2010/03: Wisnewski: Ein Verschwörer gründet die Bilderberger

Wenn man sich mit dieser Frage beschäftigt, stößt man allenthalben auf dichten Nebel. Selbst die wenigen guten Bücher, die bereits über die Bilderberger geschrieben wurden, haben die wirklichen Ursprünge und Hintergründe der Bilderberger nicht vollständig aufgeklärt. So schreibt Daniel Estulin, Prinz Bernhard der Niederlande (der erste »Vorsitzende« der Bilderberger) habe sich einst dem Glauben verschrieben, »größere wirtschaftliche Einbrüche wie die große Weltwirtschaftskrise der 1920er Jahre ließen sich vermeiden, wenn verantwortungsbewusste, einflussreiche Führer das Weltgeschehen, ohne viel Aufhebens davon zu machen, in die eigene Hand nähmen«.

 

Die totalitäre frühplatonische Idee der Herrschaft der Eliten also. Demnach wären die Bilderberger als Philosophendiktatur über die westlichen Demokratien gesetzt worden. Das ist zwar auf jeden Fall ein Teil der Wahrheit, dennoch fehlt ein ganz wesentlicher Baustein. Und dieser Baustein heißt bei Estulin zunächst »man«.


Und zwar sei »man« mit der Bitte an Prinz Bernhard herangetreten, »1954 ein erstes Treffen ›gleichgesinnter‹ Vertreter aus aller Welt und aus allen Bereichen der Wirtschaft, Politik, Industrie und des Militärs im Hotel De Bilderberg in Oosterbeek, Holland, zu organisieren«. »Man« habe sich denn auch vom 29. bis 31. Mai 1954 dort getroffen. Dabei hätten »die Gründungsmitglieder« ihre Aufgaben und Ziele festgelegt. Aber wer ist denn nun »man«? Wer ist an Prinz Bernhard herangetreten? Und wer sind, abgesehen von Bernhard, »die Gründungsmitglieder«? In Estulins Kapitel über »Die Gründung des Bilderberger-Clubs« erfährt man darüber nichts.



Einer Antwort auf diese Frage sehr viel näher kommt Andreas von Rétyi. Er widmete dem »man« immerhin ein eigenes Kapitel namens »Die Graue Eminenz«. Dort bekommt dieses »man« erstmals ein Gesicht, nämlich das von Joseph Hieronim Retinger, von dem ich noch nie etwas gehört hatte. Die erstaunliche Wahrheit aber ist: Der internationale Elefantenclub der Bilderberger wurde tatsächlich von einem Nobody gegründet.

Die wichtigsten Zutaten für einen Mönch

Wer war Joseph Hieronim Retinger? Dankenswerterweise beruft von Rétyi sich ausführlich auf die Retinger-Biographie von dessen langjährigem Sekretär John Pomian: Memoirs of an Eminence Grise (»Memoiren einer Grauen Eminenz«, Sussex 1972). So erfährt man immerhin etwas über die Studienzeit (ab 1906) Retingers an der Pariser Sorbonne, darüber, welche polnischen Adligen sich dort um ihren Landsmann kümmerten und dass er im Alter von nur zwanzig Jahren promoviert wurde. Außerdem, dass er 1911, nach seiner Studienzeit, ein Polnisches Büro in London gegründet und umgehend einen Termin beim Premierminister bekommen habe.


Und vor allem, dass er während des Zweiten Weltkriegs für den britischen Geheimdienst gearbeitet habe.


Der Gründervater der Bilderberger beim Geheimdienst? »Retinger tauchte auch immer stärker in geheimnisvolle, um nicht zu sagen geheimdienstliche Aktivitäten ein«, schreibt von Rétyi.


Interessant ist auch, dass »Verschwörungen« für den Bilderberger-Gründer Retinger nichts Verwerfliches waren – ganz im Gegenteil. Als Angehöriger eines während der deutschen Besatzungszeit unterdrückten Volkes empfand er Verschwörungen als die erste Bürgerpflicht: »Das Wort Verschwörung besitzt in westlichen Ohren einen hässlichen Klang«, zitiert von Rétyi Retinger: »Wie anders hingegen war seine Bedeutung in Polen, wo eine Person, wenn überhaupt, beschämt war, kein Verschwörer zu sein.


