1650-1815: Territorialstaat und Schutzjudentum Wie die Reichsstadt Hamburg so versuchten auch die Territorialherren durch so genannte Judenordnungen das Leben der Juden in ihren Staaten zu regeln und zu schützen. Dies war allerdings mit großen Einschränkungen verbunden.

Arno Herzig –

Moses Mendelssohn (1729-1786) war der bedeutendste jüdische Aufklärer und Philosoph seiner Zeit.
 

Moses Mendelssohn (1729-1786) war der bedeutendste jüdische Aufklärer und Philosoph seiner Zeit.

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Wachstum und neue jüdische Zentren

Nach dem Dreißigjährigen Krieg stieg die Zahl jüdischer Einwohner in Deutschland wieder an, etwa neun Zehntel von ihnen lebten nach 1650 in Kleinstädten und Dörfern, also im ländlichen Bereich. In Baden, Württemberg, Hessen, der bayerischen Pfalz, in Franken und Westfalen hatten sich circa 30 Landjudenschaften herausgebildet. In Norddeutschland ermöglichten der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg und die Landesherren von Holstein die Zuwanderung von Juden aus dem Osten. Als 1670 die Juden aus Wien ausgewiesen wurden, sorgte der Große Kurfürst dafür, dass sich die Wohlhabenden unter ihnen in Berlin ansiedeln konnten, wo seit 100 Jahren keine Juden mehr wohnen durften. Auch die nach 1648 aus Polen geflüchteten Juden fanden in Brandenburg und Holstein eine Bleibe.

Ein neues jüdisches Zentrum bildete sich im Hamburger Raum, wo die Grafen von Schaumburg und später dann die dänischen Könige Juden im damals noch selbstständigen Altona günstige Privilegien verliehen. Einigen von ihnen gelang es, auch in Hamburg Fuß zu fassen, doch die Bürgerschaft der Hansestadt stellte die Niederlassung der Juden immer wieder in Frage. Trotz der Schwierigkeiten konnte sich jedoch 1671 unter dem Altonaer Oberrabbinat die Dreigemeinde Altona-Hamburg-Wandsbek mit einer voll entwickelten jüdischen Infrastruktur bilden, die für die künftige Entwicklung der Juden in Deutschland von großer Bedeutung sein sollte.

Die Sefarden in Hamburg

Eine Besonderheit bildeten in Hamburg um 1600 die Sefarden. Dabei handelte es sich um so genannte Conversos, die in Spanien und Portugal nach 1492 zum Christentum gezwungen worden waren, aber wegen der fortgesetzten Verfolgungen durch die Inquisition nach Amsterdam und Hamburg ausgewandert und dort zum Judentum zurückgekehrt waren. Während sie sich in Amsterdam als Juden frei entfalten konnten – wovon noch heute die prächtige portugiesische Synagoge zeugt -, waren sie in Hamburg Einschränkungen unterworfen. Eine Synagoge durften sie nicht errichten, einen Friedhof konnten sie 1611 nur im benachbarten Altona erwerben.

Die Sefarden definierten sich primär über ihre ethnische Herkunft bzw. soziale Stellung, weniger über ihre jüdische Religion, so dass sie zur aschkenasischen Gemeinde in Altona und Hamburg Distanz wahrten und bis zu ihrer Vernichtung unter dem NS-Regime eine eigene Gemeinde bildeten.

Nicht selten adliger Herkunft verdankten diese sozial hochrangigen Bankiers, Makler, Juweliere, Kaufleute und Ärzte ihre herausragende Stellung vielfach der Position als Residenten oder Konsuln auswärtiger Staaten. Da sie mit ihren Handelsbeziehungen über Spanien in die Neue Welt der Hansestadt nach 1600 zu einem wirtschaftlichen Aufschwung verhalfen, versuchte der Hamburger Rat sie gegen den Widerstand der lutherischen Bürgerschaft in der Stadt zu halten. Der adlige Lebensstil dieser Gruppe und ihre internationalen Verbindungen, auch zu den spanischen Conversos, erregten den Neid und den Hass der einfachen Hanseaten. Im 18. Jahrhundert wanderten deshalb die meisten Hamburger Sefarden nach Amsterdam aus, wo ihnen günstigere Lebensbedingungen geboten wurden.

