NWO: Vorworte zur 2.,3.,4.,5.,6. und 7. Auflage
- Siehe auch FT: Die natürliche Wirtschaftsordnung
- ProjektGutenberg: Die natürliche Wirtschaftsordnung
Vorwort zur 2. Auflage.
Von Paulus Klüpfel.
Die Physiokraten um Quesnay lehrten eine Wirtschaftsauffassung von innerer Wahrheit und wesenhafter Schönheit, die auf alle ideal Gesinnten hinreißend wirken mußte. Aber die geschichtliche Entwicklung des Wirtschaftslebens ging ihren Weg jenseits davon weiter. Mit dem Wirtschaftskrieg stehen wir am unausweichlichen Ende dieses Ablaufes.
Jenes ideale Wirtschaftssystem galt allein über den Wolken. Hier unten aber gilt nur, was verwirklicht ist. Die »natürliche Wirtschaftsordnung« blieb unwirklich gewiß nicht aus Schwäche und innerem Widerspruch, sondern es fehlten innerhalb der gegebenen Lage die Vorbedingungen zu ihrer Verwirklichung. Das Ideal schauen ist viel, aber nicht alles. Same allein ist nichts, Boden allein ist nichts. Daß Same seinen besten Boden finde, das entscheidet. Und Boden zu bereiten, Möglichkeiten zu schaffen, das ist unsere eigentliche Aufgabe und Arbeit. Daß die Physiokraten ihr Ideal zu rasch mit dem gegebenen Wirtschaftsgetriebe zusammenfallen ließen, das gibt ihnen das Passive ihrer Haltung. Mit Silvio Gesell beginnt die große Wendung zum Aktiven.
Mit seinem bestimmten Namen setzt sich dieses Buch das Ziel, die Verwirklichung der natürlichen Wirtschaftsordnung einzuleiten. Gesell erörtert den Gedanken Quesnays nicht, er setzt ihn überall voraus; es gibt für ihn keinen anderen. Mit der ersten Seite macht er sich entschlossen an die »Bodenbereitung«. Die Kritik der gegebenen Wirtschaftslage und die Methode der Umgestaltung des geschichtlich Gewordenen, das ist eine vielverschlungene technische Aufgabe, die Umsicht, Richtsinn und viel Mut verlangt. Was liegt nun in diesem einfachen und geradlinigen Gedanken der natürlichen Wirtschaftsordnung?
Die Fassung: »natürliche Wirtschaftsordnung« ist nicht ganz unverfänglich. Seinem Sinn nach ist das Wirtschaftswesen ein Teilbetrieb der Gesamtkultur. Dabei ist hier von der objektiven Kultur die Rede, jenem Gefüge aus Automatismen, die alle aus dem Willen des Menschen sind und doch ihm gegenüber eine individuelle Selbständigkeit gewinnen mit automatischem Ablauf: das Schulwesen, Bankwesen, Staatswesen, Bücherwesen – Wesen! Da die Naturvorgänge ohne unseren Willen sind und ablaufen, die Kulturbetriebe, die »Wesen«, ebenfalls dem Einzelwillen gegenüber selbständig bleiben und ihn mitzwingen (obwohl sie doch ohne Willen nicht sind), leuchtet eine Ähnlichkeit heraus, die dem Worte »natürlich« zu seiner Vieldeutigkeit verhilft. Jedes »Wesen« hat seine eigene Aufgabe und seine Eigengesetzlichkeit bei aller Einordnung in das Gesamtkulturwesen. Das Wirtschaftswesen ist die organisierte Selbsterhaltung. Aus sich heraus hat es sich auszugestalten, nach einer inneren Notwendigkeit – immer durch das Tun des Menschen. Daß wir nicht irgendwie wirtschaftlich verfahren: nach religiösen oder ästhetischen Richtlinien, sondern Wirtschaftliches wirtschaftlich betreiben, sachgemäß, das gibt der Wirtschaft ihre »Natürlichkeit«. Besser ist: Wirtschaft hat, wie jeder Betrieb, ihre Eigengesetzlichkeit. Was immer wir tun, wir müssen diese Eigengesetzlichkeit sich frei entfalten lassen. Wirtschaft ist in sich frei. Freiwirtschaft.
Deckt sich das mit dem geschichtlichen Wirtschaftsliberalismus? Nein. So wahr die Freiwirtschaft im Ewigkeitssinn ist, so falsch wird sie im Zeitsinn. Die Physiokraten haben eine Vorfrage übersehen und das, was von der reinen Wirtschaft wahr ist, zu rasch von dem gegebenen Wirtschaften ausgesagt. Die Wirtschaft muß frei sein. Aber es gab »die« Wirtschaft noch gar nicht. Wem gab man da seine Freiheit? Wem gestand man seine Eigengesetzlichkeit zu? Wirtschaft ist heute nicht nur Wirtschaft, d. h. organisierte Arbeit zur Selbsterhaltung. Es ist in sie sehr viel wirtschaftlich maskierte Gewalt, Ausbeutung fremder Arbeit, mit verflochten. Dessen Freiheit aber ist die Freiheit des Tieres. Alle Gewaltelemente im Wirtschaften haben die Wirkung, den freien, gleichen Wettbewerb auszuschalten. Die freie Konkurrenz aber ist die innere Selbststeuerung des Wirtschaftsbetriebes. Nur mit dieser Selbststeuerung läuft und kreist Arbeit und Tausch mit ständig ausgewogenem Gleichgewicht sicher und störungsfrei weiter. Erst muß also diese Selbststeuerung gesichert sein. Erst müssen also alle Elemente von Gewalt, alles Nichtwirtschaftliche aus der Wirtschaft entfernt werden, dann darf und muß diese reine Wirtschaft ihrer eigenen Rhythmik überlassen werden. Freiheit ist gut, aber was immer wir zu sich befreien, muß erst bei sich sein, muß erst freiheitsfähig werden. Nicht durch moralische Beeinflussung oder polizeiliche Maßnahme, sondern durch Umbau des wirtschaftlichen Räderwerkes selbst schaltet Gesell allen Mehrwert aus. Ausbeutung ist nicht »verboten«, sondern unmöglich. Darum kann man Gesell nicht widerlegen, nur ablehnen, wenn man gewaltfreie reine Arbeitsverfassung eben nicht will. Die Welt kann ja weiterwirbeln, endlos, sinnlos. Aber sie kann nicht bleiben, wie sie ist und mit dem Ideal in Berührung treten. Gott ist stolz und nicht kompromißfähig. »Man muß sich verändern oder sterben.« (Dostojewski.)
Um diese stets von nichtwirtschaftlichen Gewalten durchkreuzte Wirtschaft aufrecht zu erhalten, mußte sie dauernd von außen her gestützt und gesteift werden. Die Kirchen reglementierten religiös, die Staaten rechtlich, und daneben gingen die vielen Versuche der Selbsthilfe der wirtschaftenden Menschen. Die Furchtsamen und Unfreien hatten es leicht, die Freiheit zu widerlegen, da die Freiheit dieses unreinen Wirtschaftsgetriebes sich täglich mehr widerlegte. Sie sagten: Freiheit taugt nicht für die Menschen. Aber vielmehr diese Menschen taugten noch nicht für die Freiheit. Die Freiwirtschaft war schon richtig gewesen, aber nur dieses unreine Getriebe ergab keinen Betrieb. So wurde denn der Weg zu Ende versucht, mit allen Hilfen dieses Wirtschaften von außen zu ordnen, bis zu der Zuspitzung, grundsätzlich alle Wirtschaftsfreiheit abzulehnen. Der Sozialismus aller Schattierungen, das ist die Zwangswirtschaft. In ihr steht die Wirtschaft absolut unter Gesetzen, aber unter von außen herangebrachten Gesetzen. Damit kann wohl ein totes Geordnetsein, eine Statik erreicht werden, aber keine Funktion, kein lebendiger Rhythmus, keine Dynamik. Das kreisende Leben lebt einzig durch seine Funktion. Es an einem Punkt festnageln, heißt es töten. Es gibt nichts anderes, in der Tat: entweder durchaus Freiheit und Leben oder durchaus Zwang und Tod.
Die Lehre von der natürlichen Wirtschaftsordnung ist also die Lehre von der Eigengesetzlichkeit des Wirtschaftswesens. Frei heißt nicht gesetzlos. Diese Freiheit hat nichts und niemand. Frei heißt: nur seinem Gesetz gehorsam. Es sind nicht Naturgesetze, chemische, biologische, oder logische, moralische Gesetze über die Kulturbetriebe, die »Wesen« gesetzt. Auch der »Kampf ums Dasein« als Bekämpfung anderer Menschen ist nicht Wirtschaftsprinzip. Auch die Selbstsucht nicht, wie Gesell fast zugestehen möchte. Selbstsucht ist Selbsterhaltung auf Kosten fremder Arbeit – aber das ist Unwirtschaft. Selbsterhaltung – durch Arbeit allein – erhöht durch optimale Arbeitsteilung und geschmeidigsten Tausch – das ist Wirtschaft. Und wenn der Rhythmus der Arbeit in Differenzierung und Integrierung am reinsten aus sich sich ausschwingen kann, dann ist die »natürliche« Wirtschaftsordnung, die der Wirtschaft natürliche Ordnung gesichert.
Es liegt dem, auf einen Bezirk des Kulturlebens angewendet und in ihm durchgeführt, der gewaltige Gedanke der Allgesetzlichkeit zugrunde. Nichts ist gesetzlos – aber es ist nicht ein monotones Gesetz über allem, sondern Gesetzlichkeit: alles hat sein Gesetz. Es überrascht, daß diese Einsicht Asien zuerst gehört, nicht Europa. Buddha »ist erlöst, denn er hat das Gesetz erkannt.« »Das Gesetz« gibt nicht ganz das große »Dharma« wieder. Es ist nicht irgend ein Gesetz, sondern die Gesetzlichkeit. Das Tao des fernen Ostens (Laotse) ist dasselbe. In China haben wir geradezu den klassischen Kampf zwischen den Freunden der Eigengesetzlichkeit und der Gesetzgeberei. Laotse und seine Schüler stellen überall die Frage: Soll man die Welt ordnen? Die Antwort ist, allem beflissenen engen Konfutseismus entgegen: Nein. Man solle das Leben zu seiner Ordnung kommen lassen, alles tun, wie es will, nicht wie unsere Willkür möchte. Daß im Grunde des Christentums Christi und aller echten Mystik dieselbe Erkenntnis ruht, ist sicher.
