2022/12: Niemand hat mit einem solchen Ausmaß an Grausamkeit gerechnet

Erstellt: 20.12.2022, 04:49 Uhr – Von: Lucas Maier

 

Andy Milburn, Kommandant der „Mozart“-Gruppe, spricht über die Strategie Russlands im Ukraine-Krieg und erläutert, was der Westen nun tun muss.

Andy Milburn, Sie sind Kommandant der sogenannten Mozart-Gruppe. Was hat Sie in die Ukraine gebracht?

Anfangs bin ich als freier Journalist in die Ukraine gegangen. Das war in der ersten Märzwoche. Sehr schnell wurde mir klar, dass ich in an anderer Stelle dringender gebraucht werde. Ein befreundeter Oberst der ukrainischen Spezialkräfte hat mich um Unterstützung gebeten. Zu der Zeit begann Russland mit der Belagerung von Kiew.

Sie waren selbst in Kiew zu dieser Zeit. Was war die größte Herausforderung?

Am Anfang des russischen Überfalls lag die Verteidigung im Wesentlichen in den Händen von Zivilisten. Viele wissen das nicht, aber die territorialen Verteidigungseinheiten rekrutierten sich aus der zivilen Bevölkerung. Nicht das ukrainische Militär hat die russischen Soldaten und Panzer aufgehalten und sie am Ende vertrieben, das waren die normalen Leute. Zwei Wochen zuvor waren sie noch Studierende oder Angestellte.


Das ukrainische Militär sah sich nicht nur mit dem russischen Angriff konfrontiert, sondern musste auch die Einheiten der territorialen Verteidigung kampffähig bekommen. Sie mussten bei null anfangen und zunächst lernen, wie man mit den Waffen umgeht. Das galt für die Standardausrüstung genauso wie für spezielle Systeme wie Panzerabwehrwaffen. Letztere spielten bei der Verteidigung von Kiew eine entscheidende Rolle. Um all das zu erlernen, blieb aber nicht viel Zeit.

Ukraine-Krieg: „Sie sind mutig, aber eben ganz frisch“

Wie sieht das heute aus?


Die Zeit für das Training ist immer noch sehr kurz. Die Mehrheit der Rekruten ist nach westlichen Maßstäben ungeschult. Also nicht schlecht oder unzureichend ausgebildet, sondern wirklich ungeschult. Sie sind mutig, aber eben ganz frisch. Die Brigadekommandeure sind sich dessen bewusst, aber sie können ihre Leute nicht für eine längere Zeit von der Front abziehen. Russland greift ständig an. In Cherson und Charkiw wurden zuletzt zwar Erfolge erzielt, aber die unschöne Wahrheit ist, dass die Truppen aus Russland weiterhin auf dem Vormarsch sind.

Um die Lücke an Trainingsmöglichkeiten zu füllen, ist dann die sogenannte Mozart-Gruppe entstanden?

Ja. Ich habe mit einem kleinen Team ehemaliger Marines und Leuten aus der Armee, allesamt Spezialkräfte, eine Trainingsgruppe gebildet. Mit dieser Gruppe haben wir angefangen, Zivilisten für ihren Einsatz in der territorialen Verteidigung zu trainieren. Für die Ausbildung hatten wir teils nur fünf Tage. Das ist ein absurd kurzer Zeitraum. Wir haben in Gruppenstärken zwischen 120 und 150 Personen trainiert. Danach haben die Einheiten das Mozart-Patch erhalten, sind in ihre privaten Zivilwagen gestiegen und nach Butscha gefahren, um dort gegen russische Soldaten zu kämpfen. Das war ungefähr Ende März.

Was waren die größten Schwierigkeiten zu dieser Zeit?

Wir standen einer ganzen Reihe von Herausforderungen gegenüber. Die russischen Streitkräfte überzogen Kiew mit Raketen und Artilleriefeuer. Wir bauten Schießstände und Trainingsareale auf. Die angehenden Einheiten der territorialen Verteidigung mussten lernen, wie man schießt, sich im urbanen Gelände bewegt und im Einsatz kommuniziert. Doch jedes Mal, wenn wir ein solches Trainingsgelände eingerichtet hatten, bekam Russland davon Wind, entweder durch Kollaborateure oder ihre eigene Aufklärung. Die Folge war Artilleriefeuer auf unseren Standort. Es war eine sehr schwierige Situation.