Einschränkung und Schutz: die Judenordnungen

Wie die Reichsstadt Hamburg so versuchten auch die Territorialherren durch so genannte Judenordnungen das Leben der Juden in ihren Staaten zu regeln und zu schützen. Dies war allerdings mit großen Einschränkungen verbunden. So legten sie die jüdischen Sonderabgaben fest, schränkten die Freizügigkeit ein, verboten weitgehend den Grundbesitz sowie den Zugang zu den Zunftberufen und Kaufmannsgilden. Auch das religiöse Leben bestimmten sie, indem sie den Bau von Synagogen einschränkten und öffentliche Umzüge der Juden untersagten.

Für den Landesherren war es günstiger, wenn die Juden eine Korporation, eine geschlossene Gemeinschaft, bildeten, da er von ihnen auf diese Weise eine Gesamtsteuer und weitere Abgaben verlangen konnte. Die Verteilung hatte die Judenheit unter sich zu regeln. Meist bestellte der Territorialherr jedoch auch einen so genannten Judenvorgänger oder -hauptmann, der vielfach von der Landjudenschaft abgelehnt wurde, da er zu stark sowohl die Interessen des Landesherrn als auch seine eigenen vertrat. Als Korporation musste die Landjudenschaft zudem solidarisch für die Vergehen einzelner Mitglieder haften. Die Aufteilung der Steuersummen auf die einzelnen Mitglieder erfolgte auf den so genannten Judenlandtagen, bei Konflikten vermittelte der Landesrabbiner.

Die für die Entwicklung der Juden in Deutschland wichtigste Judenordnung erließ 1750 der preußische König Friedrich II. (Reg.: 1740-1786). Diese Ordnung privilegierte die Mitglieder der Judenschaft je nach ihrer ökonomischen Stellung unterschiedlich und differenzierte sie damit sozial. Dabei ging es dem König primär darum, die reichen Juden als Fabrik- und Manufakturbesitzer zu fördern, die ärmeren aber möglichst aus seinem Land zu verdrängen.

An erster Stelle standen die Generalprivilegierten, die den christlichen Kaufleuten gleichgestellt waren und als Bankiers, Münzstättenverwalter oder aber Manufakturisten für die wirtschaftliche Entwicklung größten Nutzen hatten.

Als weitere bevorzugte Gruppe galten die ordentlichen Schutzjuden, deren erstgeborene Kinder ebenfalls „vergeleitet“ (also mit einem Geleitbrief zu ihrem Schutz versehen) wurden. So erhielt der älteste Sohn mit dem Schutz das Recht, im Land zu leben, der Zweitgeborene aber musste für diesen Status hohe Summen und Sonderabgaben zahlen.

Dann folgten die außerordentlichen Schutzjuden, deren Kinder nicht vergeleitet wurden, so dass sie in der Regel bei Volljährigkeit das Land verlassen mussten. Außerhalb der eigentlich vergeleiteten Judenschaft standen die Bediensteten, eine sozial nicht genau bestimmbare Gruppe, bei der es sich häufig um nichtvergeleitete Familienmitglieder oder Mitarbeiter in einflussreichen ökonomischen Positionen handeln konnte, wie das Beispiel Moses Mendelssohn zeigt.

Als einer der führenden Philosophen in Preußen war er hauptberuflich als Prokurist in der Seidenmanufaktur des Isaak Bernhard in Berlin beschäftigt und gehörte gleichsam zu dessen Familie. Mendelssohn und seine Frau wurde das außerordentliche Schutzjudenprivileg nur auf Fürsprache anderer Gelehrter in Anerkennung seiner Gelehrsamkeit verliehen. Das Bleiberecht für seine Kinder wurde ihm erst viel später und gegen Zahlung gewährt. Die jüdische Unterschicht stellten die Armen/Verarmten, die von den jüdischen Gemeinden mitgetragen, häufig aber ausgewiesen wurden und sich den herumziehenden Bettlerscharen anschlossen. Dabei glitten sie nicht selten ins kriminelle Milieu ab.