Nun lag begreiflicherweise dem Osten die Gefahr nahe, sich ganz auf die immanente Weltgesetzlichkeit zu verlassen und passiv zu bleiben. Aber das innere Gefüge der Welt arbeitet sich nicht selbst heraus. Es fordert durchaus unser tiefgehorsames Mittun: die Weltarbeit. Der Westen hat das Arbeiten entwickelt, aber die europäische Arbeit ist überall chaotisch, sinnlos, unbeherrscht. Dort fehlt mehr die Arbeit, hier mehr die Gesetzlichkeit. Asien vergaß über der ewig befriedigenden Herrlichkeit des Weltplanes den Weltbaustoff und die Weltarbeit. Europa vergaß die ewige Vorlage über dem Rohmaterial des Lehms und über allem Mühen und Kneten und Formen in ihm. Aber die Gesetzlichkeit ist so wenig ein Problem wie das Chaos. Das Problem liegt darin, beides in eins zu bringen. Das Problem heißt Kosmos: Gestaltung alles Chaotischen aus seiner Notwendigkeit zu seiner Form. Alle unsere Probleme verlaufen nach Satz, Gegensatz und Synthese, wie es am Beispiel des Wirtschaftsproblems anschaulich wird: die Wirtschaft verträgt die Freiheit nicht – die Wirtschaft verträgt die Unfreiheit nicht. Was also? Einige Zeit mag man an die Möglichkeit einer peinlich beachteten »mittleren Linie«, die Scheinsynthese, glauben, die Verhältnisse treiben doch immer darüber hinaus zu mehr Zwang oder zu mehr Freiheit: Je stärker aber eines dieser Prinzipien zum Herrschen kommt, desto sicherer versagt es – der vielersehnte Staatssozialismus führt in die Erstarrung, wie der erledigte Wirtschaftsliberalismus zum Chaos führte. Also ist die Aufgabe unlösbar? Antwort: Die Lösung liegt immer in einer erst zu schaffenden neuen Situation, in welcher die Forderung (hier der Freiheit) möglich ist. Dieser Grundgedanke einer Problematik muß das Leitmotiv aller werden, die am Kulturbau mitschaffen. Alles andere Tun ist vertan und führt im Kreise stets wieder vor das Problem zurück. Die Soziologie von heute ist ja wieder ein tieferes Besinnen. Die Arbeit von Ferdinand Tönnies, Leopold von Wiese, F. Müller-Lyer, Alfred Vierkandt ist u. a. hier zu nennen. Asien und Europa – der Lahme und der Blinde sind dabei, sich zu finden.
Überall in dem Buche Silvio Gesells leuchtet das tiefe, frohe Vertrauen auf die Weltgesetzlichkeit durch. Das gibt ihm seine starke Sicherheit und manchmal ironische Überlegenheit gegenüber der heutigen Lage und gegenüber der ungeheuren Unwahrscheinlichkeit seines Unternehmens, das doch das selbstverständliche ist. Alles hat er gegen sich, aber er hat die Notwendigkeit der Sache für sich – und den Glauben an sie. Und seinen Mut hat er für sich und seine unermüdete Arbeit seit fünfundzwanzig Jahren. Er meißelt die ungefügen und ungefügten Blöcke des kommenden Wirtschaftsbaues mit kritischem Meißel zurecht. Sind sie nur erst tatsächlich gefugt, so fügen sie sich auch in den Gesamtkulturbau ein. Denn zuletzt ist alles aufeinander abgepaßt, der tiefe Plan schimmert ferne durch, »und deine kommenden Konturen dämmern« (Rilke).
Immermehr, doch nur durch unsere Weltarbeit, wird die Welt Ausdruck ihrer Idee. Dies Buch, bei aller oft ungeschlachten Schönheit, ist Ausdruckskultur in einem sehr vertieften aktiven Sinn. Es ist »aktiver Idealismus« (Eucken), dem die Ideale nicht eine Insel jenseits des Lebens sind, dem aber auch das Leben, wie es ist, nicht genügt. Und dies Buch zeigt, daß Religion und Mystik nicht tiefer sind als Arbeitsteilung und Fabrik und Geschäft und Geld. Formen wir nur alles aus seiner Tiefe heraus: alles hat seine Tiefe, und Gott ist allem gegenwärtig.
Unser Jahrhundert gehört der wirtschaftlichen Befreiung der Menschen, der Überwindung aller Ausbeutung, dem Ende des Kapitalismus, des Krieges, der Krisen und der Armut. In der aufpeitschenden Not hinter diesen grauenvollen Jahren des entfesselten Wahnsinns wird allen noch Unzerbrochenen der Mut zu den letzten Entschlüssen kommen. Das bittere Muß treibt uns von außen zu dem, was wir von innen immer schon sollen. Die seit Jahrtausenden seufzen und hoffen: die Arbeit mit geschundenen Händen, das Weib mit geschändetem Blut, der Geist mit schuldig gewordenem Herzen – sie werden eines Tages wissen, daß dieses Buch ihnen gehört.
Berlin, August 1916.
Vorwort zur 3. Auflage.
Großes Hoffen gibt große Ruh‘!
Die Wirtschaftsordnung, von der hier die Rede ist, kann nur insofern eine natürliche genannt werden, als sie der Natur des Menschen angepaßt ist. Es handelt sich also nicht um eine Ordnung, die sich etwa von selbst, als Naturprodukt einstellt. Eine solche Ordnung gibt es überhaupt nicht, denn immer ist die Ordnung, die wir uns geben, eine Tat, und zwar eine bewußte und gewollte Tat.
Den Beweis, daß eine Wirtschaftsordnung der Natur des Menschen entspricht, liefert uns die Betrachtung der menschlichen Entwicklung. Dort, wo der Mensch am besten gedeiht, wird auch die Wirtschaftsordnung die natürlichste sein. Ob eine in diesem Sinne sich bewährende Wirtschaftsordnung zugleich die technisch leistungsfähigste ist und dem Ermittlungsamt Höchstzahlen liefert, ist eine Frage minderer Ordnung. Man kann sich ja heute leicht eine Wirtschaftsordnung vorstellen, die technisch hohe Leistungen aufweist, bei der aber Raubbau am Menschen getrieben wird. Immerhin darf man wohl blindlings annehmen, daß eine Ordnung, in der der Mensch gedeiht, sich auch in bezug auf Leistungsfähigkeit als die bessere bewähren muß. Denn Menschenwerk kann schließlich nur zusammen mit dem Menschen zur Höhe streben. »Der Mensch ist das Maß aller Dinge«, darum auch Maß seiner Wirtschaft.
Wie bei allen Lebewesen, so hängt auch das Gedeihen des Menschen in erster Linie davon ab, daß die Auslese nach den Naturgesetzen sich vollzieht. Diese Gesetze aber wollen den Wettstreit. Nur auf dem Wege des Wettbewerbs, der sich überwiegend auf wirtschaftlichem Gebiete abspielt, kann es zur förderlichen Entwicklung, zur Hochzucht kommen. Wer darum die Zuchtgesetze der Natur in ihrer vollen, wundertätigen Wirksamkeit erhalten will, muß die Wirtschaftsordnung darauf anlegen, daß sich der Wettbewerb auch wirklich so abspielt, wie es die Natur will, d. h. mit der von ihr gelieferten Ausrüstung, unter gänzlicher Ausschaltung von Vorrechten. Der Erfolg des Wettstreites muß ausschließlich von angeborenen Eigenschaften bedingt sein, denn nur so wird die Ursache des Erfolges auf die Nachkommen vererbt und zur allgemeinen Menscheneigenschaft. Nicht dem Geld, nicht verbrieften Vorrechten, sondern der Tüchtigkeit, der Kraft, der Liebe, der Weisheit der Eltern müssen die Kinder ihre Erfolge verdanken. Dann darf man hoffen, daß mit der Zeit die Menschheit von all dem Minderwertigen erlöst werden wird, mit dem die seit Jahrtausenden vom Geld und Vorrecht geleitete Fehlzucht sie belastet hat, daß die Herrschaft den Händen der Bevorrechteten entrissen werden und die Menschheit unter der Führung der Edelsten den schon lange unterbrochenen Aufstieg zu göttlichen Zielen wieder aufnehmen wird.
Die Wirtschaftsordnung, von der hier die Rede ist, erhebt aber noch in anderer Hinsicht Anspruch auf ihre Bezeichnung »die natürliche«.
Damit der Mensch gedeihe, muß es ihm möglich gemacht sein, sich in allen Lagen so zu geben, wie er ist. Der Mensch soll sein, nicht scheinen. Er muß immer erhobenen Hauptes durchs Leben gehen können und stets die lautere Wahrheit sagen dürfen, ohne daß ihm daraus Ungemach und Schaden erwachse. Die Wahrhaftigkeit soll kein Vorrecht der Helden bleiben. Die Wirtschaftsordnung muß derart gestaltet sein, daß der wahrhaftige Mensch auch wirtschaftlich vor allen am besten gedeihen kann. Die Abhängigkeiten, die das Gesellschaftsleben mit sich bringt, sollen nur die Sachen, nicht die Menschen betreffen.
Soll sich der Mensch seiner Natur entsprechend gebärden dürfen, so müssen ihn Recht, Sitte und Religion in Schutz nehmen, wenn er bei seinem wirtschaftlichen Tun dem berechtigten Eigennutz, dem Ausdruck des naturgegebenen Selbsterhaltungstriebes, nachgeht. Widerspricht solches Tun religiösen Anschauungen, trotzdem der Mensch dabei sittlich gedeiht, so sollen solche Anschauungen einer Nachprüfung unterzogen werden, in der Erwägung, daß es kein schlechter Baum sein kann, der gute Früchte bringt. Es darf uns nicht ergehen wie etwa dem Christen, den seine Religion in folgerichtiger Anwendung zum Bettler macht und im Wettstreit entwaffnet, worauf er dann mitsamt seiner Brut im Auslesevorgang der Natur vollends zermalmt wird. Die Menschheit hat keine Vorteile davon, wenn die Besten immer gekreuzigt werden. Die Hochzucht verlangt eher das umgekehrte Verfahren. Die Besten müssen gefördert werden; nur so kann man hoffen, daß die Schätze einst ausgeschüttet werden, die im Menschen schlummern – unermeßliche Schätze!
Die natürliche Wirtschaftsordnung wird darum auf dem Eigennutz aufgebaut sein. Die Wirtschaft stellt an die Willenskraft schmerzhafte Anforderungen bei der Überwindung der natürlichen Trägheit. Sie braucht darum starke Triebkräfte, und keine andere Anlage vermag diese in der nötigen Stärke und Regelmäßigkeit zu liefern, als der Eigennutz. Der Volkswirtschaftler, der mit dem Eigennutz rechnet und auf ihn baut, rechnet richtig und baut feste Burgen. Die religiösen Forderungen des Christentums dürfen wir darum nicht auf die Wirtschaft übertragen; sie versagen hier und schaffen nur Heuchler. Die geistigen Bedürfnisse beginnen dort, wo die körperlichen befriedigt sind; die wirtschaftlichen Arbeiten sollen aber die körperlichen Bedürfnisse befriedigen. Es hieße die Reihenfolge auf den Kopf stellen, wollte man die Arbeit mit einem Gebet oder Gedicht beginnen. »Die Mutter der nützlichen Künste ist die Not, die der schönen der Überfluß.« ( Schopenhauer.) Mit anderen Worten: Man bettelt, solange man hungrig ist, und betet, wenn man satt ist.
