ist, sich dieser Erfahrung bewusst zu stellen, sich dem Schmerz zu öffnen, ihn anzunehmen und zu beobachten, ohne vor ihm davonzulaufen, erfährt dabei eine Menge über sich selbst und das Phänomen »Schmerz«. Vor allem sieht man, dass es möglich ist, mit ihm zu arbeiten. Man sieht, dass andauernder Schmerz keine feste Größe ist, sondern sich ständig in seiner Qualität verändert. Man sieht, dass Empfindungen einfach sind, was sie sind, und dass Gedanken und Gefühle einer ganz anderen Kategorie angehören. Man sieht, dass der Geist eine große Rolle beim Leiden spielt, aber ebenso in der Befreiung vom Leiden. All das lehrt der Schmerz.


Wer an einem Meditations-Retreat mit längeren Sitzperioden teilnimmt, wird zwangsläufig mit der Schmerzerfahrung konfrontiert, denn wenn man über längere Zeit eine ungewohnte Körperposition einnimmt, ist dies in der Anfangsphase unvermeidlich. Der Schmerz stellt sich aber nicht nur durch die ungewohnte Sitzhaltung ein, sondern auch durch die angestaute physische Spannung, die wir unbemerkt mit uns herumtragen und die sich uns nun im Stillsitzen auf qualvolle Weise offenbart. Die Form dieser Beschwerden hat starke Ähnlichkeit mit dem Spektrum an Schmerzerfahrungen, wie man es von chronischen Erkrankungen kennt: ein Ziehen und Brennen, plötzliches Stechen oder Reißen in den Knien, in Rücken und Schultern. Man braucht nur aufzustehen und ein wenig umherzugehen, um den Schmerzen ein Ende zu bereiten.


Ein ernsthaft Meditierender wird aber zumeist sitzen bleiben, um die Kraft seiner Achtsamkeit auf den Schmerz als eine Erfahrung unter anderen zu richten. Dafür wird er mit der Steigerung seiner Fähigkeit belohnt, Stille, Konzentration und Gleichmut auch angesichts starker Beschwerden aufrechtzuerhalten. Natürlich ist dies keine leichte Lektion. Man muss bereit sein, sich dem Schmerz immer und immer wieder auszusetzen, tagein, tagaus, ihn zu beobachten, mit ihm zu atmen, ihm nachzugehen und ihn anzunehmen. Die Meditation wird so zu einem Experiment mit dem Schmerz, um sein Wesen besser zu verstehen, um zu lernen, wie man in ihn hineingeht und wie man mit ihm auskommt.

Kopfschmerzen

Die meisten Kopfschmerzen sind nicht Anzeichen eines Tumors oder anderer pathologischer Veränderungen, auch wenn ständig wiederkehrende starke Kopfschmerzen leicht Anlass zu solchen Befürchtungen geben können. Halten die Kopfschmerzen aber über längere Zeit an oder sind sie ausgesprochen heftig, ist es unbedingt erforderlich, sich einer gründlichen ärztlichen Untersuchung zu unterziehen, um eine organische Erkrankung auszuschließen, bevor man den Versuch unternimmt, sie mit Medikamenten oder mit Meditation in den Griff zu bekommen. Ein erfahrener Arzt wird immer so vorgehen, ehe er einen Kopfschmerzpatienten zu uns zum MBSR-Training schickt. Nach einer vollständigen neurologischen Untersuchung, die in der Regel auch eine Computertomographie umfasst, um einen Hirntumor auszuschließen, lautet die Diagnose meistens Spannungskopfschmerz oder Migräne beziehungsweise beides.


Die Mehrzahl der Patienten, die mit chronischen Kopfschmerzen zu uns kommen, erzielen mit der Meditation gute Erfolge. Wir hatten einmal eine Teilnehmerin, die schon seit zwanzig Jahren unter Migräne litt, gegen die sie jeden Tag Cafergot® nahm. In mehreren Schmerzkliniken war sie bereits ohne Erfolg behandelt worden. Sie begann mit unserem Programm und hatte bereits nach zwei Wochen zwei schmerzfreie Tage hintereinander. Das hatte sie seit zwanzig Jahren nicht mehr erlebt. Während der übrigen Programmwochen blieb sie ebenfalls weitgehend schmerzfrei.


Dem Patienten genügt eine einzige Erfahrung, dass sein chronischer Kopfschmerz verschwinden kann, um ihn wieder an diese Möglichkeit glauben zu lassen. Sie kann auch seine Auffassung von seinem Körper und seiner Erkrankung grundlegend verändern und ihm neue Zuversicht geben, einen Zustand positiv zu beeinflussen, der bis dahin unbeherrschbar schien. Die Anleitung zum Body-Scan auf der CD schließt mit der Empfehlung ab, den Atem durch eine imaginäre Öffnung am Scheitel auszublasen, so wie ein Wal, der durch sein Blasloch am Kopf ein- und ausatmet. Viele unserer Patienten benutzen diese »Öffnung« als Ventil, um darüber ihren Kopfschmerz »abzulassen«. Mit jedem Ausatmen lässt man etwas von der Spannung und dem Druck entweichen. Übt man diese Art der Atmung jeden Tag als Teil des Body-Scans, können Anflüge von Kopfschmerz leicht »ausgeleitet« werden, bevor sie sich in ausgewachsene Schmerzen verwandeln. Aber selbst wenn sich der Kopfschmerz schon festgesetzt hat,
kann man die Methode wirkungsvoll einsetzen, um ihn einzudämmen oder sogar wieder aufzulösen.


