Wenn ich durch mein Revier gehe, dann sehe ich oft leidende Eichen. Und sie leiden teilweise wirklich sehr. Ein untrügliches Zeichen sind die Angstreiser am Stamm, kleine Zweigbüschel, die ringsherum sprießen und oft rasch wieder verdorren. Sie zeigen, dass sich der Baum in einem lang andauernden Todeskampf befindet und in Panik gerät.

 

Sinnvoll ist dieser Versuch, so tief unten Blätter zu bilden, nicht. Denn die Eiche ist eine Lichtbaumart, brauchtes also sehr hell, um Fotosynthese betreiben zu können. Im Dämmerlicht der unteren Etage bringen ihre Sonnensegel nichts, und überflüssige Ausrüstung wird schnell wieder abgeschafft. Ein gesunder Baum versucht gar nicht erst, Energie in die Bildung solcher Zweige zu stecken, sondern dehnt sich lieber oben in der Krone weiter aus. Zumindest, wenn er in Ruhe gelassen wird. Doch Eichen haben es in mitteleuropäischen Wäldern schwer, denn hier ist die
Heimat der Buche. Diese ist zwar unglaublich sozial eingestellt, allerdings nur gegenüber Artgenossen. Fremde Bäume werden massiv bedrängt, damit sie weichen. Das fängt ganz langsam und harmlos an, indem ein Eichelhäher eine Buchecker am Fuße einer mächtigen Eiche vergräbt. Da er genügend andere Depots angelegt hat, bleibt sie unberührt und keimt im kommenden Frühjahr. Ganz langsam wächst sie über viele Jahrzehnte still und heimlich nach oben.

 

Zwar fehlt dem jungen Baum die Mutter, doch zumindest Schatten kann die Alteiche spenden und hilft damit, den Buchennachwuchs schön langsam und gesund aufzuziehen. Was oberirdisch harmonisch aussieht, entpuppt sich unterirdisch als beginnender Existenzkampf.
Die Wurzeln der Buche drängen sich in jede Lücke, die die Eiche nicht nutzt. So unterwandert sie den alten Stamm und schnappt sich Wasser und Nährstoffe, die der große Baum eigentlich für sich reserviert hatte. Das bewirkt eine schleichende Schwächung. Nach rund 150 Jahren hat der kleine Baum sich so weit gestreckt, dass er langsam in die Krone der Eiche hineinwächst. Hinein, und nach weiteren Jahrzehnten hindurch und vorbei, denn im Gegensatz zur Konkurrenz kann er praktisch lebenslang seine Krone ausbauen und weiter wachsen.

 

Nun bekommen die Buchenblätter direktes Sonnenlicht, sodass der Baum jede Menge Energie hat, um sich breitzumachen. Er bildet eine prachtvolle Krone, die artentsprechend 97 Prozent des Sonnenlichts einfängt. Die Eiche findet sich in der zweiten Etage wieder, wo ihre Blätter vergeblich nach Licht schnappen. Die Zuckerproduktion geht drastisch zurück, die Reserven werden verbraucht, und langsam verhungert der Baum. Er merkt, dass er sich nicht mehr gegen die starke Konkurrenz durchsetzen kann, dass es ihm nie wieder gelingen wird, lange Höhentriebe zu bilden und doch noch einmal über die Buche zu kommen. In seiner
Not, vielleicht sogar aufflammender Panik, macht er etwas, was gegen jede Regel verstößt: Er bildet neue Zweige und Blätter tief unten am Stamm. Diese Blätter sind besonders
groß und weich, sie vermögen mit weniger Licht auszukommen als jene aus dem Kronenbereich. Dennoch sind drei Prozent zu wenig, eine Eiche ist eben keine Buche. Folglich verdorren diese Angstreiser wieder, und die wertvolle verbleibende Energie ist nutzlos verpulvert. In diesem Stadium des Verhungerns kann die Eiche weitere Jahrzehnte verharren, doch irgendwann gibt sie auf. Ihre Kräfte erlahmen, doch manchmal erlöst sie der Prachtkäfer.
Er legt seine Eier auf die Rinde, und die schlüpfenden Larven machen kurzen Prozess, indem sie seine Haut zerfressen und dem Leben des wehrlosen Baums ein Ende machen.

 

Ist die Eiche nun ein Weichei? Wie kommt es, dass ein derart schwacher Baum zum Symbol von Standhaftigkeit und Dauerhaftigkeit werden konnte? So unterlegen diese Art in den meisten Wäldern gegenüber der Buche sein mag, so zäh kann sie auftreten, wenn sie ohne Konkurrenz bleibt.

 

Etwa im Freiland, also unserer Kulturlandschaft: Während die Buche ohne die heimelige Waldatmosphäre kaum das Alter 200 zu überschreiten vermag, bringt es die Eiche
neben alten Bauernhöfen oder auf Weiden locker auf über 500 Jahre. Eine tiefe Wunde im Stamm oder ein breiter Riss, den ein Blitz schlug? So etwas kann einer Eiche nichts
anhaben, denn ihr Holz ist getränkt mit pilzhemmenden Stoffen, die Fäulnisprozesse stark verlangsamen. Die Gerbstoffe schrecken auch die meisten Insekten ab, und ganz nebenbei und ungewollt verbessert dieses Abwehrmittel auch den Geschmack von Wein
(»Barriquewein«), wenn aus dem Baum irgendwann ein Eichenfass geworden ist. Selbst schwer geschädigte Exemplare mit abgebrochenen Starkästen haben die Fähigkeit, wieder eine Ersatzkrone aufzubauen und noch Jahrhunderte zu überleben.

 

Das würden die meisten Buchen nicht schaffen, schon gar nicht außerhalb der Wälder und ohne ihre geliebte Verwandtschaft. Werden sie durch einen Sturm ramponiert, dann zählt ihre
verbleibende Lebensspanne höchstens noch ein paar Jahrzehnte. Auch in meinem Revier beweisen Eichen, dass sie aus extrem zähem Holz geschnitzt sind. An einem besonders
warmen Südhang stehen etliche Bäume, die sich mit ihren Wurzeln in den nackten Fels krallen. Wenn die Sommerhitze das Gestein unerträglich aufheizt, verdunsten die letzten Reste von Wasser. Im Winter dringt klirrender Frost tief ein, weil eine schützende dicke Erdschicht mit
einer mächtigen Lage verrottender Blätter fehlt. Die weht schon der kleinste Wind herunter, sodass sich lediglich ein paar karge Flechten ansiedeln, die aber kaum gegen Temperaturextreme isolieren. Das Resultat: Die Bäume oder besser Bäumchen sind nach einem Jahrhundert nur armdick und kaum höher als fünf Meter. Wo ihre Artgenossen in heimeligem Waldklima schon die 30 Meter überschritten haben und mächtige Stämme bilden, da harren diese Asketen genügsam aus und begnügen sich mit dem Status von Sträuchern. Aber sie überleben! Der Vorteil dieser Hungersituation ist der, dass andere Arten hier längst aufgeben mussten. Ein entbehrungsreiches Dasein, das dafür frei von den Sorgen um die Konkurrenz anderer Baumarten ist, hat eben auch seine Vorteile.

 

Die dicke Borke der Eiche ist übrigens viel robuster als die glatte, dünne Haut der Buche und wehrt so manchen äußeren Feind ab. Sie hat sogar ein Sprichwort hervorgebracht: »Was schert es eine alte Eiche, wenn sich ein Wildschwein an ihr scheuert?«