Solche auf dem Eigennutz errichtete Wirtschaftsordnung stellt sich dabei in keiner Weise den höheren, arterhaltenden Trieben in den Weg. Im Gegenteil, sie liefert dem Menschen nicht nur die Gelegenheit zu uneigennützigen Taten, sondern auch die Mittel dazu. Sie stärkt diese Triebe durch die Möglichkeit, sie zu üben. Hingegen in einer Wirtschaft, wo jeder seinen in Not geratenen Freund an die Versicherungsgesellschaft verweist, wo man die kranken Familienangehörigen ins Siechenhaus schickt, wo der Staat jede persönliche Hilfsleistung überflüssig macht, da müssen, scheint mir, zarte und wertvolle Triebe verkümmern.
Mit der auf Eigennutz aufgebauten natürlichen Wirtschaft soll jedem der eigene volle Arbeitsertrag gesichert werden, mit dem er dann nach freiem Ermessen verfahren kann. Wer eine Befriedigung darin findet, seine Einnahmen, den Lohn, die Ernte mit Bedürftigen zu teilen, – der kann es tun. Niemand verlangt es von ihm, doch wird es ihm auch niemand verwehren. Irgendwo in einem Märchen heißt es, daß die größte Strafe, die dem Menschen auferlegt werden kann, die ist, ihn in eine Gesellschaft von Hilfsbedürftigen zu bringen, die die Hände nach ihm ringen, und denen er nicht helfen kann. In diese schreckliche Lage bringen wir uns aber gegenseitig, wenn wir die Wirtschaft anders als auf dem Eigennutz aufbauen, wenn nicht jeder über den eigenen Arbeitsertrag nach freiem Ermessen verfügen kann. Hierbei wollen wir zur Beruhigung der menschenfreundlichen Leser uns noch erinnern, daß Gemeinsinn und Opferfreudigkeit dort am besten gedeihen, wo mit Erfolg gearbeitet wird. Opferfreudigkeit ist eine Nebenerscheinung persönlichen Kraft- und Sicherheitsgefühls, das dort aufkommt, wo der Mensch auf seine Arme bauen kann. Auch sei hier noch bemerkt, daß Eigennutz nicht mit Selbstsucht verwechselt werden darf. Der Kurzsichtige ist selbstsüchtig, der Weitsichtige wird in der Regel bald einsehen, daß im Gedeihen des Ganzen der eigene Nutz am besten verankert ist.
So verstehen wir also unter Natürlicher Wirtschaft eine Ordnung, in der die Menschen den Wettstreit mit der ihnen von der Natur verliehenen Ausrüstung auf vollkommener Ebene auszufechten haben, wo darum dem Tüchtigsten die Führung zufällt, wo jedes Vorrecht aufgehoben ist und der einzelne, dem Eigennutz folgend, geradeaus auf sein Ziel lossteuert, ohne sich in seiner Tatkraft durch Rücksichten ankränkeln zu lassen, die nicht zur Wirtschaft gehören, und denen er außerhalb ihrer immer noch genug Frondienste leisten kann.
Die eine Voraussetzung dieser natürlichen Ordnung ist in unserer heutigen, so verschrieenen Wirtschaft bereits erfüllt. Diese ist auf dem Eigennutz aufgebaut, und ihre technischen Leistungen, die niemand verkennt, bürgen dafür, daß sich auch die Neue Ordnung bewähren wird. Die andere Voraussetzung aber, die den wichtigsten Pfeiler der Natürlichkeit in der Wirtschaftsordnung bildet – die gleiche Ausrüstung aller für den Wettstreit, die gilt es zu schaffen. Auf dem Wege zielstrebiger Neugestaltung gilt es, alle Vorrechte, die das Ergebnis des Wettbewerbs fälschen könnten, spurlos zu beseitigen. Diesem Zwecke dienen die beiden hier nun zu besprechenden, grundstürzenden Forderungen: Freiland und Freigeld.
Diese natürliche Wirtschaftsordnung könnte man auch als »Manchestertum« bezeichnen, jene Ordnung, die den wahrhaft freien Geistern immer als Ziel vorgeschwebt hat, – eine Ordnung, die von selber, ohne fremdes Zutun steht und nur dem freien Spiel der Kräfte überlassen zu werden braucht, um alles das, was durch amtliche Eingriffe, durch Staatssozialismus und behördliche Kurzsichtigkeit verdorben wurde, wieder ins richtige Lot zu bringen.
Von diesem »Manchestertum« darf man heute freilich nur noch vor Leuten reden, die an ihrer Erkenntnis nicht durch fehlerhaft ausgeführte Versuche irre gemacht werden können, denen Fehler in der Ausführung nicht auch zugleich Beweise für Mängel des Planes an sich sind. Doch der großen Menge genügt das, was man bisher als Manchestertum kennen gelernt hat, um die ganze Lehre in Grund und Boden zu verfluchen.
Die Manchesterschule war auf dem richtigen Wege, und auch das, was man von Darwin her später in diese Lehre hineintrug, war richtig. Nur hatte man die erste und wichtigste Voraussetzung des Systems ungeprüft gelassen und sich nicht um die Kampfbahn gekümmert, auf der nun die Kräfte frei sich messen sollten. Man nahm an (nicht alle taten es harmlos), daß in der gegebenen Ordnung, mit Einschluß der Vorrechte des Grundbesitzes und des Geldes, die Bürgschaft für einen genügend freien Wettstreit liege, vorausgesetzt, daß sich der Staat nicht weiter in das Getriebe der Wirtschaft mischen würde.
Man vergaß oder wollte es nicht einsehen, daß, wenn es natürlich zugehen sollte, man auch dem Proletariat das Recht einräumen müsse, sich den Boden mit denselben Mitteln zurück zu erobern, mit denen er ihm entwendet worden war. Statt dessen riefen die Manchesterleute denselben Staat zur Hilfe, der durch sein Dazwischentreten das freie Spiel bereits verdorben hatte, damit er sich mit seinen Gewaltmitteln vollends der Schaffung eines wirklich freien Spieles der Kräfte entgegenstellen solle. So gehandhabt, entsprach das Manchestertum in keiner Weise seiner Lehre. Volksbetrüger hatten sich, zum Schutze von Vorrechten, dieser Lehre bemächtigt, die jedes Vorrecht verneinte. Das war Betrug und Heuchelei.
Um die ursprüngliche Manchesterlehre gerecht zu beurteilen, darf man nicht von ihrer späteren Handhabung ausgehen. Die Manchesterleute erwarteten vom freien Spiel der Kräfte in erster Linie ein allmähliches Sinken des Zinsfußes bis auf Null. Diese Erwartung gründete sich auf die Tatsache, daß in England, wo der Markt verhältnismäßig am besten mit Geld versorgt war, auch der Zinsfuß am niedrigsten stand. Man brauchte also nur die wirtschaftlichen Kräfte zu entfesseln, sie dem freien Spiel zu überlassen, um das Geldangebot zu vermehren und dadurch den Zins, diesen ärgsten Schandfleck der seitherigen Wirtschaftsordnung, auszutilgen. Es war den Bekennern dieser Lehre noch unbekannt, daß gewisse innere Fehler unseres Geldwesens (das die Manchesterleute unbesehen in ihre Wirtschaftsordnung übernahmen) solcher geldmachtfeindlichen Entwicklung unübersteigbare Hindernisse in den Weg legen.
Nach einem weiteren Glaubenssatz der Manchesterlehre sollte, als Folge der Erbschaftsteilungen und der natürlichen wirtschaftlichen Minderwertigkeit der im Reichtum aufwachsenden Geschlechter, der Großgrundbesitz zerstückelt und die Grundrente auf diese Weise selbsttätig zu einem allgemeinen Volkseinkommen werden. Dieser Glaube mag uns heute etwas leichtfertig erscheinen; soweit war er aber doch gerechtfertigt, daß die Grundrenten um den Betrag der Schutzzölle durch den von den Manchesterleuten geforderten Freihandel hätten sinken müssen. Dazu kam die mit der Dampfschiffahrt und dem Eisenbahnwesen damals erst zur Tatsache gewordene Freizügigkeit der Arbeiter, durch die in England der Lohn sich auf Kosten der Grundrente auf den Stand des Arbeitsertrages der auf kosten- und lastenfreiem amerikanischem Boden siedelnden Auswanderer (»Freiländer«) hob, während zu gleicher Zeit die Ernteerträge dieser Freiländer die Preise der englischen landwirtschaftlichen Erzeugnisse senkten, – wieder auf Kosten der englischen Grundrentner. (In Deutschland und Frankreich wurde diese natürliche Entwicklung durch den Übergang zur Goldwährung derart verschärft, daß es hier zu einem Zusammenbruch gekommen wäre, wenn der Staat die Folgen seines Eingriffs {Goldwährung} nicht durch einen zweiten Eingriff {Getreidezölle} wieder ausgeglichen hätte.)
Man kann also wohl verstehen, daß die Manchesterleute, die mitten in dieser rasch vor sich gehenden Entwicklung standen, ihre Bedeutung überschätzend, die Beseitigung des zweiten Schandflecks ihrer Wirtschaftsordnung durch das freie Spiel der Kräfte glaubten erwarten zu dürfen.
Ihr dritter Glaubenssatz lautete, daß, wenn es bereits möglich gewesen war, dank der Anwendung ihres Grundsatzes, dank dem freien Spiel der Kräfte, Herr der natürlichen örtlichen Hungersnöte zu werden, es doch auch möglich sein müsse, auf demselben Wege durch Verbesserung der Verkehrsmittel, der Handelseinrichtungen, des Bankwesens usw. die Ursache der Wirtschaftstörungen zu beseitigen. Denn wie die Hungersnot sich als Folge schlechter örtlicher Verteilung der Lebensmittel erwies, so dachte man sich auch die Wirtschaftsstockung als Folge schlechter Warenverteilung. Und fürwahr, wer sich bewußt ist, wie sehr die kurzsichtige Zollpolitik aller Völker den natürlichen Gang der Volks- und Weltwirtschaft stört, der wird es verzeihen, wenn ein Freihändler, ein Manchestermann, der noch keine Ahnung hatte von den gewaltigen Störungen, die die Mängel des herkömmlichen Geldwesens auszulösen vermögen, die Beseitigung der Wirtschaftsstockungen einfach vom Freihandel erwarten konnte.