Hoffaktoren – die jüdische Oberschicht

Im Gegensatz zum mittelalterlichen Fernhandel bzw. dem damaligen Stadthandel für das Umland stand im Zeitalter des Merkantilismus die gesamtwirtschaftliche Entwicklung des Territoriums im Vordergrund. Nach Wunsch der Landesherren sollte die Produktion im eigenen Land gesteigert, die geschaffenen Güter aber sollten ins „Ausland“ exportiert werden. Dazu griffen sie auch dirigistisch in die Wirtschaftsabläufe ein. Für die Juden erschlossen sich dabei ertragreiche Tätigkeitsfelder; so für die Generalprivilegierten bzw. Hoffaktoren oder Hofagenten der Handel mit den Fürstenhöfen. Ihre Aufgabe bestand weitgehend in der Warenbeschaffung, Kreditvermittlung, Münzherstellung, bisweilen auch in diplomatischen und politischen Diensten, was nicht ohne Gefahr war. Dies belegt das Schicksal des württembergischen Hofagenten Joseph Süß Oppenheimer. Seine Vorrangstellung unter Herzog Carl Alexander büßte er unter dem Druck der Stände nach dessen Tod 1737 mit der Hinrichtung. Doch war das eher die Ausnahme, denn die Fürsten waren auf die Kredite der Hoffaktoren angewiesen.

Schon seit dem 17. Jahrhundert heirateten die Hoffaktorenfamilien untereinander, um auf diese Weise ein Netz für die Kreditbeschaffung bzw. -sicherung herzustellen. Doch reichten diese Verbindungen wiederum nicht so weit, dass es bei nicht eingehaltenen fürstlichen Verpflichtungen zu einer solidarischen Kreditverweigerung gekommen wäre. Dafür war die Konkurrenzsituation zu stark.

Unter den jüdischen Unternehmern profilierten sich auch einige Frauen. So in Hamburg Glikl Hameln, die aufschlussreiche Memoiren hinterließ. Nach dem Tod ihres Mannes 1689 führte sie erfolgreich das Geschäft mit Gold, Silber, Edelsteinen, Geld und Unzenperlen. Ihre 13 Kinder verheiratete sie strategisch geschickt mit Kindern der Hofagentenfamilien. An der Hochzeit ihrer Tochter Zippora mit dem klevischen Hofagenten Kosman Gomperz 1674 nahm sogar der preußische Prinz und spätere König Friedrich (I.) teil. Unter den erfolgreichen Hofagenten in Berlin, Kassel, München und Mainz befanden sich mindestens sieben Frauen, darunter die durch ihren Aufstieg aus kleinen Verhältnissen zu einer einflussreichen Finanzagentin bekannte Karoline Raphael, genannt „Madame Kaulla“. Vielfach passten sich die jüdischen Hofagenten dem höfischen Lebensstil in Kleidung und Haartracht an, gaben aber ihre Verbindungen zu den jüdischen Gemeinden ihres Landes nicht auf. Für diese erreichten sie beim Fürsten manche Privilegien. Im Übergang von der Ständegesellschaft zur kapitalistischen Klassengesellschaft zu Beginn des 19. Jahrhunderts konnten sich viele Hoffaktoren im Bankgeschäft etablieren. Manche stiegen in den Adel auf, mussten aber dafür zuvor zum Christentum konvertieren.

Händler – die jüdische Mittelschicht

Unterhalb der jüdischen Oberschicht bildete sich ein jüdischer Mittelstand, dessen Mitglieder außerhalb der Zunftwirtschaft im Manufakturgewerbe und im Handel mit Kolonialprodukten sowie als Zwischenhändler neue Tätigkeitsbereiche fanden.

Ihre Risikobereitschaft und die damit verbundenen Erfolge riefen wiederholt Kritik und auch Feindseligkeit sowohl der etablierten Kaufmannschaft wie der einfachen Bevölkerung hervor. Diese vertraten den Grundsatz, dass erst die Versorgung der Bevölkerung sicher gestellt werden müsse, bevor Lebensmittel ins „Ausland“ verkauft werden dürften. Verstießen die Exporteure dagegen, kam es zu sozialem Protest, die Protestierenden verteilten die Exportgüter zum „gerechten Preis“ unter sich. Mitunter konnte diese Verteilung in Plünderungen ausarten, wie 1699 in Bamberg. Hier drang das „liederliche Gesindel“ – so die Bezeichnung im amtlichen Protokoll – in die Häuser der jüdischen Zwischenhändler ein und zerstörte deren Inventar. Trotz Militäreinsatz setzte sich der Protest bis ins Umland fort, wo sich ihm die Bauern anschlossen, die den in ihren Dörfern wohnenden Juden Geld, Gold und Schmuck wegnahmen, weil es sich angeblich um Wuchergut handele.

