2019: FinanzTsunami – 22. Was passiert, wenn der Tsunami einsetzt?

22. WAS PASSIERT, WENN DER TSUNAMI EINSETZT?

Das Sprichwort »Totgesagte leben länger« dürfte auf wenige Dinge so sehr zutreffen wie auf das globale Finanzsystem. Bereits 1971, nach der Abkopplung des US-Dollars vom Gold, wurde sein unmittelbar bevorstehendes Ende vorausgesagt. Nach den Krisen der achtziger und neunziger Jahre hieß es immer wieder, seine Tage seien gezählt. Seit der Jahrtausendwende lebt eine ganze Industrie davon, Jahr für Jahr seinen Untergang anzukündigen.

 

Die nicht eingetretenen Prophezeiungen erinnern fatal an Aesops Fabel vom Hirtenjungen, der bei den Bewohnern seines Dorfes mehrmals falschen Alarm auslöst und dessen wirkliche Notsituation von ihnen am Ende nicht erkannt wird. Da die überwiegende Mehrheit der Menschen die Untergangsvoraussagen mittlerweile nicht mehr ernst nimmt, wird der tatsächliche Zusammenbruch des Finanzsystems sie vollkommen unvorbereitet treffen.


Wieso aber ist es überhaupt gelungen, das System so lange künstlich am Leben zu erhalten? Henry Ford, Gründer der Ford Motor Company , dürfte den Nagel bereits vor mehr als einhundert Jahren auf den Kopf getroffen haben, als er sinngemäß sagte: »Es ist gut, dass die Menschen der Nation unser Banken- und Geldsystem nicht verstehen, denn sonst hätten wir vermutlich noch vor morgen früh eine Revolution.« 83 Fords Grundaussage gilt auch heute noch: Die meisten von ihrer Arbeit lebenden Menschen durchschauen das System nicht. Sie waren deshalb auch nicht in der Lage, sich wirkungsvoll gegen die Maßnahmen zu wehren, die seit Jahrzehnten zu seinen Gunsten und zu ihrem Nachteil getroffen wurden. Diese Passivität wiederum hat ihre Gegenspieler ermutigt, immer offensiver vorzugehen und sich schlussendlich jede denkbare Manipulation zu erlauben.


Wer hätte sich je vorstellen können, dass es eines Tages Negativzinsen geben würde? Dass Banken ihren Kunden für Geld, das ihnen als Einlage zur Verfügung gestellt wird, nichts geben, sondern etwas nehmen? Dass Schuldenmachen belohnt, Sparen bestraft und dass das Bargeld schrittweise abgeschafft wird? Dass Zentralbanken ernsthaft überlegen, Helikoptergeld abzuwerfen – nicht etwa aus humanitären Gründen, sondern um das Absterben der vor sich hinsiechenden Realwirtschaft zu verhindern? So surreal diese Maßnahmen klingen, sie alle haben dazu beigetragen, ein sehr reales Ziel zu erreichen: ein totes System, von dem nur noch eine winzige Minderheit profitiert, so lange wie möglich künstlich am Leben zu erhalten. Aber wie lange noch? Und was dann? Wie wird der Zusammenbruch aussehen? Was wird ihn auslösen? Welche Folgen wird er haben?


Es gibt zahllose Faktoren, die einen Crash auslösen können. Das Platzen von Blasen an den Aktien- und Anleihemärkten wird bereits seit Längerem durch Aufkäufe der Zentralbanken verhindert 84 , allerdings mit krisenverstärkendem Nebeneffekt: Die Blasen wachsen weiter, das Geld wird schleichend entwertet, die soziale Ungleichheit wächst. Ein wirtschaftliches oder politisches Großereignis könnte jederzeit eine schwer zu beherrschende Verkaufswelle und damit einen Crash auslösen. Wie sehr die Verantwortlichen diese Variante fürchten, zeigt das Verhalten der BIZ: Sie nimmt in systemkritischen Situationen direkten Kontakt zu den Notenbanken auf, um deren Eingriffe bei größeren Marktbewegungen zu koordinieren. Ein jüngeres Beispiel hierfür ist die Brexit-Entscheidung vom Juni 2016, nach der die Zentralbanken fast eine Woche brauchten, um die Märkte zu stabilisieren.