So dachten also die Manchesterleute weiter: wenn wir durch den allgemeinen Weltfreihandel die Volkswirtschaft dauernd in Vollbetrieb erhalten können, wenn als Folge solcher stockungsfreien, ununterbrochenen Arbeit eine Überproduktion an Kapital sich einstellt, die auf den Zins drückt und ihn schließlich ganz beseitigt, wenn auch noch das zutrifft, was wir vom freien Spiel der Kräfte für die Grundrente erwarten, dann muß die Steuerlast des ganzen Volkes derartig wachsen, daß sämtliche Staats- und Gemeindeschulden in kürzester Zeit in der ganzen Welt getilgt werden können. Damit wäre dann auch der vierte und letzte Schandfleck unserer Wirtschaftsordnung spurlos getilgt und der dieser Ordnung zugrunde liegende freiheitliche Gedanke vor der ganzen Welt gerechtfertigt; die neidischen, böswilligen und vielfach unehrlichen Tadler dieser Ordnung wären zum Schweigen gebracht.
Wenn von all diesen schönen Manchesterhoffnungen bis zum heutigen Tage keine Spur der Verwirklichung sich zeigt, die Mängel der Wirtschaftsordnung dagegen je länger desto ärger sich breit machen, so muß die Ursache in dem von den Manchesterleuten aus Unkenntnis der Dinge unbesehen aus dem Altertum übernommenen Geldwesen gesucht werden, das einfach versagt, sobald sich die Wirtschaft im Sinne der manchesterlichen Erwartungen entwickelt. Man wußte nicht, daß das Geld den Zins zur Bedingung seiner Betätigung macht, daß die Wirtschaftsstockungen, der Fehlbetrag im Haushaltsplan der erwerbenden Klasse, die Arbeitslosigkeit einfach Wirkungen des herkömmlichen Geldes sind. Die manchesterlichen Hoffnungen und die Goldwährung waren unvereinbar.
Die natürliche Wirtschaftsordnung wird nun durch Freiland und Freigeld von all den häßlichen, störenden und gefährlichen Begleiterscheinungen des Manchestertums befreit werden und alle Vorbedingungen für ein wirklich freies Spiel der Kräfte schaffen; dann soll es sich erweisen, ob solche Ordnung nicht doch noch besser ist, als der neumodische Götze, der alles Heil vom Bienenfleiß des Beamten, von seiner Pflichttreue, seiner Unbestechlichkeit und seiner menschenfreundlichen Gesinnung erwartet.
Entweder Eigen- oder Staatswirtschaft, – ein Drittes gibt es nicht. Man kann, wenn man weder die eine noch die andere will, für die gesuchte Ordnung noch so anheimelnde und vertrauenerweckende Namen ersinnen: Genossenschaften, Gemeinwesen, Vergesellschaftung usw., – sie können die Tatsache nicht verschleiern, daß es sich im Grunde immer um denselben Schrecken, um den Tod der persönlichen Freiheit, Unabhängigkeit, Selbstverantwortung, d. h, um Behördenherrschaft handelt.
Mit den in dieser Schrift gemachten Vorschlägen stehen wir jetzt zum ersten Male am Scheidewege. Wir müssen wählen, uns entschließen. Gelegenheit zu solcher Wahl hatte bisher noch kein Volk. Jetzt zwingen uns die Tatsachen zur Entscheidung. Es geht einfach nicht weiter, so wie es ging. Wir haben zu wählen zwischen der Beseitigung der Baufehler unserer alten Wirtschaftsweise und dem Kommunismus, der Gütergemeinschaft. Ein anderer Ausweg ist nicht da.
Es ist von höchster Bedeutung, mit Bedacht zu wählen. Es handelt sich nicht mehr um Kleinigkeiten, etwa um die Frage, ob Fürstenherrschaft oder Volksherrschaft, oder darum, ob der Wirkungsgrad der Arbeit in der Staatswirtschaft größer ist, als in der Eigenwirtschaft. Um höheres handelt es sich diesmal. Wir stehen vor der Frage, wem die Fortzucht des Menschengeschlechtes anvertraut werden soll; ob die mit unerbittlicher Folgerichtigkeit waltende Natur die Auslese vollziehen soll, oder ob die irrende Vernunft des Menschen, und noch dazu des heutigen, heruntergekommenen Menschen, der Natur diese Aufgabe abnehmen soll. Das ist es, worüber wir zu entscheiden haben.
Die Auslese durch den freien, von keinerlei Vorrecht mehr gefälschten Wettstreit wird in der Natürlichen Wirtschaftsordnung vollständig von der persönlichen Arbeitsleistung geleitet, wird also zu einem Sichauswirken der Eigenschaften des einzelnen Menschen. Denn die Arbeit ist die einzige Waffe des gesitteten Menschen in seinem »Kampfe ums Dasein«. Durch immer bessere, höhere Leistungen sucht sich der Mensch im Wettbewerb zu behaupten. Von diesen Leistungen hängt es allein ab, ob und wann er eine Familie gründen, wie er die Kinderpflege üben, die Fortpflanzung seiner Eigenschaften sichern kann. Man darf sich diesen Wettstreit nicht als Ringkampf, wie bei den Tieren der Wüste vorstellen, noch auch etwa als Totschlag. Diese Art der Auslese hat beim Menschen, dessen Macht von rohen Kräften ja nicht mehr abhängig ist, keinen Sinn. Man müßte auch schon sehr weit in die Entwicklungsgeschichte des Menschen zurückgreifen, um dort etwa auf Führer zu stoßen, die ihre Stellung roher Kraft verdankten. Darum hat der Wettstreit für die Unterliegenden auch nicht die grausamen Folgen wie dort. Entsprechend ihren geringeren Leistungen stoßen sie bei der Familiengründung, bei der Kinderpflege auf größere Hemmungen, die sich in eine geringere Nachkommenschaft umsetzen müssen. Solches wird im Einzelfall nicht immer festzustellen sein; Zufälle wirken mit. Doch steht es außerhalb jedes Zweifels, daß der freie Wettbewerb den Tüchtigen begünstigt und seine stärkere Fortpflanzung zur Folge hat. Das aber genügt, um die Fortpflanzung der Menschheit in aufsteigender Linie zu verbürgen.
Diese so wiederhergestellte natürliche Auslese wird in der Natürlichen Wirtschaftsordnung noch dadurch besonders unterstützt, daß auch die Vorrechte bei den Geschlechtern aufgehoben sind, indem als Entgelt für die aus der Kinderpflege entstehende Mehrbelastung die Grundrente unter die Mütter nach der Zahl der Kinder verteilt wird. (In der Schweiz etwa 40 Franken im Monat für jedes Kind.) Das dürfte genügen, um die Frauen wirtschaftlich so weit unabhängig zu machen, daß sie keine Ehe aus Not einzugehen, auch nicht eine bereits geschlossene gegen ihr Empfinden fortzuführen, oder nach einem »Fehltritt« in das Dirnentum zu versinken brauchen. So wird in der Natürlichen Wirtschaftsordnung der Frau das freie Wahlrecht verbürgt, und zwar nicht das inhaltleere politische Wahlrecht, sondern das große Zuchtwahlrecht, dieses wichtigste Sieb bei der Auslesetätigkeit der Natur.
Damit ist dann die natürliche Auslese in ihrer vollen wundertätigen Wirksamkeit wiederhergestellt. Je stärker der Einfluß der ärztlichen Kunst auf die Erhaltung und Fortpflanzung der fehlerhaft geborenen Menschen wird, umso mehr Gewicht muß darauf gelegt werden, daß die allgemeinen, großen Auslesevorrichtungen der Natur in voller Wirksamkeit bleiben. Dann können wir uns dem menschlich-christlichen Empfinden, das zur Anwendung solcher Kunst treibt, unbesorgt weiter hingeben. Soviel Krankhaftes auch der Auslesebetätigung der Natur durch die Fortpflanzung der Fehlerhaften zugeführt wird, sie wird es bewältigen. Die ärztliche Kunst kann dann die Hochzucht nur verlangsamen, nicht aufhalten.
Würden wir uns hingegen für die Staatswirtschaft entscheiden, so schalteten wir die Natur in der Auslese vollends aus. Zwar ist damit dem Staate noch nicht die Zucht dem Namen nach ausgeliefert, aber tatsächlich übt er die oberste Aufsicht darüber aus. Von ihm hängt es ab, wann der Mann an die Gründung einer Familie gehen, und welche Pflege ein jeder seinen Kindern angedeihen lassen kann. Wie der Staat seine Beamten schon heute verschieden hoch entlohnt und dadurch in die Fortpflanzung der einzelnen Angestellten in stärkster Weise eingreift, – so dann allgemein. Der Menschenschlag, der den Maßgebenden im Staate gefällt, – der herrscht dann vor. Dann erobert sich der Mensch seine Stellung nicht mehr kraft seiner persönlichen Fähigkeiten, nicht mehr durch sein Verhältnis zur Menschheit und zur Welt; sein Verhältnis zu den herrschenden Parteihäuptlingen gibt dann vielmehr die Entscheidung. Er erschleicht seine Stellung, und die besten Schleicher hinterlassen dann die stärkste Nachkommenschaft, – die gesetzmäßig auch die Eigenschaften der Eltern erbt. So züchtet der Staatsbetrieb die Menschen, wie der Wechsel der Kleidermode dazu führt, daß mehr schwarze oder mehr weiße Schafe gezüchtet werden. Die Behörde, die aus den geschicktesten Schleichern besteht, »ernennt« den Mann, hebt ihn oder setzt ihn zurück. Wer nicht mitmachen will, kommt ins Hintertreffen; seine Art geht zurück und verschwindet schließlich ganz. Die Staatsschablone formt den Menschen. Eine Fortentwicklung über diese Schablone hinaus wird unmöglich.
Eine Beschreibung des Gesellschaftslebens, wie es sich im Staatsbetrieb abspielen würde, will ich dem Leser ersparen. Aber erinnern möchte ich daran, wieviel Freiheit das freie Spiel der Kräfte, sogar in der gründlich verpfuschten Ausgabe, die wir vor dem Kriege kennen gelernt haben, großen Kreisen des Volkes bot. Eine größere Unabhängigkeit als die war, deren sich die Leute erfreuten, die Geld hatten, läßt sich wohl gar nicht vorstellen. Sie hatten eine vollkommen freie Berufswahl, arbeiteten nach freiem Ermessen, lebten wie sie wollten, reisten frei bald hierin bald dorthin, die staatliche Bevormundung lernten sie überhaupt nicht kennen. Niemand fragte, woher sie das Geld nähmen. Mit keinem andern Gepäck als einem »Tischlein deck dich!« in Form eines Scheckbuches reisten sie um die ganze Welt! Wahrhaftig, ein für die Betreffenden musterhafter Zustand, der nur von denjenigen nicht als das goldene Zeitalter anerkannt wurde, die von diesen Freiheiten infolge der Baufehler unserer im Grundgedanken richtigen Wirtschaft keinen Gebrauch machen konnten, – von den Proletariern. Sind aber diese Klagen der Proletarier, sind die Baufehler in unserer Wirtschaft nun ein Grund, um diese selbst zu verwerfen und dafür ein Neues einzuführen, das diese Freiheiten allen rauben und das ganze Volk in die allgemeine Gebundenheit stürzen soll? Wäre es nicht im Gegenteil vernünftiger, die Baufehler zu beseitigen, die klagende Arbeiterwelt zu erlösen und dadurch allen Menschen, restlos allen, die wunderbare, im Grundplan liegende Freiheit zugänglich zu machen? Darin kann doch nicht die Aufgabe liegen, wie wir alle Menschen unglücklich machen sollen, sondern darin, allen Menschen die Quellen der Lebensfreude zugänglich zu machen, die allein durch das freie Spiel der Kräfte der Menschheit erschlossen werden können.
