Beide Seiten der Front: 3. Ostwärts: Nach dem Angriff - 3.2 Patrick Baab's Reise in die Ukraine: "Auf beiden Seiten der Front". 3.2. Rostow: Blaue Briefe in der Provinz
3.2. Rostow: Blaue Briefe in der Provinz
Am Kasaner Bahnhof steigen wir um 23 Uhr in den Nachtzug nach Rostow. 25 Stunden im Zweier-Coupé liegen vor uns. Ein alter sowjetischer Zug, in jedem Wagen gibt es eine Zugbegleiterin und vor ihrem Abteil einen Samowar für frischen Tee, im Speisewagen Borschtsch und Bier und bald die ersten Schnapsnasen. Durch die Toilette sehe ich die Gleise vorbeirauschen. In einem Wagen der dritten Klasse reist eine Schulklasse aus dem 5 000 Kilometer entfernten Altai-Gebirge in Sibirien, nahe der Grenze zu Kasachstan und zur Mongolei. Fast eine Woche sind sie mit dem Zug unterwegs, um auf Staatskosten am Schwarzen Meer noch einmal Sonne zu tanken, während zu Hause bereits der erste Schnee gefallen ist.
Am nächsten Morgen macht der Zug Halt in Rossosch. Die Fahrgäste steigen aus und vertreten sich die Beine. Babuschkas mit Körben verkaufen Fresspakete, Saft und belegte Brötchen. An den Bahnknotenpunkten stehen Güterzüge mit Hunderten fabrikneuen Panzern T-72, aber auch Schützenpanzer RMP und Kamas-Lkw. In Kamensk-Schachtinski weiter südlich sehen wir T-62-Panzer auf den Zügen, offensichtlich für Truppen aus Abchasien, die in ihren Streitkräften noch alte Panzer haben. Dies zeigt, dass Russland noch lange nicht am Ende ist. Tatsächlich stellt sich Moskau auf einen langen, verlustreichen Abnutzungskrieg ein; das Land hat sich jahrelang auf diesen Krieg vorbereitet.(82) Als wir die Grenze zu Luhansk passieren, melden russische Radiosender: Teilmobilmachung. Was passiert hier gerade? Wir rätseln. Gegen 22:30 Uhr erreichen wir völlig erschöpft Rostow am Don, nach mehr als einem Tag und etwa tausend Kilometern Zugfahrt. Doch nach dem kalten Regen in Moskau freuen wir uns über die südliche Wärme. Bereits in der Antike befand sich hier in der Nähe die griechische
Kolonie Tanais. Im 18. Jahrhundert wurden die Osmanen von den Russen vertrieben. Kohle aus dem Donbass und Eisenerz aus Krywyj Rih in der Ukraine befeuerten eine frühe Industrialisierung. Bereits 1846 entstand eine Eisengießerei, und ab 1859 wurden Dampfkessel und – pumpen hergestellt. Heute kreuzen sich hier Schienenstränge und Handelswege von Norden über den Don zum Asowschen Meer oder über die E 50 nach Wladikawkas und Tiflis. Noch immer ist die Region eng mit dem Donbass verbunden, noch immer ist sie das kommerzielle Zentrum im Süden Russlands. Mehr als eine Million Menschen leben hier; eine moderne russische Großstadt. Wir nehmen ein Taxi zum Hotel Benamar etwas außerhalb des Zentrums. Der Fahrer ist Mitte 30. Unterwegs erzählt er, dass die russischen Behörden bereits vor zwei Monaten die Wehrtauglichkeit der Reservisten überprüft hätten. Privatpersonen und Unternehmen wurden telefonisch nach Informationen über Ausbildung, Familienstand, Arbeitsplatz und Aufenthaltsort gefragt. Schon gestern, einen Tag vor der Verkündung der Teilmobilmachung, seien die Anrufe der Armee oder die blauen Briefe mit den Einberufungsbescheiden gekommen. Wenn das stimmt, dann war seit zwei Monaten klar, was da kommt. Die Teilmobilmachung von 300 000 Reservisten war von langer Hand vorbereitet. Die Einberufung war also keine Reaktion auf die jüngsten ukrainischen Geländegewinne im September. Es scheint vielmehr, dass die ukrainische Offensive ein Versuch war, diesem Schritt zuvorzukommen und schnell noch Gelände zu gewinnen.