Die bischöfliche Regierung versuchte die Situation zu retten, indem sie eine „Einschränkung der Juden-Gewerbschaften“ verfügte. Doch dies erwies sich als kurzsichtig und führte zum Zusammenbruch der Agrarwirtschaft im Bamberger Land. Die Bauern konnten ihr Vieh nicht mehr wie bisher an die jüdischen Viehhändler verkaufen. 1713 musste deshalb eine bischöfliche Verordnung das Scheitern dieser Politik eingestehen und einräumen: „Was die Christen nicht führen und handeln können oder wollen, absonderlich auf dem Land, das solle dem Juden erlaubt seyn“.

Unterstützung der jüdischen Unterschicht

Mochte eine respektable Gruppe des jüdischen Mittelstands relativ wohlhabend sein, so existierte doch auch eine Unterschicht, die durch Klein-, Trödel- und Hausierhandel ihr Dasein fristete und ständig in Gefahr lebte, in Armut und damit Schutzlosigkeit abzusteigen. Zu den Grundsätzen jüdischer Ethik gehört die Mildtätigkeit, zu der sowohl die Gemeinde wie der Einzelne verpflichtet sind.

Als nach dem Siebenjährigen Krieg (1756-63) immer mehr Juden verarmten, da von den Juden hohe Sonderabgaben verlangt wurden und der Handel unter den Kriegszügen litt, kam auf die Gemeinden eine schwere Aufgabe zu. Deutlich wird dies am Beispiel der kleinen jüdischen Gemeinde im fränkischen (Reichsdorf!) Gochsheim nahe Schweinfurt. Obwohl das Gesamtvermögen der dortigen 26 jüdischen Haushalte in den 1780er Jahren nur 7200 Gulden betrug, versorgten und beköstigten sie im Laufe des Jahres 1200 jüdische Bettler und Bettlerinnen, die in das Dorf kamen. Für diese Unterstützungsmaßnahmen wandten sie einen Betrag von 350 Gulden auf, immerhin fünf Prozent des Gesamtvermögens aller Mitglieder dieser Gemeinde, wobei die Hilfe für die in der eigenen Gemeinde wohnenden Bedürftigen noch nicht einmal berücksichtigt war.

Letztlich ist dies auch ein Beweis dafür, wie gut das soziale und geistliche Leben der Landgemeinden funktionierte und sich weitgehend unabhängig von äußeren Einflüssen entfalten konnte. Garantierte im Mittelalter die städtische Gemeinde die Infrastruktur der Judenheit, so war es nun der Verband der Landgemeinden, die zumeist in den Grenzen des frühneuzeitlichen Territorialstaates zusammengeschlossen waren. Diese Landjudenschaften besaßen ihre eigenen Selbstverwaltungsorgane mit einem Obervorsteher an der Spitze, der auf den so genannten Judenlandtagen durch die männlichen Gemeindemitglieder gewählt wurde.

Kontroversen und Verunsicherungen

War das deutsche Judentum in seiner Gemeinde- und Verwaltungsstruktur gefestigt, so fehlte es doch nicht an inneren Verunsicherungen, in denen alte Ängste auflebten und in messianische Erwartungen umschlugen. Viele Juden in Deutschland – sogar die Sefarden in Hamburg – sahen in dem 1665 in der Türkei auftretenden Sabbatai Zwi den Messias. Ihre Hoffnungen schlugen allerdings in Enttäuschung um, als Sabbatai zum Islam übertrat. Dennoch bildete sich eine kleine jüdische Sekte, die weiterhin an ihn als Messias glaubte, aber nur als Geheimsekte agieren konnte. Zum Konflikt wegen Sabbatai Zwi und zu einer neuen Krise des Judentums in Deutschland kam es jedoch erst 100 Jahre nach seinem Auftreten im so genannten Hamburger Amulettenstreit.