Vom Standpunkt des Wirtschaftsbetriebs, also vom Wirkungsgrad der Arbeit, ist die Frage, ob Eigen- oder Staatswirtschaft, gleichbedeutend mit der Frage, ob wir als allgemeine bewegende Kraft für die Überwindung der von den Mühseligkeiten der Berufsarbeit ausgehenden Hemmungen den Selbst- oder den Arterhaltungstrieb Als solchen bezeichnen wir den in jedem Menschen mehr oder weniger stark entwickelten Trieb, der auf die Erhaltung des Ganzen, der Art – Gemeinde, Volk, Rasse, Menschheit – gerichtet ist. einsetzen sollen.
Diese Frage dürfte ihrer unmittelbar fühlbaren Bedeutung wegen manchen vielleicht näher angehen, als der mit unermeßlichen Zeiträumen rechnende Vorgang der Auslese. So wollen wir auch dieser Frage einige Worte widmen.
Es ist eine eigentümliche Erscheinung, daß der Regel nach der Kommunist, der Anhänger der Gütergemeinschaft, die anderen – sofern sie ihm persönlich unbekannt sind – für uneigennütziger hält als sich selbst. Und so kommt es, daß die echtesten Selbstlinge (Egoisten), die in erster Linie an sich denken und oft nur an sich, zugleich in der Theorie begeisterte Vertreter jener Lehre sind. Wer sich hiervon überzeugen will, der braucht nur in einer Versammlung von Kommunisten den gewiß echt kommunistischen Vorschlag der Lohngemeinschaft des Lohnausgleiches zu machen. Sie sind dann alle plötzlich still, dieselben, die noch vorher die Gütergemeinschaft in allen Tonarten verherrlichten. Sie sind still, weil sie ausrechnen, ob die Lohngemeinschaft ihnen vorteilhaft sein würde. Die Führer lehnen diesen Ausgleich glatt ab, unter den nichtigsten Vorwänden. Tatsächlich steht solcher Lohngemeinschaft nichts anderes im Wege, als der Eigennutz der Kommunisten. Niemand hindert die Arbeiter einer Fabrik, einer Gemeinde, einer Gewerkschaft daran, die Löhne zusammenzulegen, um die Summe dann nach den Bedürfnissen der einzelnen Familien zu verteilen und sich auf diese Weise jetzt schon auf diesem schwierigen Gebiet zu üben. Das wäre ein Vorgehen, mit dem sie ihre kommunistische Gesinnung vor aller Welt bezeugen und alle die Zweifelsüchtigen glatt widerlegen könnten, die da sagen, der Mensch sei kein Kommunist. Solchen kommunistischen Versuchen steht wirklich niemand im Wege, – der Staat nicht, die Kirche nicht, das Kapital nicht. Sie brauchen dazu kein Kapital, keine bezahlten Beamten, keine verwickelte Einrichtung. Sie können jeden Tag, in jedem beliebigen Umfang damit beginnen. Aber so gering erscheint das Bedürfnis nach wahrer Gemeinwirtschaft unter den Kommunisten, daß wohl noch niemals ein Versuch dazu gemacht wurde. Dabei verlangt die Lohngemeinschaft, die sich innerhalb des Kapitalismus abspielt, zunächst nur, daß der gemeinsame Arbeitsertrag unter alle, nach den persönlichen Bedürfnissen jedes einzelnen verteilt werde. Für den auf Gütergemeinschaft aufgebauten Staat dagegen müßte noch der Beweis erbracht werden, daß diese Grundlage keinen nachteiligen Einfluß auf die Arbeitsfreudigkeit des einzelnen ausübt. Auch diesen Nachweis könnten die Kommunisten mit dem genannten Lohnausgleich erbringen. Denn wenn nach Einführung der Lohngemeinschaft, die jeden persönlichen Sondergewinn für persönlichen Fleiß aufhebt, die Ausdauer nicht nachläßt, namentlich bei der Stücklohnarbeit nicht, wenn der Gesamtarbeitslohn durch die Lohngemeinschaft nicht leidet, wenn die tüchtigsten unter den Kommunisten ihren oft doppelten und dreifachen Lohn ebenso freudigen Herzens in die gemeinsame Lohnkasse stecken, wie heute in die eigene Tasche, – dann wäre der Beweis lückenlos erbracht. Daß die gemeinwirtschaftlichen Versuche, die man zahlreich auf dem Gebiete der Gütererzeugung ausgeführt hat, sämtlich fehlschlugen, beweist die Unmöglichkeit des Kommunismus bei weitem nicht so schlagend, wie die einfache Tatsache, daß der Vorschlag der Lohngemeinschaft immer rundweg abgelehnt worden ist. Denn die Gemeinwirtschaft in der Gütererzeugung bedarf besonderer Einrichtungen, verlangt Unterordnung, eine technische und kaufmännische Leitung, und dazu noch die Arbeitsmittel. Mißerfolge können also auf vielerlei Art erklärt werden; sie sprechen nicht unbedingt gegen die Sache an sich, gegen den Mangel am richtigen Geist der Gemeinwirtschaft, am Gefühl der Zusammengehörigkeit. Bei der Lohngemeinschaft fehlt dagegen solche Ausrede vollständig; ihre Ablehnung zeugt unmittelbar wider den kommunistischen Geist und dafür, daß der Arterhaltungstrieb nicht ausreicht, um die Mühseligkeiten der Berufsarbeit zu überwinden.
Und es nützt nichts, daß gegen diese Folgerungen auf den Kommunismus, die Gemeinwirtschaft der Alten hingewiesen wird, sowie auf die Zeit des Urchristentums. Die Urchristen, die, wie es scheint, nur die Einkommensgemeinschaft, aber nicht die viel schwierigere Gemeinwirtschaft der Gütererzeugung kannten, handelten aus religiösen Anschauungen heraus. Die anderen aber, die den Familien- oder Gemeindekommunismus übten, standen unter der Befehlsgewalt des Patriarchen, des Erzvaters; sie arbeiteten im Banne des Gehorsams, nicht dem eigenen Triebe folgend. Die Not zwang sie, sie hatten keine andere Wahl. Und hier handelte es sich auch nicht um Warenerzeugung und Arbeitsteilung, wobei der Unterschied in der Leistung des Einzelnen sofort meßbar in die Augen fällt. Die Alten zogen zusammen aufs Feld, auf die Jagd, auf den Fischfang; sie zogen alle an demselben Seil, und da fällt es nicht auf, ob einer mehr oder weniger zieht. Maßstäbe gab es nicht und brauchte man nicht. So vertrug man sich. Mit der Warenerzeugung und Arbeitsteilung hörte das auf. Da sah jeder sogleich, wieviel Ellen, Pfund und Scheffel der einzelne dem gemeinsamen Arbeitserzeugnis zutrug, und da war es mit der Friedfertigkeit bei der Verteilung auch aus. Jeder wollte nun über sein eigenes Arbeitserzeugnis verfügen, und zwar vor allem die, die am tüchtigsten waren, die höchsten Leistungen aufzuweisen hatten, und die darum auch in der Gemeinschaft das höchste Ansehen genossen. Die Führer erstrebten die Sprengung des gemeinwirtschaftlichen Verbandes, und ihnen schlossen sich alle die an, deren Leistung den Durchschnitt überstieg. Sobald die Möglichkeit der Eigenwirtschaft gegeben war, mußte die Gemeinwirtschaft zerfallen. Nicht weil sie von außen angegriffen worden wäre, nicht, weil fremde Mächte sie fürchteten, zerfiel die Gemeinwirtschaft, der Kommunismus. Nein, sie erlag dem »inneren Feind«, der in diesem Falle sich aus den Tüchtigsten immer wieder ergänzte. Wenn der Gedanke der Gütergemeinschaft auf einem stärkeren Triebe, als dem des Eigennutzes aufgebaut wäre, auf einem allen gemeinsamen Triebe, so hätte er sich auch behaupten können. Von selbst hatten die Anhänger der Gemeinwirtschaft, so oft sie durch irgend ein Ereignis auseinandergetrieben worden wären, immer wieder zueinandergestrebt.
Aber der in der Gemeinwirtschaft wirksame Trieb, der Arterhaltungstrieb (Gemeinsinn, Altruismus), ist nur eine verwässerte Lösung des Selbsterhaltungstriebes, der zur Eigenwirtschaft führt, und er steht diesem an Kraft in demselben Maße nach, wie die Verwässerung zunimmt. Je größer die Gemeinschaft (Kommune), umso größer die Verwässerung, umso schwächer der Trieb, zur Erhaltung der Gemeinschaft durch Arbeit beizutragen. Wer mit einem Genossen arbeitet, ist schon weniger ausdauernd, als derjenige, der die Frucht der Arbeit allein genießt. Sind es 10–100–1000 Genossen, so kann man den Arbeitstrieb auch durch 10–100–1000 teilen; soll sich gar die ganze Menschheit in das Ergebnis teilen, dann sagt sich jeder: auf meine Arbeit kommt es überhaupt nicht mehr an, sie ist, was ein Tropfen für das Meer ist. Dann geht die Arbeit nicht mehr triebmäßig vonstatten; äußerer Zwang wird nötig!
Darum ist es auch richtig, was der Neuenburger Gelehrte Ch. Secrétan sagt: »Der Eigennutz soll in der Hauptsache den Antrieb zur Arbeit geben. Darum muß alles, was diesem Antrieb mehr Kraft und Bewegungsfreiheit geben kann, unterstützt werden. Alles, was diesen Antrieb hemmt und schwächt, muß als schädlich verurteilt werden. Dies ist der Grundsatz, von dem man ausgehen und den man mit unerschütterlicher Folgerichtigkeit anwenden muß, unter Verachtung kurzsichtiger philanthropischer Entrüstung und der kirchlichen Verdammnis.«
So können wir also mit gutem Grunde auch denen, die an den Hochzielen der Natürlichen Wirtschaftsordnung sich unbeteiligt glauben, nur Gutes von dieser Ordnung versprechen; sie werden sich eines besser gedeckten Tisches, schönerer Gärten, besserer Wohnungen erfreuen. Die Natürliche Wirtschaftsordnung wird auch technisch der heutigen und der kommunistischen überlegen sein.
Im Herbst 1918.
Silvio Gesell.
Vorwort zur 4. Auflage.
Der eifrigen Werbetätigkeit der nun schon zahlreichen und weitverbreiteten Freunde der N. W.-O. ist es zuzuschreiben, daß der dritten, bereits starken Auflage, diese vierte so schnell folgen mußte.