Aber was hat dann die Teilmobilmachung ausgelöst? Das ist für uns keine banale Frage. Wenn die Ukrainer durchbrechen, könnten wir im Donbass in Kampfhandlungen verwickelt werden. Ohnedies gelangen wir in den Einzugsbereich der HIMARS-Raketenwerfer und der 777-Haubitzen. Umgekehrt wird die russische Allianz aus Russischer Föderation sowie den Volksrepubliken Luhansk und Doniezk alles versuchen, an der nunmehr verkürzten Frontlinie die Ukrainer in einen Abnutzungskampf wie in Bachmut hineinzuziehen oder im Donbass eine neue Offensive zu starten. (83)
Wer die Gefahr kennt, kann ihr ausweichen. Wir können das nicht. Der Fahrer lenkt den Wagen über die Bolschaja Sadowaja am Gorki-Park vorbei, wo Birken die Blumenbeete mit Skulpturen säumen und das Denkmal der Oktoberrevolution umgeben. Ein weißer Betonbogen überwölbt das gelb-blaue Kassenhäuschen, dahinter befinden sich Spielgeräte für Kinder wie auf einem Jahrmarkt. Auf den ersten Blick scheint es, als würde Moskau mit der Teilmobilmachung auf die militärischen Erfolge der Ukrainer im Raum Charkiw reagieren. Dort konnten sie beträchtliche Geländegewinne erzielen. Doch
die russische Koalition wollte sich nicht auf einen Häuserkampf einlassen und zog schon vor der ukrainischen Offfensive ihre Truppen ab. Stattdessen konzentrierten sie ihre Einsatzkräfte im Donbass, ihrem eigentlichen Operationsziel. Offensichtlich war damals schon klar, dass in Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson Referenden organisiert werden sollen.
Militära-Analysten sind sich einig: Die ukrainische Offensive endete mit einem Pyrrhussieg. Sie schätzen die Verluste der Ukrainer allein in der Region Charkiw auf 4000 bis 5000 Mann, was etwa zwei Brigaden entspricht. Beim Angriff auf Cherson sollen nach Darstellung der russischen Seite in den ersten drei Septemberwochen etwa 7 000 Soldaten getötet worden sein. Eine Bestätigung dafür gibt es nicht, aber es ist klar, dass die Verluste hoch waren. Politisch gesehen handelt es sich dennoch um einen strategischen Sieg der Ukrainer, denn sie konnten die größten Geländegewinne seit 2014 erzielen, die vermeintliche Niederlage der Russen als Erfolg ausschlachten und der Hoffnung auf einen Sieg in der politischen Öffentlichkeit des Westens neuen Auftrieb geben. Aus militärischer Sicht konnte die russische Koalition jedoch ihre Verteidigungslinie verkürzen und insbesondere im nördlichen Donbass festigen. Ihr Ziel ist es, die Bedrohung für den Donbass durch »Entmilitarisierung« zu beenden. Mit anderen Worten: Die Ukrainer wollen Boden gutmachen, die Russen militärische Fähigkeiten zerschlagen. Gelände kann man sich zurückholen – tote Soldaten nicht.(84)
Russland hat mit etwa 200 000 Soldaten die Ukraine überfallen. Mitgezählt sind dabei auch die Donbass-Milizen, die den größten Teil der Kampfhandlungen ausführen. Diese Zahl ist deutlich geringer als das, was Militärs für eine erfolgreiche Offensive als notwendig erachten – sie schätzen den Bedarf auf eine dreifache Überlegenheit. Offenbar hat sich die russische Koalition auf ihr taktisches Können verlassen und tauscht ihre Truppen schneller aus. Die Referenden und der Anschluss der vier Oblaste an die Russische Föderation haben die Staatsgrenze aber um etwa 1000 Kilometer erweitert. Dies erfordert ein robusteres Verteidigungssystem, mehr militärische Einrichtungen, eine komplexere Logistik und eine größere Anzahl an Soldaten, als Russland derzeit an Berufssoldaten hat. Im September 2022 hatte Russland etwa 300000 Grundwehrdienstleistende, 220000 dauerhaft verpflichtete Offiziere und 400 000 Zeitsoldaten unter Waffen. Vor allem Letztere waren bislang in der Ukraine im Einsatz. Militärexperten sind sich einig, dass die Teilmobilisierung dazu dient, zusätzliche Kräfte für die Absicherung und Kontrolle der neuen Gebiete zu rekrutieren. Das Ziel ist es, die Eroberungen als russisches Gebiet gegen jeden Angriff zu verteidigen – ein Übergang von der Offensive zur Defensive.(85)
All dies bedeutet: Spätestens Anfang Juli 2022 muss die Entscheidung für die Referenden gefallen sein. Hatte es Putin nicht immer abgelehnt, Teile der Ukraine der Russischen Föderation anzugliedern? Was hat diesen Sinneswandel verursacht? Ich denke zurück: Ende Februar gab es einen Vorstoß des ukrainischen Präsidenten für Verhandlungen, dem Moskau zustimmte. Nicht so die Europäische Union – sie lieferte eine erste Tranche Waffen im Wert von 450 Millionen Euro. Im März bietet Wolodymyr Selenskyj erneut Gespräche an, wieder zeigten sich die Russen bereit, und wieder verhinderte dies die EU mit einer zweiten Tranche im Wert von 500 Millionen Euro.