Dem im aschkenasischen Judentum hochangesehenen Oberrabbiner der Dreigemeinde Altona-Hamburg-Wandsbek Jonathan Eibeschütz warf in den 1750er Jahren der in Altona lebende Talmudist und Druckereibesitzer Jakob Emden vor, im Geheimen die Irrlehren des Pseudomessias Sabbatai Zwi zu verbreiten. Eibeschütz hatte angeblich an Schwangere Amulette mit Sabbataiischen Symbolen verteilt. Dies führte zu einer mehrjährigen Kontroverse, in die zahlreiche aschkenasische Rabbiner in Deutschland und Polen auf der einen oder anderen Seite verstrickt waren. Die Folge war eine Spaltung des traditionellen Judentums und ein Ansehensverlust des Rabbinerstandes.

Dieser war bereits in der Frühaufklärung in die Kritik geraten, da viele Rabbiner, vor allem diejenigen aus Osteuropa, das Judentum als geschlossenes kulturelles System vermittelten, das sich gegen die europäische Kultur abschottete. Diese Rabbiner ließen nur das durch Talmud, Tora und die Responsen tradierte Wissen gelten und sperrten sich gegen die europäische Aufklärung, die im 18. Jahrhundert zu einem enormen Aufschwung der Naturwissenschaften und der Philosophie führte. Im Gegensatz zum sefardischen Judentum stand das traditionelle aschkenasische Judentum dieser Entwicklung distanziert gegenüber.

Antijudaismus im 18. Jahrhundert

Allerdings war auch die deutsche bzw. europäische christliche Gesellschaft bei aller Begeisterung für die Aufklärung dem Judentum gegenüber nicht toleranter geworden. In allen drei christlichen Konfessionen, im Katholizismus, Luthertum und Calvinismus, herrschte eine latente Judenfeindschaft, die sich sowohl im gelehrten Schrifttum wie in gelegentlichen antijüdischen Aktionen zeigte. Im katholischen Volk glaubte man nach wie vor an die Blutschuldlüge sowie an den von Juden angeblich begangenen Hostienfrevel und pilgerte zu den entsprechenden Wallfahrtsorten, wie ins bayerische Deggendorf sowie ins niederösterreichische Pulkau; die Kirche sprach die angeblich von Juden ermordeten Kinder selig.

Die protestantischen Christen wiederum warfen den Juden vor, das Christentum zu verspotten, indem diese die Dreifaltigkeit Gottes als Vielgötterei ansahen und auf die uneheliche Geburt Jesu hinwiesen. Noch im 18. Jahrhundert kam es in protestantischen Gemeinden zu lokalen Verfolgungen von Juden, wie beispielsweise im westfälischen Iserlohn. Dort wurden die Juden zum Opfer der Auseinandersetzungen zwischen Lutheranern und Calvinisten, in denen die Lutheraner den Calvinisten vorwarfen, diese teilten den Zweifel der Juden an der Auferstehung Jesu. Dass ein solches Einverständnis nicht gegeben war, belegt jedoch das 1711 auf Veranlassung eines calvinistischen Landesherrn gedruckte Werk „Entdecktes Judenthum“. Dessen Autor, der calvinistische Heidelberger Orientalist Johann Andreas Eisenmenger, lieferte auch künftigen Generationen durch seine aus dem Zusammenhang gerissenen Talmud-Zitate pseudowissenschaftliche Argumente gegen das Judentum. Selbst der Vorwurf der Brunnenvergiftung und des Ritualmords wurde hier nach wie vor vertreten.

Impulse der Aufklärung

Doch im Zeichen der Aufklärung trat eine kleine Gruppe von Dichtern und Autoren der traditionellen Judenfeindschaft entgegen. In Romanen und auf der Bühne stellten sie Juden nun nicht mehr – wie bis dahin üblich – als Schurken dar, sondern als normale (oder gar) vorbildliche Menschen. Der Dichter Gotthold Ephraim Lessing schuf mit seinem Werk „Nathan der Weise“ 1779 das Modell eines gelungenen Umgangs der großen Weltreligionen miteinander. In seiner Ringparabel werden alle Religionen als gleichrangig angesehen und beweisen ihren inneren Wert und ihre Wahrheit durch die Menschlichkeit, die sie den anderen erweisen.

Es ist ein Schlüsseltext der religiösen Toleranz, der sich allerdings nur eine kleine Schar verpflichtet fühlte. Auch im politischen Raum wurden Modelle für eine allmähliche Gleichstellung der Juden in der Gesamtgesellschaft entwickelt. Das in dieser Beziehung epochale Werk „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden“ verfasste auf Bitte seines Freundes Moses Mendelssohn 1781 der preußische Beamte Christian Wilhelm von Dohm. Schon der Titel macht deutlich, dass Dohm nicht für die sofortige Gleichstellung, also Emanzipation, der Juden eintrat.