In bezug auf den Inhalt ist zu sagen, daß der Krieg mir nichts Neues zeigte, daß ich in keinem Punkt noch Pünktchen umzulernen brauchte, daß die Kriegs- und Umsturzereignisse restlos alles bestätigt haben, was ich vor dem Kriege schrieb. Dies betrifft nicht nur den theoretischen Inhalt, sondern auch die politische Bewertung dieser Theorien. Den Kapitalisten, den Kommunisten, den Marxisten hat der Krieg manches zu denken gegeben. Viele, die meisten sind an ihrem Programm irre geworden, sind gar völlig entwurzelt und ratlos. Die meisten wissen überhaupt nicht mehr, welcher Partei sie sich anschließen sollen. Das alles bestätigt die Richtigkeit der Lehrsätze, die zu dieser N. W.-O. geführt haben.
Den Parteien, samt und sonders, fehlt das wirtschaftliche Programm; zusammengehalten werden sie alle nur durch Schlagworte. Aus dem Kapitalismus müssen wir heraus, das erkennen sogar die Kapitalisten selbst. Der Bolschewismus oder Kommunismus mag für unentwickelte Kulturzustände, wie man sie noch vielfach auf dem Lande in Rußland antrifft, möglich sein, aber für eine hochentwickelte, auf Arbeitsteilung eingerichtete Volkswirtschaft sind solche vorgeschichtlichen Wirtschaftsformen nicht anwendbar. Der Europäer ist den von dem Kommunismus untrennbaren Gebundenheiten entwachsen. Er will frei sein, nicht allein frei von der kapitalistischen Ausbeutung, sondern auch frei von den behördlichen Eingriffen, die sich doch beim Zusammenleben in einer auf Kommunismus eingerichteten Gemeinschaft nicht vermeiden lassen. Aus dem gleichen Grunde werden wir mit der jetzt versuchten Verstaatlichung nur schwere Mißerfolge erleben.
Steht der in Gütergemeinschaft lebende Kommunist am äußersten rechten Flügel, am Ausgangstor der gesellschaftlichen Entwicklung, bedeutet darum die kommunistische Forderung den letzten reaktionären Schritt, so muß die N. W.-O. als Programm der Aktion, des Fortschrittes des äußersten linken Flügelmannes angesprochen werden. Alles, was dazwischen liegt, sind nur Entwicklungsstationen.
Die Entwicklung vom Herdenmenschen, vom Teilmenschen zum selbständigen Vollmenschen, zum Individuum und Akraten, also zum Menschen, der jede Beherrschung durch andere ablehnt, setzt mit den ersten Anfängen der Arbeitsteilung ein. Sie wäre längst vollendete Tatsache, wenn diese Entwicklung nicht durch Mängel in unserem Bodenrecht und Geldwesen unterbrochen worden wäre – Mängel, die den Kapitalismus schufen, der zu seiner eigenen Verteidigung wieder den Staat ausbaute, wie er heute ist und ein Zwitterding darstellt zwischen Kommunismus und Freiwirtschaft. In diesem Entwicklungsstadium können wir nicht stecken bleiben; die Widersprüche, die den Zwitter zeugten, würden mit der Zeit auch unseren Untergang herbeiführen, wie sie bereits den Untergang der Staaten des Altertums herbeigeführt hatten. Heute heißt es: »durch – oder Untergang«, nicht Stillstand, nicht Rückschritt, sondern durch den Hohlweg des Kapitalismus, in dem wir stecken blieben, hinaus ins Freie.
Die N. W.-O. ist keine neue Ordnung, sie ist nicht künstlich zusammengestellt. Der Entwicklung der Ordnung, die die Arbeitsteilung zum Ausgangspunkt nimmt, sind nur die aus den organischen Fehlern unseres Geldwesens und Bodenrechtes entstehenden Hemmungen aus dem Wege geräumt worden. Mehr ist nicht geschehen. Sie hat mit Utopien, mit unerfüllbaren Schwärmereien, nichts gemein. Die N. W.-O., die ohne irgendwelche gesetzlichen Maßnahmen von selber steht, die den Staat, die Behörden, jede Bevormundung überflüssig macht und die Gesetze der uns gestaltenden natürlichen Auslese achtet, gibt dem strebenden Menschen die Bahn frei zur vollen Entfaltung des »Ich«, zu der von aller Beherrschtheit durch andere befreiten, sich selbst verantwortlichen Persönlichkeit, die das Ideal Schillers, Stirners, Nietzsches, Landauers darstellt.
5. Mai 1920.
Silvio Gesell.
Vorwort zur 5. Auflage.
Bei der Herausgabe dieser 5. Auflage kann ich nicht umhin, auf die Tatsache hinzuweisen, daß dieses Buch, das doch der Öffentlichkeit dient, die Beachtung der Presse immer noch so »hinten herum« erschleichen muß, trotzdem die freiwirtschaftliche Bewegung, die das Buch ins Leben rief, auf dem besten Wege ist, sich zu einer Volksbewegung zu entwickeln.
Die große Presse dient ausnahmslos den Parteien, und außer dieser Parteipresse gibt es so gut wie keine Presse mehr. Wer etwas zu sagen hat, was mehr als Parteipolitik ist, der findet dazu keine Presse im demokratischen Staate. Die wenigen Blätter, die ehrlich sich bemühen, parteilos zu bleiben, stehen dann doch noch im Banne des Klassengeistes. Für Parteien und Klassen ist aber dieses Buch nicht geschrieben, und so kommt es, daß die gesamte Presse des In- und Auslandes mit diesem Buche nichts anzufangen weiß. Sie kann es nicht bekämpfen und darf es auch nicht anerkennen. Bekämpft sie es, so stellt sich gleich heraus, daß dazu die parteipolitischen Gesichtspunkte unzulänglich sind und auch keine Selbstkritik vertragen. Anerkennt sie es, so entstehen Schwierigkeiten innerhalb der Partei. Es gibt tatsächlich keine politische Partei, die sich an den Lehrsätzen der »Natürlichen Wirtschaftsordnung« reiben könnte, ohne Schaden an der Geschlossenheit zu nehmen, ja man braucht kein weitsichtiger Politiker zu sein, um vorhersagen zu können, daß an dem Tage, wo die Parteien gezwungen werden, Stellung zu den Lehrsätzen der N. W.-O. zu nehmen, sie sich alle auflösen werden, um dann aus dem Chaos als zwei neue Parteien hervorzugehen, die sich dann bis zur Strecke bekämpfen werden – Gegner und Freunde der natürlichen Wirtschaftsordnung.
Was kann in solcher Lage ein kluger Parteipolitiker tun? Schweigen! Solches Schweigen aber ist das, was man »Totschweigen« nennt. Was kann man heute ohne Presse erreichen? Es heißt doch: Wer die Presse hat, hat auch die Macht.
Und dennoch, es geht auch so, sagt man mir. Es braucht dann halt etwas mehr Zeit. Ganz recht. Aber haben wir jetzt noch so viel Zeit zur Verfügung? Jetzt muß das Geschwätz ein Ende nehmen, und Taten müssen fallen, zielbewußte Taten, wenn das Reich bewahrt werden soll vor sozialer, wirtschaftlicher, politischer Auflösung, wenn wir das große Sterben noch verhindern wollen; gerade die Taten, die in diesem Buche vorbereitet wurden und für die das Volk aufgerufen wird, scharfkantig abgesetzte Taten.
Was tun? Wie hilflos ist man doch, wenn man sich an die Öffentlichkeit wenden muß und hat keine Presse dazu. Trotzdem. Die Klarheit des erkannten Zieles, die Geradheit des Weges, die opferfreudige Begeisterung aller, die sich für die Verwirklichung der freiwirtschaftlichen Ziele einsetzen, dazu die allgemeine Ratlosigkeit in den Regierungskrisen, der ständig wachsende Druck der Not werden die Hilfe der Presse ersetzen.
Wenn die Zeit nicht so drängte, wenn man mir nicht zurief: »Grollt es nicht in fernen Donnern, siehst du nicht, wie der Himmel ahnungsvoll schweigt und sich trübt?«, so würde ich das Buch systematisch umgearbeitet haben, wobei es hätte verkleinert werden können. Doch die letzte Auflage ist vollkommen vergriffen und die Flut von Bestellungen will nicht versiegen. Also lasse ich das Buch so, wie es war. Es wird auch so gehen. Inhaltlich ist auch an dieser Auflage nichts zu ändern. Die neuen Lehrsätze haben auch die Probe bei den Pfuschereien und Experimenten der letzten Zeit bestanden. Und vielleicht ist dies die letzte Auflage, die ich herausgeben muß. Wenn wir einmal die natürliche Wirtschaftsordnung erleben, dann braucht man sie nicht mehr in Büchern zu studieren, dann wird alles so klar, so klar, so selbstverständlich. Wie bald wird dann auch die Zeit kommen, wo man den Verfasser bemitleiden wird, nicht aber, wie es heute noch geschieht, weil er solch utopischen Wahngebilden nachstrebt, sondern weil er seine Zeit der Verbreitung einer Lehre widmete, die ja doch nur aus einer Reihe banalster Selbstverständlichkeiten besteht.
Rehbrücke, den 30. November 1921.
Silvio Gesell.
Vorwort zur 6. Auflage.
Das Stadium des Totschweigens, von dem noch im Vorwort zur 5. Auflage die Rede war, ist jetzt überwunden. Es liegen jetzt schon viele Kritiken vor, mehrere in Gestalt starker Broschüren. Und kaum ein Tag vergeht, daß nicht in Zeitungen und Zeitschriften aller Richtungen Abhandlungen über das Freigeld erscheinen. Der Druck von »unten« macht sich bemerkbar. Jedoch die meisten dieser Abhandlungen verraten immer noch einen erschreckenden Mangel an Vorbildung, ganz besonders dann, wenn sie von Akademikern herrühren. Sie liefern den Beweis, daß den deutschen Akademikern die Währungsfrage ein völlig fremdes Gebiet geblieben ist und daß überhaupt die Akademie, die staatlich subventionierte Universität, nicht der Ort ist, wo wissenschaftliche Fragen, die mit so starkem politischen Beigeschmack behaftet sind, förderlich behandelt werden können. Die Tatsache, daß heute, wo die Währungsfrage zum allgemeinen Gesprächsgegenstand geworden ist und alle nach Hilfe schreien und Aufklärung verlangen, die Akademiker sich ins Mauseloch verkrochen haben, und daß die Regierung sich an ausländische »Sachverständige« wendet, beweist, daß es eine akademische Wissenschaft auf diesem Gebiet in Deutschland nicht gibt. Je eher wir uns überzeugen, daß es so ist und dann auf alle Hilfe von dort einfach verzichten, umso besser wird es sein. Denn dann werden wir einsehen, daß die Währungsfrage vom ganzen Volk studiert werden muß und daß es in einer Demokratie nicht angeht, daß das Volk sich in lebenswichtigen Fragen auf das Urteil von einigen Männern verläßt, namentlich dann nicht, wenn es sich, wie in diesem Falle, um eine hochpolitische Angelegenheit handelt und man immer mit der Möglichkeit rechnen muß, daß das Urteil der »Sachverständigen « durch Privatinteressen getrübt wird. In einer Autokratie genügt es, wenn ein Mann die Währungsfrage studiert. In der Demokratie muß das ganze Volk sich dieser Aufgabe unterziehen, wenn die Demokratie nicht den Demagogen verfallen soll.