Nationale Verschwörung war der Ausdruck, wie man ihn für die Fortsetzung des nationalen Lebens wählte, das unter feindlicher Besatzung im Geheimen fortgeführt wurde. Beinahe von dem Tag an, als die Regierung nach Rumänien wechselte, begann die Verschwörung und umfing später schließlich die ganze Nation.«


Während des Zweiten Weltkriegs führte Retinger ein abenteuerliches Leben und sprang hinter den feindlichen Linien über seinem Heimatland Polen mit dem Fallschirm ab, um die dortige Widerstandsbewegung mit Geld zu versorgen. »Retinger befand sich also mitten im gefährlichen Sumpf von Verschwörung, Untergrundarbeit und Geheimdiensten.«

 

Sicher kann man das Engagement des Polen für sein Heimatland nachvollziehen – Tatsache bleibt aber, dass die Bilderberger auf einen professionellen Verschwörer und britischen Agenten zurückgehen. Dennoch ist das Rätsel um Retinger damit nicht wirklich gelöst, wie auch von Rétyi anmerkt: »Er selbst schien immer im Hintergrund zu stehen und spielte sein Leben lang eine mysteriöse, undurchschaubare Rolle. (…) Man schrieb ihm – und zu Recht – zu, sehr einflussreich zu sein«, zitiert Rétyi Retingers Sekretär Pomian, »doch niemand befand sich in der Lage, eine knappe Antwort auf die Frage zu geben, inwiefern und warum dies der Fall sei. Er hatte niemals ein offizielles Amt inne, besaß nie viel Geld und nahm niemals Teil an öffentlichen Debatten«.


»Ich erinnere mich, wie Retinger einst in den Vereinigten Staaten den Telefonhörer in die Hand nahm und in kürzester Zeit einen Termin mit dem Präsidenten hatte«, erzählte ein gewisser Sir Edward Beddington-Behrens 1960 in seiner Grabrede für Retinger. »Und in Europa hatte er freien Eintritt in jeden politischen Zirkel – in einer Art auf Vertrauen, Ergebenheit und Loyalität basierenden Rechts.«


Aber wie kam Retinger zu diesem Einfluss? Wie konnte er ohne Probleme einen Termin beim US-Präsidenten oder anderen hochkarätigen Persönlichkeiten bekommen? Welche Macht stand wirklich hinter ihm? Wie weit reichten seine Verschwörungen wirklich?



»Retinger zählte selbst nicht zum Kreis derjenigen, die nach Reichtum oder Weltmacht strebten. Er befand sich in der höchst ungewöhnlichen Situation, all die Reichen und Mächtigen zu kennen, ohne selbst je viel besessen zu haben. (…) Wirklich materielle Güter ließen ihn kalt. (…) Offenbar schien all das, was für andere das Leben ausmachte, für Retinger keinen Stellenwert zu besitzen.«[ Nicht einmal eine Frau hatte Retinger, als er die Bilderberger gründete.


Fassen wir zusammen:

Der Mann besaß nichts und machte sich weder etwas aus Geld noch aus materiellen Gütern. Er war weder verheiratet, noch erfährt man etwas über irgendwelche Liebschaften. Das einzige bekannte persönliche Verhältnis war das zu seinem Sekretär John Pomian.


Kein Geld, keine Güter, keine Beziehung – vielleicht kommt man der Sache näher, wenn man diese Begriffe mit »Armut« und »Keuschheit« übersetzt. Dann nämlich erhalten wir die wichtigsten Zutaten für einen Mönch. Doch Mönche leben bekanntlich in Klöstern, tragen lange Kutten und gehen keinen profanen Berufen nach. Und auf die meisten Mönche mag das auch zutreffen, nicht aber auf die diskreten Diener der Gesellschaft Jesu, die »Jesuiten«.

Tatsächlich wurde Retinger als junger Mann Priester und schloss das Noviziat der Jesuiten in Rom ab, berichtet Jan Chciuk-Celt, der Sohn eines Kriegskameraden Retingers. Da ihm das Zölibat »als zu große Hürde« erschien, habe er den Priesterberuf allerdings wieder an den Nagel gehängt. Laut diesem Bericht führte Retinger zwei Ehen, zunächst mit einer Polin namens Otylia Zubrzycka, dann – nach der Trennung – ab 1926 mit einer gewissen Stella Morel, »der Tochter seines Freundes, des Labour-Gewerkschafters E. D. Morel« (Chciuk-Celt, Jan: Józef Hieronim Retinger 1888–1960, updated June 24th, 2009). Aber diese Frau starb schon 1933, und es sieht ganz so aus, als habe der Witwer Retinger danach keine neue Beziehung mehr angefangen, sondern sich stattdessen wieder auf sein Jesuiten-Dasein besonnen und sich in die konspirative Arbeit gestürzt.



Es wäre naiv anzunehmen, mächtige Vereine wie die Bilderberger seien vor nunmehr fünfundfünfzig Jahren durch ein paar Gespräche wie aus dem Nichts entstanden. In Wirklichkeit stützen sich die Bilderberger auf uralte Strukturen, denen sie eine neue Erscheinungsform geben.