Erst wenn die Juden sich in ihrer Sozialstruktur der christlichen Mehrheitsgesellschaft angepasst hätten, sollten sie die volle Gleichberechtigung erlangen. Dohm forderte deshalb die Öffnung auch der zünftischen Handwerksberufe für jüdische Anwärter. Als Anhänger des Physiokratismus, der die Schaffung von Mehrwert nur durch die Landwirtschaft gewährleistet sah, verlangte er vor allem den Zugang zu den bäuerlichen Berufen, in denen damals die meisten Beschäftigten arbeiteten. Skeptisch stand er den Handelsberufen gegenüber. In die inneren Angelegenheiten des Judentums, auch was die Stellung der Rabbiner betraf, sollten sich Staat und Gesellschaft seiner Meinung nach nicht einmischen.

Die Reaktion auf Dohms Schrift in Deutschland, auf die er in der Neufassung von 1783 einging, zeigt einerseits, wie klein die aufgeklärte Elite war, die sich mit Dohms Vorschlägen befasste, andererseits aber auch, wieweit selbst diese noch geistig von seinen Vorstellungen entfernt war. Es wurden Vorbehalte geäußert, die bis weit ins 19. Jahrhundert immer wiederkehren: beispielsweise das Argument, in einem „christlichen Staat“ dürften Juden kein Amt ausüben, oder der Hinweis auf die jüdischen „Sondereigenheiten“. Deutlich wird in dieser Diskussion, dass die deutschen Aufklärer nicht bereit waren, Juden als Juden zu akzeptieren.

Sie sollten ihre jüdische Sprache, ihr Äußeres, ihre Geschäftspraktiken, ihre orthodoxe Religionsauffassung ablegen und sich „nach den Sitten der Christen umbilden“, wie es 1788 der aufgeklärte Schriftsteller Freiherr Knigge in seinem Buch „Über den Umgang mit Menschen“, einem für Generationen gültigen Anstandsbuch, formulierte. Hier wird deutlich ausgesprochen, was dann unter der bürgerlichen Gleichheitsforderung zum Problem werden sollte: die Unfähigkeit, Minderheiten und ihre Subkultur zu tolerieren.

Die jüdische „Insonderheit“, so sahen es wie Dohm die meisten deutschen Aufklärer, war verursacht worden durch die Einschränkungen, die die christliche Gesellschaft den Juden auferlegt hatte. Sie war zu beseitigen, wenn man diese Einschränkungen aufhob und die Juden in einem allmählichen Entwicklungsprozess an die durch die Aufklärung bestimmte Gesellschaftsordnung anglich. Trotz aller Einschränkungen und Vorbehalte ermöglichte die Gesellschaft damit aber, zumindest in der Theorie, den Juden eine seit Jahrhunderten verwehrte Integration in die Allgemeingesellschaft.

Moses Mendelssohn – ein jüdischer Aufklärer

Auch im Judentum fand das durch die Vernunft bestimmte Denken Anhänger. Diese erlangten vor allem in Berlin Zugang zu den bürgerlichen Aufklärungszirkeln. Vielfach waren es jüdische Frauen, in deren Salons sich jüdische wie christliche Intellektuelle, Bürgerliche und Adlige versammelten. Die jüdischen Aufklärer, so genannte Maskilim, wurden zu Trägern eines neuen philosophischen Verständnisses jüdischer Kultur. Auch das orthodoxe Judentum, wie es sich vor allem durch die Rabbiner präsentierte, wurde hinterfragt. Der bedeutendste der Maskilim, Moses Mendelssohn, vertrat wie die christlichen Aufklärer die Auffassung, dass der Mensch aufgrund seiner Vernunft Gott erkenne, nicht aber durch die göttliche Offenbarung (Glaube).

