Joe Dispenza: 2-Eine kurze Geschichte des Placebos

Wie heißt es doch? Verzweifelte Zeiten erfordern verzweifelte Maßnahmen. Als der an der Harvard-Universität ausgebildete amerikanische Chirurg Henry Beecher während des Zweiten Weltkriegs beim Militär diente, ging ihm das Morphium aus. Gegen Ende des Krieges war in den Feldlazaretten Morphium Mangelware, das war also eigentlich nichts Ungewöhnliches.

 

Beecher wollte gerade einen schwer verwundeten Soldaten operieren. Ohne Schmerzmittel, so fürchtete er, würde der Soldat einen tödlichen Herzkreislaufschock erleiden. Doch dann geschah etwas für ihn höchst Erstaunliches.

 

Völlig gelassen füllte eine der Krankenschwestern eine Spritze mit einer Salzlösung und verabreichte sie dem Soldaten, als wäre es Morphium. Sofort wurde der Soldat ruhig und reagierte, als ob er tatsächlich das Medikament injiziert bekommen hätte, obwohl es doch nur ein bisschen Salzwasser war. Beecher machte mit der Operation weiter, schnitt dem Soldaten ins Fleisch, führte die nötigen Behandlungen aus und nähte ihn wieder zusammen – und das alles ohne Narkose.

 

Der Soldat verspürte nur wenig Schmerzen und geriet auch nicht in einen Schock. Wie, so fragte sich Beecher, konnte Salzwasser für Morphium einspringen?

 

Nach diesem fantastischen Erfolg machte Beecher jedes Mal, wenn dem Feldlazarett das Morphium ausging, das Gleiche: Er injizierte eine Salzlösung, als ob er Morphium spritzen würde. Diese Erfahrung überzeugte ihn von der Wirksamkeit von Placebos, und als er nach dem Krieg in die USA zurückkehrte, untersuchte er dieses Phänomen.

 

1955 schrieb Beecher mit einer klinischen Studie Geschichte, die im »Journal of the American Medical Association« veröffentlicht wurde. Darin ging es nicht nur um die ungeheuer große Bedeutung von Placebos; Beecher forderte auch ein neues Modell
medizinischer Forschung, basierend auf der randomisierten Zuweisung von Probanden in Gruppen, die entweder wirksame Medikamente oder Placebos erhielten – heute unter dem Namen randomisierte kontrollierte Studien bekannt –, damit der starke Placebo-
Effekt die Ergebnisse nicht verzerrte.

 

[H. K. Beecher, »The Powerful Placebo«, Journal of the American Medical Association, Bd. 159, Nr. 17: S. 1602–1606 (1955).]


Die Vorstellung, wir könnten die physische Realität nur durch –mehr oder weniger bewusste – Gedanken, Überzeugungen und Erwartungen verändern, ist keineswegs neu. Die Bibel steckt voller Geschichten über Wunderheilungen, und noch heute pilgern
die Menschen scharenweise nach Lourdes in Südfrankreich (wo 1858 dem 14-jährigen Bauernmädchen Bernadette die Jungfrau Maria erschien) und lassen dort als Beweis für ihre Heilung ihre Krücken und Rollstühle zurück.

 

Ähnliche Wunderberichte gibt es aus Fátima in Portugal (wo drei Schäferkinder 1917 eine Marienerscheinung hatten) und über eine Marienstatue, die anlässlich des 30. Jahrestages dieser Erscheinung geschnitzt wurde und in der Welt »herumreist«. Die Statue wurde anhand der Beschreibung des ältesten der drei Kinder angefertigt, eines Mädchens, das Nonne geworden war, und wurde von Papst Pius XII. gesegnet, bevor sie ihre Reise um die Welt antrat.

 

Gesundbeten bzw. Wunderheilungen finden sich keineswegs nur in der christlichen Tradition. Der verstorbene indische Guru Sathya Sai Baba, der von vielen seiner Anhänger als Avatar – die Manifestation einer Gottheit – angesehen wird, konnte aus seinen Handflächen heilige Asche, die sogenannte vibhuti, materialisieren.

 

Eingenommen oder als Paste auf die Haut aufgetragen, konnte diese feine graue Asche angeblich viele körperliche, mentale und spirituelle Leiden heilen. Auch einigen tibetischen Lamas werden Heilkräfte nachgesagt; sie blasen ihren Atem über die Kranken, die daraufhin gesunden.

 

Sogar einige französische und englische Könige, die zwischen dem 4. und 9. Jahrhundert regierten, heilten ihre Untertanen durch Handauflegen. Besonders König Karl II. von England war bekannt dafür und hat es ungefähr hunderttausend Mal praktiziert.

 

Was ist die Ursache solcher Wundertaten – ob die Heilung nun allein durch Gottesglauben oder die außergewöhnlichen Kräfte eines Menschen, anhand eines Objekts oder eines als heilig angesehenen Ortes stattfindet? Durch welchen Prozess können Glauben und Überzeugungen solche tiefgreifenden Wirkungen haben?

 

Spielt beim Placebo-Phänomen womöglich auch die Bedeutung eine Rolle, die einem Ritual beigemessen wird – sei es nun das Aufsagen eines Rosenkranzes, das Einreiben von heiliger Asche auf die Haut oder die Einnahme einer neuen Wundermedizin, die von einem vertrauenswürdigen Arzt verschrieben wurde? Wurde die innere mentale Befindlichkeit der auf diese Weise Geheilten vielleicht von den äußeren Umständen (eine Person, ein Ort, eine Sache zum passenden Zeitpunkt) so stark beeinflusst bzw.
geändert, dass ihr neuer mentaler Zustand tatsächlich reale physische Veränderungen bewirkte?