Träte durch den Zusammenbruch eines Finanzinstitutes, eines Konzerns oder gar eines Landes der gefürchtete Dominoeffekt ein, würden die Zentralbanken vermutlich sofort eingreifen und sämtliche Märkte mit frischem Geld fluten. Allerdings würden die Rettungssummen alles übersteigen, was wir bisher gesehen haben. So müssten die 1998 zur Rettung von LTCM eingesetzten 4 Milliarden Dollar beim derzeit weltgrößten Hedgefonds Blackrock mehr als verfünffacht werden: Blackrock verfügte im März 2017 über ein Eigenkapital von über 20 Milliarden Dollar und verwaltete Vermögenswerte von über 5,12 Billionen Dollar, das Anderthalbfache des deutschen Bruttosozialproduktes.


Wäre eine solche Rettung überhaupt zu schaffen? Das kann niemand sagen, denn den Zentralbanken stehen im Notfall neben den eigenen Kapazitäten noch weitere Eingriffsmöglichkeiten zur Verfügung. Die FED zum Beispiel verfügt über mindestens zwei »schwarze Kassen«. Die bereits 1988 unter Ronald Reagan gegründete »President’s Working Group on Financial Markets« (Finanzmarkt-Arbeitsgruppe des Präsidenten), auch »Plunge Protection Team« (PPT, zu deutsch: Team zum Schutz vor Börsenabstürzen) genannt, manipuliert fernab der Öffentlichkeit in Krisenzeiten vor allem die Aktienmärkte durch Stützkäufe.


Der Exchange Stabilization Fund (ESF, zu deutsch: Börsenstabilisierungsfonds) wurde in den dreißiger Jahren mit dem Gewinn der US-Regierung aus der Enteignung privater Goldbesitzer gegründet, arbeitet seit acht Jahrzehnten unter strikter Geheimhaltung, ist nur dem US-Präsidenten und dem US-Finanzminister auskunftspflichtig und gilt als größte schwarze Kasse der Welt. Sie soll Insider-Berichten zufolge in den vergangenen Jahren unter anderem durch die Goldbestände der Ukraine und Libyens aufgefüllt worden sein.


Die EZB hat zwar keine solchen Helfershelfer, kann sich aber auf die nationalen Notenbanken der Eurozone und das mit ihnen abgeschlossene und bis heute geheim gehaltene »Agreement on Net Financial Assets« (Anfa) stützen. Es erlaubt den europäischen Notenbanken, die Öffentlichkeit über ihre Anlagetätigkeit und das Ausmaß ihrer Anleihekäufe im Dunkeln zu lassen. Die Bestände müssen nicht ausdrücklich in ihren Bilanzen ausgewiesen, sondern können zusammen mit anderen Posten angegeben werden – ein Freibrief zur Manipulation, dessen Umfang sich allein bis 2015 auf etwa 700 Milliarden Euro belief. 85


Es gibt also – außerhalb jeglicher parlamentarischer Kontrolle – Organisationen und Vereinbarungen, die den Zentralbanken helfen, das System am Leben zu erhalten. Aber auch diese Vorkehrungen können nicht verhindern, dass das Geld durch jede einzelne Stützungsmaßnahme weiter entwertet wird. Bevor die daraus folgende Inflation allerdings auf den Alltag durchschlägt, sind auch andere Tsunami-Auslöser denkbar: Zum Beispiel Armutsaufstände, durch pure Gerüchte ausgelöste Banken-Runs oder politische Unruhen, die dazu führen könnten, dass verschiedene Zentralbanken sich nicht auf ein gemeinsames Vorgehen einigen können oder gar gegeneinander handeln.


Entscheidender Faktor ist dabei nicht so sehr der einzelne Auslöser, sondern der Zeitpunkt, zu dem das Vertrauen in das bestehende System verloren geht. Wird dieser Punkt erreicht, werden die dramatischen Folgen jahrzehntelangen unkontrollierten Schuldenmachens schlagartig einsetzen: Die globalen Zahlungsströme werden weitgehend zum Erliegen kommen, weil sich alle Marktteilnehmer gegenseitig misstrauen und vergebene Kredite einfordern werden. Das wiederum wird zu »bank holidays « führen, also der vorübergehenden Schließung von Banken. Deren Folge werden Hamsterkäufe und das Ausbleiben von Nachschub vor allem im Bereich der Lebensmittel, Engpässe in der Energieversorgung, der Zusammenbruch kleiner und mittelständischer Betriebe und schlussendlich der Kollaps der staatlichen Ordnung sein.