Mit seinem Werk wie zum Beispiel dem „Phaidon oder die Unsterblichkeit der Seele“ (1767) hatte er großen Einfluss auf die zeitgenössische Philosophie, so dass er sogar zum Mitglied der preußischen Akademie der Wissenschaften gewählt wurde. Der preußische König Friedrich II. verweigerte allerdings die Bestätigung. Der jüdischen Gemeinde und den Geboten des Judentums blieb Mendelssohn treu. Im Gegensatz zu Dohms Forderung kritisierte er allerdings die Macht der Rabbiner im Judentum, beispielsweise ihre Möglichkeit, Gemeindemitglieder durch den Bann auszuschließen.

Das Zusammenleben von jüdischer Minderheit und christlicher Mehrheitsgesellschaft stellte sich für die jüdischen Aufklärer des ausgehenden 18. Jahrhunderts problemlos dar: Die jüdische Nation sollte sich auf der Basis ihrer Vernunftreligion, wie sie Mendelssohn vertrat, zu moralisch vorbildlichen Bürgern und nützlichen Gliedern des Staates entwickeln. In Freischulen, die auf Initiative der jüdischen Aufklärer hin gegründet wurden, sollten jüdische Kinder aller Schichten in allgemein bildenden Fächern und jüdischer Religionslehre für ihr Berufsleben erzogen werden. Und sie sollten sich, wie Dohm es forderte, in ihrer Sozialstruktur der Allgemeingesellschaft anpassen. Hier vertrat allerdings Mendelssohn, im Gegensatz zu Dohm, die Auffassung, dass der Handelsberuf durchaus nützlich und deshalb nicht aufzugeben sei. Dem jüdischen Bürgertum in Deutschland wäre im 19. Jahrhundert wohl kaum der beispiellose soziale und kulturelle Aufstieg gelungen, hätten nicht die Maskilim den Weg dafür vorbereitet. Es sollte allerdings noch Generationen dauern, bis die Gleichstellung der Juden schrittweise in die Realität umgesetzt wurde.

Unvollendete Emanzipation

Einen ersten Schritt tat Kaiser Joseph II. 1782 in seinen österreichischen Kronländern. Sein Toleranzedikt hob, je nach Landesteil unterschiedlich, das Niederlassungsverbot für Juden auf. Sie durften Handwerke erlernen und sich in freien Berufen betätigen. Zudem sollten jüdische Kinder die öffentlichen Schulen besuchen.

Hatten in Frankreich 1791 die Juden die volle Gleichstellung erreicht, so galt dieses Recht auch für alle deutschen Territorien, die nach der Französischen Revolution unter direkter Herrschaft Frankreichs standen bzw. als so genannte Modellstaaten das französische Recht übernahmen, wie beispielsweise seit 1808 das Großherzogtum Berg mit Düsseldorf als Metropole sowie das Königreich Westphalen mit Kassel als Hauptstadt.

Inzwischen hatte allerdings Napoleon I. 1808 durch sein „Schändliches Dekret“ die Gleichstellung für Juden insofern geschmälert, als er deren Handel unter staatliche Aufsicht gestellt und ihre Mobilität eingeschränkt hatte. Napoleon I. berief 1806 eine jüdische Notablenversammlung (Notablen, durch Bildung, Rang und Vermögen ausgezeichnete Mitglieder der bürgerlichen Oberschicht in Frankreich) ein, die die Rolle des Judentums im Staat definieren sollte.

Sein jüngster Bruder Jerôme richtete als König von Westphalen in Kassel ein jüdisches Konsistorium unter dem ehemaligen Hofagenten Israel Jacobson ein, das das jüdische Gemeindeleben zentral organisieren sollte.

Die anderen nicht von Frankreich abhängigen deutschen Staaten folgten mit einer mehr oder weniger weitreichenden Tolerierung ihrer Juden. Preußen erließ für die ihm nach dem Frieden von Tilsit verbliebenen Provinzen 1812 ein eingeschränktes Emanzipationsedikt, das die Juden zu „Einländern und preußischen Staatsbürgern“ erklärte. Zwar sollte ihre Zulassung zu öffentlichen und staatlichen Ämtern erst durch eine spätere Gesetzgebung festgelegt werden, doch konnten sie sich damit uneingeschränkt wirtschaftlich betätigen, um nach der preußischen Niederlage von 1806 zum Wiederaufbau des Staates beizutragen.

Dennoch erfüllten die in mehreren deutschen Staaten nach 1800 erlassenen so genannten Emanzipationsgesetze nicht die Forderungen der Aufklärung.