Dennoch waren Ende März die Unterhändler in Istanbul bereits fast zu einer Einigung gekommen. Danach hätte die Ukraine im Wesentlichen ihr Territorium vor Beginn der Invasion im Februar wieder zurückerhalten. Doch am 2. April forderte der britische Premier Boris Johnson Selenskyj telefonisch auf, seine Vorschläge zurückzuziehen, andernfalls werde der Westen seine Hilfe einstellen. Diese Position unterstrich er bei seinem Besuch in Kiew am 9. April. Der Westen hat also Verhandlungen mit Russland verhindert. Dies kehrt die Frage der Kriegsschuld um – zu Lasten des Westens.(86) Als Reaktion hat Moskau entschieden, den Status quo einzufrieren und seine Eroberungen einzugliedern, um sie so irreversibel zu machen. Der Hebel waren die Referenden – und die Teilmobilmachung. Wenn man die Zeitleiste im Blick hat, dann erscheint die ukrainische Offensive im September eher als der Versuch, die Referenden im Kanonendonner zu ersticken.(87)
Der Taxifahrer erzählt erleichtert, er selbst werde sicher nicht eingezogen, er sei gar nicht beim Militär gewesen, aus gesundheitlichen Gründen, darüber sei er jetzt ganz froh. Mir wird klar: Der Krieg kommt in den Familien an, die Stimmung bei den Betroffenen schlägt um. Auch Sergey berichtet von Bekannten, die darüber nachdenken, wie sie einer möglichen Einberufung entgehen können. Plötzlich scheinen viele Russen, für die der Krieg gestern noch ganz fern war, zu erkennen: Das ist keine Spezialoperation – das ist blutiger Ernst. Auf eine diffuse Art, so ist mein Eindruck, stehen die Menschen loyal zu Putin. Aber den Kopf hinhalten will man dafür nicht. Der Widerstand gegen die Zwangsrekrutierung von 300 000 Männern ist massiv. Es gab zahlreiche Proteste, die sofort unterdrückt wurden. Mehr als 2000 Demonstranten wurden festgenommen.