Die meisten Patienten berichten außerdem, dass Häufigkeit und Intensität ihrer Kopfschmerzen abgenommen haben, seit sie regelmäßig meditieren, und zwar auch in den Zeiten, in denen sie nicht meditieren. Diese doppelte Wirkung entspricht einer doppelten Wirkungsweise der Meditation. Während das akute Schmerzerleben durch das beschriebene »Ausleitungsverfahren« günstig beeinflusst wird, nimmt die Häufigkeit der Schmerzphasen aufgrund der zunehmenden Entspannung ab, die durch die Meditation erreicht wird. Und mit dem geringeren Grad an Anspannung fällt die physiologische Vorbedingung für die Entstehung von Kopfschmerz weg.

 

Mit der Vertiefung der Meditationspraxis stellt man im Laufe der Zeit auch  fest, dass die Kopfschmerzen nicht von ungefähr kommen. In der Regel gibt es für sie definierbare Bedingungen und Auslöser. Das Problem dabei ist allerdings, dass die physiologischen Ursachen noch weitgehend unbekannt sind und die psychologischen Ursachen oft einfach übergangen werden.


Natürlich kann Stress ein Grund für Kopfschmerzen sein, und gerade Menschen, die unter Spannungskopfschmerz leiden, sind sich dieses Zusammenhangs bewusst. Viele Menschen berichten aber auch, dass sie mit Kopfschmerzen aufwachen oder von ihnen befallen werden, wenn sie nicht merklich unter Stress stehen, wie am Wochenende oder zu anderen Zeiten, in denen sie eigentlich ganz entspannt sind.


Einige Wochen der Übung in der Achtsamkeit eröffnen den Patienten oft neue Einsichten in ihre Kopfschmerzen und ebenso in die Gründe und Anlässe für deren Entstehung. Manchmal stellen die Patienten fest, dass sie viel verspannter sind, als sie dachten, sogar am Wochenende. Manchmal bemerken sie, dass ein bedrückender Gedanke dem Kopfschmerz vorausgegangen ist. Man muss sich eines solchen Gedankens nicht einmal bewusst sein, er wirkt trotzdem. So kann ein Anflug von Sorge beim Aufwachen genügen, um im Körper noch vor dem Aufstehen Spannung aufzubauen und den Kopfschmerz auszulösen, von dem man dann glaubt, man wäre mit ihm aufgewacht.


Auch hier hilft es, achtsam zu sein. Spüren Sie bereits im Moment des bewussten Erwachens in Ihren Körper und Ihren Atem hinein. Um sich in diesem Impuls zu unterstützen, können Sie auch zu sich sagen »Ich wache jetzt auf« oder »Ich bin jetzt wach«. Spüren Sie, während Sie noch im Bett liegen, wie es sich anfühlt, Ihres ganzen Körpers für die Dauer einiger Atemzüge gewahr zu werden, bevor Sie aufstehen. Sie können sich auch in Erinnerung rufen, dass Sie jetzt einen völlig neuen Tag begrüßen, einen Tag voller ungeahnter Möglichkeiten, für den Sie sich bereit machen, indem Sie offen und empfänglich für alles bleiben, was immer sein Verlauf bringen mag, um ihm mit Achtsamkeit zu begegnen.

 

Bei manchen Menschen scheint der Kopfschmerz symbolisch für all das zu stehen, was sich in ihrem Leben in Unordnung befindet und aus dem Lot geraten ist, sei es ihr Körper, ihr Familienleben, die Arbeit oder das übrige Lebensumfeld. Sozusagen ihr ganzes Dasein bereitet ihnen Kopfschmerzen. Sie stehen für gewöhnlich jeden Tag so sehr unter Stress, dass es schwierig ist, einen Ansatzpunkt zu finden, über den sich ihre Kopfschmerzen erklären lassen. Wenn damit Ihre eigene Situation beschrieben ist, sollten Sie wissen, dass Sie vorerst keines Ihrer Probleme lösen müssen, um zu diesem Ansatzpunkt zu finden.


Sie müssen nur eines tun: wirklich damit anfangen, im Laufe des Tages mehr Aufmerksamkeit dem augenblicklichen Geschehen zu schenken, Kopfschmerz hin, Kopfschmerz her, mit anderen Worten: sich darin üben, ganz im Körper und wahrhaft wach und präsent zu sein. Allmählich wird sich der Zustand auf natürliche Weise wieder in Richtung einer gesunden Balance und Selbstregulierung verschieben, die Allostase stellt sich wieder ein, und die Kopfschmerzen verschwinden möglicherweise wie von selbst. Es kann immer noch Jahre dauern, bis Sie sich aus einer verfahrenen Situation herausgearbeitet haben. Aber allein der Vorsatz in Verbindung mit der Bereitschaft, das, was ist, zu akzeptieren und Geduld zu üben, kann zu einem erheblichen Rückgang der Kopfschmerzen führen, lange bevor Ihre übrigen Probleme eine Lösung gefunden haben.