Am härtesten wird es die Teile der Bevölkerung treffen, die über die geringsten Reserven verfügen. Ihre Situation wird sich nach der Wiedereröffnung der Banken sogar noch verschlimmern, da diese mit Währungsabwertungen einhergehen wird. Hiervon wäre insbesondere die US-Bevölkerung betroffen, da der Kurs des US-Dollars unter gar keinen Umständen zu halten wäre.


Um sich die Szenarien nach einem Crash vorzustellen, muss man nur auf die jüngeren Krisenerfahrungen in Zypern, Griechenland und vor allem in Indien zurückgreifen. In Zypern und Griechenland blieben die Banken im Zug der Eurokrise wochenlang geschlossen, die Menschen durften nur Bagatellbeträge von ihren Konten abheben, die meisten Geldautomaten waren schon nach kurzer Zeit leer. Wer über keine Bargeldreserven verfügte, wurde innerhalb weniger Tage zahlungsunfähig, wer bei der Bank of Cyprus mehr als 100.000 Euro auf seinem Konto hatte, fand nach der Wiedereröffnung der Banken nur noch etwas mehr als die Hälfte seines Geldes vor.


Noch extremer ist das Beispiel Indien, der immerhin siebtgrößten Volkswirtschaft der Welt. Dort hat die Regierung – ganz ohne einen Crash – zu den bisher drastischsten Maßnahmen im Bereich der Währungsreform und der Bargeldabschaffung gegriffen. Im November 2016 erklärte sie die Geldscheine über 500 und 1.000 Rupien und damit 86 % des im Umlauf befindlichen Bargeldes von einem Tag auf den anderen für ungültig. Da der Eintausch gegen neue Noten nur gegen Vorlage eines Ausweises möglich war, bedeutete die Maßnahme für etwa 300 Millionen arme Inder, die ohne Papiere leben, die komplette Enteignung. Die Aktion dürfte weltweit der in Friedenszeiten bisher härteste Schlag gegen den Mittelstand und die Armen gewesen sein. Er war in Zusammenarbeit mit den USA vorbereitet worden 86 und kann mit großer Sicherheit als Testlauf für den Rest der Welt betrachtet werden.


Den größten Absturz werden im Fall eines globalen Crashs auf jeden Fall die USA erleben. Dort haben sich seit 2007 neben den Blasen an den Aktien-, Anleihen- und Immobilienmärkten weitere riesige Blasen im Gebrauchtwagenmarkt und bei Studentenkrediten gebildet, die eine ähnliche Wirkung wie die Subprime-Hypothekenkrise von 2006 entfalten könnten. Da Aktien bei Sparern und bei der (privaten und betrieblichen) Altersversorgung in den USA traditionell eine sehr große Rolle spielen, muss bereits seit Längerem jede auch noch so geringe Korrektur der Aktienmärkte verhindert werden. Ein Crash würde 250 Millionen Amerikaner, von denen ca. achtzig Prozent über Rücklagen von weniger als 1.000 Dollar verfügen, um einen großen Teil ihrer Ersparnisse bringen und 50 Millionen Senioren auf einen Schlag in Armut stürzen. Bedenkt man, dass mindestens ebenso viele US-Bürger auf Essensmarken angewiesen sind, kann man sich ausmalen, welche soziale und politische Katastrophe auf die ehemalige Supermacht zukäme.


Die Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA war mit Sicherheit kein Zufall. Die USA sind an einem Wendepunkt angekommen, an dem der Parlamentarismus wegen zu erwartender sozialer Unruhen für die Finanzindustrie keine verlässliche Stütze mehr darstellt. Trump ist der erste Präsident, der im Ernstfall auf eine außerparlamentarische, weitgehend faschistische und zu großen Teilen bewaffnete Bewegung zurückgreifen kann. Die Zusammensetzung seines Kabinetts spiegelt bereits die zukünftige Entwicklung der USA wider, deren Schicksal bis zum endgültigen Zusammenbruch nur noch von zwei Kräften entschieden werden wird – der Wall Street und dem Militär.