Die Aushebungen verlaufen teilweise chaotisch. In Burjatien verteilten Beamte nachts Musterungsbescheide. In manchen Regionen gibt es Reiseverbote für Reservisten. Teilweise werden Rekrutierte ohne zusätzliche Ausbildung an die Front geschickt. Zeitsoldaten, die wegen des Krieges gekündigt hatten, werden nun als kampferfahrene Reservisten wieder verpflichtet. Vielerorts wird Schmiergeld bezahlt, um der Einberufung zu entgehen. Die exilrussische Onlinezeitung Medusa listete Ende September 17 Brandanschläge auf Rekrutierungsstellen auf, darunter bei Kaliningrad, Sankt Petersburg und in Mordowien in Zentralrussland. Mitte Oktober kam es nach einem Bericht der Jungen Welt auf einem Truppenübungsplatz im frontnahen Bezirk Belgorod zu einer Meuterei muslimischer Soldaten aus Zentralasien. Sie hatten dem Ausbildungsleiter erklärt, dies sei nicht ihr Krieg. Der beschimpfte dann Allah als Gott der Feiglinge. Daraufhin eröffneten die muslimischen Rekruten das Feuer. Das Ergebnis: 13 Tote und mehrere Dutzend Verletzte.(88) Die Flucht ins Ausland scheint vielen die einzige Rettung: Seit Beginn der Mobilisierung sind mindestens 53 000 Russen nach Georgien ausgereist, mehr als 200 000 nach Kasachstan, 66 000 allein in der letzten Septemberwoche in die EU und mindestens 3 800 in die Mongolei.(89) In den ersten Wochen nach Beginn der Teilmobilmachung haben mehrere Hunderttausend Menschen Russland verlassen. Dies führt zu einem Mangel an Arbeitskräften im produktivsten Alter. Ökonomen prognostizierten daher einen Rückgang des Bruttosozialprodukts um 0,25 Prozent auf insgesamt 3,75 Prozent.(90) Doch sie lagen falsch: Die russische Wirtschaft verzeichnet ein leichtes Wachstum.(91)
Die Fluchtbewegungen ähneln denen aus der Ukraine, wo ebenfalls viele Menschen dem Kriegseinsatz entkommen möchten. Dort gibt es Ausreiseverbote für Männer, und Soldaten meutern. Wer Geld hat, kauft sich frei. Junge Männer verlassen das Land in verschiedene Richtungen – nicht nur in Richtung Westen, sondern auch nach Russland oder auf die Krim.
Doch warum sehe ich dann überall in Rostow Autos mit dem »Z« auf Rückspiegel oder Heckscheibe? An den Türen vieler Pkw sehe ich die Worte »Me Nje Padwedjem Naschi« – Wir lassen unsere Leute nicht im Stich.(92) Man meint damit jene im Donbass. Donezk ist 200 Kilometer weit weg, und viele Menschen in Rostow haben dort Verwandte, die Verbindungen sind eng. Dass die Ukrainer die Donezk seit 2014 beschießen, weiß hier jeder. Die russische Presse schlachtet das aus, denn man weiß, dass die faschistischen Asow-Regimenter mitmischen. Bei den Menschen hier fällt das auf fruchtbaren Boden. Sie haben Erfahrungen mit faschistischen Überfällen. Die Stadt wurde im November 1941 von der Hitlerwehrmacht eingenommen, aber die Rote Armee warf die Deutschen bereits acht Tage später wieder raus. Doch im Juli 1942 wurde Rostow erneut besetzt, diesmal von Teilen der SS-Panzerdivision »Wiking«. Mitte August trieb die deutsche Einsatzgruppe D 27 000 Menschen aus Rostow, hauptsächlich Juden, in die Schlangenschlucht und ermordete sie dort. Nach heftigen Kämpfen wurde die Stadt im Februar 1943 erneut zurückerobert. Dass die Sowjetunion mit 27 Millionen Kriegstoten den höchsten Blutzoll bei der Niederwerfung der Hitlerdiktatur zahlte – hier in Rostow ist das nicht vergessen.
Wie damals schließt man im Krieg die Reihen. Vielleicht bleiben auch deshalb größere Proteste in Russland aus. Oft werden wir gefragt: »Können Sie den Deutschen mal erklären, dass wir hier die Dinge anders sehen?« Ein Frührentner Mitte 50 erzählt: »In den 1990er-Jahren liefen die Regionalfürsten besoffen mit der Kalaschnikow herum wie die Despoten. Das gibt es heute nicht mehr. Heute steht das Volk mehr hinter der Regierung als in der Sowjetzeit. Damals waren die Behörden viel überheblicher.« Wer einmal erlebt hat, wie die Menschen in der Ära des Zerfalls schutzlos der Willkür von Desperados ausgeliefert waren, hat gute Gründe, Putin zu unterstützen.