Zur Stütze des eben Gesagten will ich hier eine »Kritik« des Heidelberger Universitätsprofessors E. Lederer im Wortlaut folgen lassen, die unter dem Titel »Die Motive des Freigeldes« durch die ganze sozialistische und gewerkschaftliche Presse gegangen ist. Allem Anschein nach wurde sie von der sozialdemokratischen Parteileitung zur Bekämpfung eines »Konkurrenten« bestellt, wobei die Umstände darauf hindeuten, daß die Parteileitung weniger auf den Inhalt der Kritik als auf den Titel des Universitätsprofessors spekulierte, da Lederer in der Währungsliteratur eine völlig unbekannte Größe ist und die Sozialdemokraten gewiß keinen schlechter vorbereiteten Mann für ein fachmännisches Urteil über das Freigeld hätten auftreiben können. Oder halten etwa die Sozialdemokraten solchen Universitätsprofessor für einen Mann, der alles wissen muß?
Die Kritik Prof. E. Lederers, abgedruckt in »Der Freie Angestellte« Nr. 10/1922 lautet:
In Zeiten des zerrütteten Geldwesens treten erfahrungsgemäß immer wieder Projekte in den Vordergrund der Erörterung, welche darauf abzielen, alle wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Zeit durch eine Änderung des Geldmechanismus zu beheben. In normalen Zeiten erregen solche Vorschläge geringe Beachtung, weil zu deutlich die Abhängigkeit der wirtschaftlichen Lage von der Produktion und ihren Ergebnissen in Erscheinung tritt. In Zeiten eines rasch schwankenden Geldwertes hingegen treten überraschende Gewinne und Verluste ein, ohne daß die Gewinnenden oder Leidtragenden durch vermehrte oder verminderte Gütererzeugung diese Veränderung ihrer Lage hervorgerufen hätten. Diese Erscheinungen sind uns heute so vertraut, daß sie nicht weiter beschrieben zu werden brauchen. In solchen Zeiten erscheint das Geld als eine dämonische Kraft, welche anscheinend die Gesetze der Produktion und Verteilung verändern kann. Was liegt näher als der Gedanke, sich dieser Kraft zu bedienen, um alle inneren Schwierigkeiten der kapitalistischen Produktion und des Marktmechanismus aufzulösen und die restlose Befriedigung aller berechtigten Bedürfnisse zu gewährleisten.
Der Gedanke, den Mechanismus des Geldwesens zu ändern, taucht ferner besonders leicht in Zeiten der Absatzstockung auf. In solchen ist ja scheinbar für den Industriellen und den Arbeiter die größte Schwierigkeit, seine Ware zu Geld zu machen und dadurch wieder neu produzieren zu können. Gleichzeitig ist aber Geld in den Banken, bei den Kapitalisten vorhanden, und es wird daher aus einer oberflächlichen Betrachtung der Gedanke geboren, die Zirkulation der Waren und damit zugleich die Verbesserung der Marktlage durch eine Veränderung des Geldwesens zu erreichen. Solche Pläne sind sehr alt und schon die Tauschbank von Proudhon geht ja auf eine ähnliche Erwägung zurück.
Durch diese Mittel – wie die Tauschbank oder das Arbeitsgeld oder ähnliches – soll der Absatz aller Produkte und damit immer wieder neue Produktion dauernd automatisch gewährleistet werden.
Es ist nun erstaunlich, daß Vorschläge dieser Art, welche in den Zeiten der Krisen entstehen, gerade heute in Deutschland vertreten werden, welches infolge der Valutaentwertung nicht gerade an Absatzstockung leidet. Aber es wäre nicht das erstemal, daß Utopisten ihre Ideen durch dick und dünn vertreten, auch dann, wenn gerade die Zeiten und die ökonomischen Umstände das Gegenteil der von ihnen verlangten Maßnahmen fordern. So steht es auch mit der Idee Freigeld, welche leider – wie es scheint – in weiten Kreisen der Angestellten und Arbeiter Anhänger gewonnen hat und seinerzeit überraschenderweise sogar von der Münchener Räteregierung aufgenommen worden war. Daß diese Gedankengänge in bürgerlich orientierten Kreisen der Arbeitnehmer Anklang finden, kann wenig verwundern, weil diese, ohne eine feste wirtschaftspolitische Linie, die Lehren der ökonomischen Theorie verachtend, solchen Utopien leichter zum Opfer fallen, während die theoretisch-ökonomische Betrachtung, auf welcher der wissenschaftliche Sozialismus fußt, unschwer die Sinnlosigkeit solcher Vorschläge erkennen läßt.
Der Grundgedanke der Vorschläge von Silvio Gesell – Anmerkung der Schriftleitung: mit denen der Gewerkschaftsbund der Angestellten liebäugelt – beruht bekanntlich darauf, daß das Geld in seiner Kaufkraft im Laufe der Zeit einbüßen soll, so daß der Besitzer eines 100-Mark-Scheines an diesem Papier etwa im Lauf eines Jahres 5–6 Mark einbüßt und dasselbe, wenn er es ein Jahr im Portefeuille trägt, nur mit 94 oder 95 in Zahlung geben kann. Der Zweck des Vorschlages beruht offensichtlich darin, den Besitzer von Papiergeld zu veranlassen, sein Zahlungsmittel möglichst bald wieder auszugeben, sei es für Waren oder als Kapitalanlage (es muß hervorgehoben werden, daß dieser Vorschlag nur auf Papiergeld Anwendung finden kann, weil ein goldenes Zwanzigmarkstück eben immer ein Zwanzigmarkstück bleibt. Daraus ergibt sich schon, daß die Vorschläge, soweit sie vor dem Kriege vertreten wurden, damals den Übergang zu einer Papierwährung in sich schlossen).
Wenn wir diesen Vorschlag von Gesell in den Ausdrücken der ökonomischen Theorie kennzeichnen wollen, so müssen wir sagen, daß das Kapital, soweit es Geldform hat, einen negativen Zins tragen soll.
Es sei hier nicht versucht, die technischen Unmöglichkeiten dieses Vorschlages darzulegen – es seien nur seine ökonomischen Wirkungen betrachtet. Die Folge einer solchen Maßnahme wäre zunächst die, daß jeder Besitzer von Geldzeichen trachtet, diese möglichst bald in Waren umzusetzen. Das geschah aber auch schon vor dem Kriege: die überwiegende Masse von Geld befindet sich in den Händen der Lohnempfänger, welche dieses innerhalb der Lohnperiode ausgeben, also meist nur wenige Tage in der Tasche tragen. Die Kapitalisten, Landbesitzer usw. verfügen gleichfalls über geringe Kassenbestände und lassen das überflüssige Geld, welches sie für Konsumgüter nicht benötigen, in ihrem Unternehmen selbst oder in den Sammelstellen für Geld, in den Banken für sich arbeiten. Aber auch in den Unternehmungen und in den Banken wird das Geld nicht in größeren Mengen angehäuft und aufgehortet, sondern zum Ankauf von Produktionsmitteln, Bezahlung von Löhnen usw. verwendet. Jeder ABC-Schüler der Volkswirtschaft weiß, daß die entwickelte kapitalistische Verkehrswirtschaft mit erstaunlich geringen Mengen von Geldzeichen das Auslangen findet, weil große Wertübertragungen ohne Zuhilfenahme von Geld zustande kommen und das Geld selbst eine große Umlaufgeschwindigkeit hat. Auch bedarf es eines solchen negativen Zinses nicht, um den Besitzer von Geldzeichen zur Anlage seines Geldes zu veranlassen, denn da für Sparkapital Zins gezahlt wird, so hat er ja bereits einen effektiven Verlust, wenn er das Geld hortet. Der Vorschlag von Gesell erhöht nur diesen Verlust um einige Prozent. Selbst in normalen Zeiten bedeutet also der Vorschlag von Gesell keine wesentliche Änderung der in der Volkswirtschaft wirkenden Kräfte. In Zeiten der Absatzkrise bringt er keine Vorteile, denn in diesen hält sich die Käufer zurück, weil er mit dem weiteren Sinken der Preise rechnet. Soweit ihm der Ereignisse recht geben, wird ihn ein kleiner negativer Zins daran nicht hindern, mit dem Einkauf der Ware noch etwas zu warten, zumal er ja die Möglichkeit der zinsbringenden Anlage in der Zwischenzeit behält. Der Vorschlag des Freigeldes hatte nur insofern einen Sinn, als der Zins selbst in Frage gestellt oder abgeschafft werden könnte. Es ist aber nicht ersichtlich, wie das geschehen soll und überdies ist zu bemerken, daß im Rahmen einer freien, auf Privateigentum beruhenden Verkehrswirtschaft eine Abschaffung des Zinses nicht möglich ist, weil dadurch die Akkumulation des Kapitals, und das ist zugleich die Erweiterung der Produktionsmittelbasis, in Frage gestellt würde.
Völlig unerfindlich ist aber, welchen Zweck die Durchführung dieser Maßnahme gegenwärtig in Deutschland haben sollte: seit dem Jahre 1914 zeigt der Geldwert, von kleinen Rückschlägen abgesehen, eine stark sinkende Tendenz. Nach den Indexziffern der »Frankfurter Zeitung« haben sich z. B. die Preise vom Januar bis Dezember 1920 nach dem Index des Statistischen Reichsamts wie von 100 auf 182, d. h. um 82 Prozent, gesteigert, bis Dezember 1921 wie von 100 auf 275 (nach Calwer sogar auf nahezu 400). Diese Ziffern zeigen schon, daß der Umsatz von Geld in Ware durch die wirtschaftlichen Verhältnisse selbst gegenwärtig mit einer geradezu enormen Prämie ausgestattet ist. Wer wird so unvernünftig sein, sein Geld, das ihm unter der Hand zerrinnt, zu horten, und wer wird, wenn er es doch tut, sich durch einen kleinen Verlust daran hindern lassen? Abschätzung von Geld kommt höchstens als Form der Steuerhinterziehung in wirtschaftlich rückständigen, meist landwirtschaftlichen Betrieben in Betracht – diese würden sich auch durch einen – dem Vorschlag nach – mäßigen negativen Zins davon nicht abhalten lassen. Die wirtschaftliche Wirkung einer solchen Hortung ist, wenn man von Steuerhinterziehung absieht, keine ungünstige, denn die Hortung ist ja nichts anderes als ein zinsfreies Darlehen an das Reich.