Der US-Militäranalyst Scott Ritter ist der Ansicht, dass Wladimir Putin fest im Sattel sitzt und die Westpresse gefangen ist in ihrer eigenen Propaganda: »Der Zweck dieser Propaganda ist, die Welt gegen Russland aufzuhetzen und die Russen zu Hause zu demoralisieren. Russland ist heute geeinter als je zuvor. Die Unterstützung für Putin ist stärker als je zuvor. Wenn Sie sich den Rest der Welt ansehen, dann haben die Menschen genug von diesem Kon ikt. Sie fangen an, Fragen zu stellen, die schon am ersten Tag hätten gestellt werden müssen … Europa wird immer mehr fantastische Geschichten brauchen, um die Welt gegen Russland aufzuhetzen. Aber es gibt keine Fakten, um sie zu untermauern.«(93)
Glaubt man Jacques Baud, dann geht es dem Westen gar nicht um die Ukraine. Es geht darum, Russland zu schwächen und so einen Regimewechsel oder eine Zerschlagung des riesigen Staats herbeizuführen. (94)
Bisher ist die Strategie der US-Amerikaner, Russland in der Ukraine ausbluten zu lassen und so einen Regimewechsel in Moskau zu provozieren, gescheitert. Diese Strategie beruht auf der Fehleinschätzung, dass die Mehrheit der Russen sich Putin widersetzen wird und dass ein Regen von Sanktionen die russische Wirtschaft ruiniert, was letztlich zu einer politischen Veränderung führt. Als Auslöser sollte Russland in einen Konflikt in der Ukraine verwickelt und die internationale Gemeinschaft dazu gebracht werden, Sanktionen zu verhängen. (95) Jedoch erweist sich die russische Wirtschaft als erstaunlich robust, und die Lage an der Front zeigt in diesen Tagen Geländegewinne für die Ukraine, aber auch hohe Verlustefür die ukrainischen Truppen.
Dass der Krieg sich hinzieht, drückt auf die Stimmung, genauso wie die Teilmobilisierung. Im Februar und März ist der Blitzkrieg zur Einnahme Kiews gescheitert. Auch die zweite Phase, die Offensive, blieb stecken und endete mit Rückzug und Frontbegradigung. In der dritten Phase des Krieges sieht die Propaganda die Heimat Russland bedroht, und der Staat zieht Hunderttausende von Menschen ein. Dies sorgt für Unruhe und stellt alte Gewissheiten infrage. Vor der Mobilmachung ergab eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Lewada (als ausländischer Agent eingestuft), dass 70 bis 75 Prozent den Krieg unterstützen. Doch dieser Eindruck täuscht. Denn wer sich öffentlich gegen den Krieg ausspricht, kann strafrechtlich verfolgt werden. Die regierungsunabhängige Russian Field Group sieht in einem Drittel der Bevölkerung Unterstützer des Krieges, dazu 15 Prozent Unterstützer mit Vorbehalten. Weitere 20 Prozent unterstützen den Krieg, hätten aber eine friedliche Lösung vorgezogen.(96) Ein Teil der Unterstützer will sich einfach nicht mit der Regierung anlegen. Eine weitere Gruppe sagt, Russland müsse die Russen im Donbass schützen. Aber nicht nur hier in Rostow betrachten viele Menschen – wie der in Moskau im Exil lebende ukrainische Sozialist Dmitrij Wasilez – diesen Krieg »als eine Frage des Überlebens für Russland, als ein Kampf um seine Souveränität. Ökonomisch betrachtet wurde Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wirtschaftlich versklavt und in eine Schuldknechtschaft gegenüber dem Westen gedrängt. Nun hat Russland genug Stärke zurückgewonnen, um sich seine Souveränität zurückzuholen.«(97) Die Regierung versucht jetzt, einen Keil zwischen Kriegsunterstützer und Kriegsgegner zu treiben. Man lässt die Gegner ausreisen und ho t, dass sie eine stärker geschlossene Nation hinter sich lassen. Aber das Chaos bei der Einberufung lässt das Vertrauen in die Staatsorgane schwinden: Statt Kompetenz erleben viele Schlendrian und Korruption. Paradoxerweise halten immer mehr Russen die Spezialoperation für keine gute Idee – dennoch wird zur gleichen Zeit der Rückhalt für den Kurs des Kremls stärker. Das heißt: Die Mehrheit der Russen will auf keinen Fall verlieren.(98) Die Rechnung des Westens, einen Sturz Putins zu erzwingen, ist jedenfalls derzeit reines Wunschdenken. Aber Putin braucht Erfolge, bevor die Stimmung kippt. Referendum und Teilmobilmachung sollen sie bringen.