Wenn wir zusammenfassen, so kann gesagt werden, daß die Einführung der Maßnahmen, welche Silvio Gesell vorschlägt, in das Wirtschaftsleben nur Verwirrung hineinbringen würde, ohne der Produktion neue Kräfte zuzuführen.
Prof. G. Lederer-Heidelberg.
Ich überlasse es dem Leser dieses Buches, die Frage zu beantworten, ob es möglich ist, über das Freigeld eine einfältigere Kritik zu schreiben, als sie hier von Lederer »verbrochen« wurde. Offenbar kennt L. vom Freigeld nichts mehr als das Wort, das er irgendeinem Flugblatt entnommen hat. Aber noch offenbarer ist, daß L. vom Geld und von der Währungsfrage überhaupt nicht die geringste Kenntnis hat.
Auf keinem höheren Niveau stehen die Kritiken, die die Professoren: Diehl, Furlan, Kellenberger, Gygax, Liefmann, Sieveking in der Schweizer »Zeitschrift für Schweizerische Statistik« veröffentlichten. Die Geschäftsstelle des Schweizer Freiland-Freigeld-Bundes veröffentlichte die Antwort auf diese Kritik in einer Broschüre, die durch den Freiland-Freigeld-Verlag in Bern und Berlin zu beziehen ist.
Im »Industriebeamten-Verlag« G. m. b. H., Berlin NW. 52, erschien neuerdings eine Broschüre: Das Freigeld, eine Kritik, von Dr. Oskar Stillich, Dozent an der Humboldt-Hochschule, 80 S. Sie ist in der Zeitschrift des Freiwirtschaftsbundes: Die Freiwirtschaft, eingehend besprochen worden.
Bisher haben die an den Theorien der »Natürlichen Wirtschaftsordnung« geübten Kritiken nicht die Notwendigkeit gezeigt, irgend etwas an diesen Theorien zu ändern. Diese Auflage ist darum auch ein unveränderter Nachdruck der vorangehenden. Da es sich im Grunde um ganz einfache und kontrollierbare Dinge handelt, so ist anzunehmen, daß auch in Zukunft am Grundsätzlichen nichts geändert zu werden braucht.
Rehbrücke, den 20. Juni 1923.
Silvio Gesell.
Vorwort Dr. Tandmanns zur 7. Auflage.
Silvio Gesell hat das Erscheinen dieser neuen Auflage seiner »Natürlichen Wirtschaftsordnung« nicht mehr erlebt; am 11. März 1930 ist er in seinem Heim in der Siedelung Eden bei Oranienburg an den Folgen einer Lungenentzündung im Alter von 68 Jahren verstorben. Als wertvollstes Erbe hat er uns dieses Buch hinterlassen.
Seine Vorrede zur vorigen (6.) Auflage hatte er mit den Sätzen geschlossen:
»Bisher haben die an den Theorien der ›Natürlichen Wirtschaftsordnung‹ geübten Kritiken nicht die Notwendigkeit gezeigt, irgend etwas an diesen Theorien zu ändern. Diese Auflage ist darum auch ein unveränderter Nachdruck der vorangehenden. Da es sich im Grunde um ganz einfache und kontrollierbare Dinge handelt, so ist anzunehmen, daß auch in Zukunft am Grundsätzlichen nichts geändert zu werden braucht.«
Diese Annahme wurde seither nicht nur bestätigt, sondern auch noch dadurch bekräftigt, daß Gesells Lehre seit Erscheinen der vorigen Auflage stetig an Verbreitung, Ansehen und Einfluß gewonnen hat. Nicht als ob sein Name schon mit der ihm gebührenden Anerkennung genannt würde; denn die Männer der Wissenschaft können es einem Außenseiter nicht verzeihen, wenn er eine Wahrheit findet, deren Erarbeitung ihr eigener Ehrgeiz hätte sein müssen. So üben sie denn auf ihre Art Vergeltung an dem überragenden Geist des »Laien«, indem sie seine Lehre als Ganzes totschweigen oder kritisch verzerren, während sie Einzelheiten der Lehre, deren Richtigkeit durch den ehernen Gang des wirtschaftlichen Geschehens je länger um so unzweideutiger bestätigt wurde, so behandeln, als seien sie von jeher bekannt und anerkannt gewesen.
Die Verhältnisse brachten es mit sich, daß diese Auflage noch nicht der von Gesell selbst wiederholt verschobenen Neubearbeitung unterzogen werden konnte. Es ist lediglich dasjenige berücksichtigt worden, was nach seinen hinterlassenen Aufzeichnungen als nächste und dringendste Ergänzung in Aussicht genommen war (vgl. III. Teil, Kapitel 14 und IV. Teil, letztes Kapitel). Dazu kommt noch der folgende fragmentarische Entwurf zu einem Vorwort für die 7. Auflage. Meine Tätigkeit als deren Herausgeber, wozu ich von der Familie Gesell berufen wurde, hat sich also in den engsten Grenzen gehalten und sich im wesentlichen darauf beschränkt, das Vorhandene pietätvoll zu bewahren und weiterzugeben.
Vorwort des Verfassers zur 7. Auflage.
(Fragment).
Der Ratlosigkeit der führenden deutschen Kreise steht die Hoffnungslosigkeit der breiten Massen gegenüber. Die Regierung, die Parteien, die Wissenschaftler, voran die Professoren, sind am Ende ihres Lateins, das offenbar nie etwas anderes als Schwindel gewesen ist.
Die Wirtschaftsordnung, die Gesellschaftsordnung, der Staat sind, das sieht man jetzt endlich ein, auf dem Geldwesen, auf der Währung aufgebaut. Mit der Währung steht und fällt der Staat, und zwar nicht nur der Staat, wie ihn die herrschende Schicht zu Herrschaftszwecken errichtet hat, sondern der Staat schlechthin, der Staat der Bureaukraten, der Sozialisten, sogar der »Staat« der Anarchisten. Denn mit dem Sturz der Währung hört jedes höhere Gesellschaftsleben einfach auf, und wir fallen in die Barbarei zurück, wo es keinen Streit um Staatsformen gibt.
Für das, was uns bevorsteht, wenn nicht noch etwas Außergewöhnliches, Unerwartetes geschieht, gebraucht man heute vielfach den Ausdruck »Zusammenbruch«, worunter, dem Wortlaut entsprechend, sich viele einen plötzlichen, kurzen und darum schmerzlosen Vorgang vorstellen, eine Verallgemeinerung des Endes, das viele unserer Altersrentner heute für sich als Lösung des Problems wählen. Aber so beruhigend der Gedanke an einen solchen Zusammenbruch auch ist: es geht nicht an, wir müssen einen solchen »süßen« Traum zerstören und die, die sich ihm überlassen, mit rauher Summe wachrufen. Das ist auch das einzige Mittel, um die Kräfte, die das Rettungswerk benötigt, anzuspornen, zu sammeln und zu mehren. Die Hoffnung auf den Zusammenbruch soll einem Schreck vor dem Zusammenbruch Platz machen, und das wird geschehen, wenn wir den Kopf aus dem Sand ziehen und mit offenen Augen die Entwicklung der Dinge betrachten, wie sie zwangsläufig vor sich gehen wird. Denn was wir von der Zukunft zu erwarten haben, wenn wir weiter wie bisher dem Geschehen tatenlos zuschauen, das ist nicht der Zusammenbruch, wohl aber die Schwindsucht, auch Auszehrung genannt, mit all ihren Schrecken, die, wenn die Vorsehung uns gnädig ist, die galoppierende Form annehmen kann, sonst aber den Todesweg mit einer langen, langen Reihe von Leidensstationen und Martersteinen zu begleiten pflegt.
Wenn wir unfähig bleiben, die Aufgabe, die uns gestellt wurde, zu lösen, so werden wir Stück um Stück unserer staatlichen Selbständigkeit verlieren; die Empörungen und Verzweiflungstaten, die nicht ausbleiben können, werden immer größere Kreise umfassen und immer größere Opfer verlangen, die Hungerrevolten werden kein Ende mehr nehmen, die Regierung wird von links nach rechts und von rechts nach links pendeln, und jeder Pendelschlag wird nur die Verwirrung, die Hilf- und Ratlosigkeit vermehren …
Silvio Gesell.
Vorwort des Herausgebers.
Ebenso wie Gesell konnte auch Landmann die Herausgabe dieser Auflage nicht zu Ende führen. Er starb fast ein Jahr später als Gesell an den Folgen einer Operation.
Als er sich ins Krankenhaus begab, bat er mich um die Fortführung der Arbeiten, die mir dann nach seinem Tode endgültig übertragen wurden.
Die schlimmen Prophezeiungen Gesells sind durch die inzwischen eingetretenen Ereignisse beinahe noch übertroffen worden.
War es bei Erscheinen der vorigen Auflage die Inflation, die alles durcheinander gebracht hatte, so übt jetzt die Deflation ihr zerstörendes Werk an uns allen.
Die Fesseln der Goldwährung sind unerträglich geworden. Schon wird die Goldwährung offen angegriffen. Schritt für Schritt werden Gesells Lehren angenommen. Als Selbstverständlichkeit oder als neue Errungenschaft wird Gesells Kritik der Goldwährung gegen die Golddeckung und den »Goldaberglauben« ins Feld geführt.
Gesell wird dabei öffentlich hin und wieder anerkannt, öfter aber noch verächtlich abgetan, meistens jedoch von heimlichen Schülern garnicht erwähnt. Dabei wissen sie alle keinen Ausweg. Niemand weiß etwas Vernünftiges an die Stelle der Goldwährung zu setzen.
Daß es mit der bloßen Abschaffung der Goldwährung nicht geht, daß man nicht wieder einfach an ihre Stelle die planlose Notenausgabe setzen kann, dafür sorgt die noch frische Erinnerung an die Papiergeldsintflut der Kriegs- und Nachkriegsjahre. Aber auch die vorgeschlagene Deckung durch den Boden, die Waren oder die Arbeitsleistungen ist mit Recht vielen verdächtig, weil sie die zwangsläufige Entwicklung zur uferlosen Geldvermehrung auch bei dieser Deckungsart voraussehen.
So kommt man jetzt in der Währungsfrage um Gesells Vorschläge nicht mehr herum.
Aber auch in der Friedensfrage hat sich alles so zugespitzt, daß man nicht vor- und nicht zurückkann. Die alten Methoden versagen. Die »Sicherheitsfrage« ist nicht zu lösen ohne Freiland, »die eherne Forderung des Friedens«.
Alles drängt zur Entscheidung.
Wer Gesells Lehre erfaßt, wird nicht untätig bleiben können, er wird mit zupacken und die befreienden und gestaltenden Kräfte vermehren, die uns aus dem Hexenring bisheriger Politik, die uns aus erdrückender Enge heraus den Weg nach vorn – ins Freie bahnen.
Hochheim, August 1931.
Hans Timm.
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