Das Hotel Benamar hat für uns riesige Zimmer reserviert, in denen man tanzen könnte. Das Dekor bewegt sich irgendwo zwischen Pop-Art und Orient. Die Bettüberwürfe tragen schwarz-weiße Rauten, und von den Türen des Kleiderschranks schaut mich eine leicht bekleidete stilisierte Blonde mit Maske an. Ein Schreibtisch und eine Sitzecke mit Polstersesseln gehören zur Ausstattung. In der Lobby stehen mächtige rote Plüschsofarunden, überall Säulen und Marmor. Sergey sagt grinsend: »Der letzte Luxus vor dem Krieg.«
Am nächsten Morgen erkunden wir den Nachitschewan-Markt am Platz Basarny. Nachitschewan ist ein Stadtteilvon Rostow und eigentlich eine armenische Gründung. Benannt ist sie nach einer autonomen Republik Aserbaidschans zwischen Armenien und Iran. Beim Zusammenbruch der Sowjetunion sagte sich die Region bereits im Januar 1990 von der UdSSR los, nicht aber von Aserbaidschan. Damit war sie die erste unabhängige Republik noch vor Litauen. Vorangegangen waren militärische Auseinandersetzungen zwischen Armenien und Aserbaidschan. Noch nach der Jahrtausendwende wurden in Nachitschewan armenische Kirchen, Klöster und Friedhöfe zerstört – nahezu das gesamte armenische kulturelle Erbe. Viele Armenier flohen, einige von ihnen nach Rostow, wo heute mehr als 40 000 Armenier leben. Dadurch ist der Nachitschewan-Markt fest in armenischer Hand ist. Auch die Marktwächter sind Armenier. Sie haben uns sofort im Auge, weil wir mit der Kamera arbeiten. Wir erklären ihnen, dass wir für ein Buch über den Krieg in der Ukraine recherchieren. Sie bitten uns zu erwähnen, dass hier friedliebende Menschen leben, die nichts gegen Deutschland haben und keinen Krieg mehr wollen. Ein armenisches Ehepaar, das einen Imbiss mit Grill betreibt, lädt uns auf einen Lammspieß ein. Beim Wenden der Spieße fragt der Mann: »Denken die Menschen in Deutschland wirklich so schlecht von uns, wie eure Politiker reden? Wollt ihr wirklich Russland ruinieren? Das kann ich nicht glauben!« Ich kratze mich am Kopf: Ich hätte nie gedacht, dass ich mich einmal an einem Grillstand auf einem armenischen Markt in Südrussland für den selbstverliebten Größenwahn der deutschen Außenministerin rechtfertigen müsste. Den Menschen hier ist nicht entgangen, dass der Westen die Ukraine seit Jahren hochrüstet, und sie denken sofort an die Vernichtungskriege, die von deutschem Boden ausgegangen sind.
Unser neuer Bekannter erzählt uns, dass Stalin die Armenier in Aserbaidschan an Baku verschenkt hat. Trotzdem bleibt er dabei: »Die beste Zeit – das waren die Jahre in der Sowjetunion. Damals lebten die Volksgruppen friedlich zusammen und gingen nicht mit Gewehren aufeinander los!« Seine Frau stimmt zu und bringt armenischen Kaffee, der in einem kleinen Mokkakännchen ungefiltert serviert wird. Die beiden mussten ebenfalls fliehen und erzählen uns, dass sie keine Kriege mehr wollen, auch nicht die des Westens und der US-Amerikaner.
Durch Siedlungen mit einstöckigen Arbeiterhäusern suchen wir den Weg zum Fluss und überqueren ihn auf einer kleinen Brücke, die gerade repariert wird. Die Bauarbeiter kommen wie so oft in Russland aus dem Kaukasus und aus Asien. Am Fuße der Brücke liegt ein Rudel streunender Hunde im Dreck. Am Ufer der »Grünen Insel« beobachten wir die Angler. Vom Dach eines alten Bunkers aus dem Zweiten Weltkrieg aus schauen wir über den Don auf die Stadt am Ufer gegenüber: Vier Frachtkähne liegen auf Reede. Im Hafen werden kaum noch Ladungen gelöscht. Bagger und Kräne an den Kohle-Terminals stehen still. Hin und wieder passiert uns ein kleineres Motorboot. Anders als auf dem armenischen Markt, wo es Obst, Gemüse, Kartoffeln, Brot, Fleisch, Stoffe, Kurzwaren, Elektroartikel und Werkzeuge aller Art zu kaufen gibt, machen sich hier auf dem Don Krieg und Sanktionen unmittelbar bemerkbar. Die Schiffstransporte über den Fluss und über das Schwarze Meer liegen lahm, ebenso wie die Transporte von russischem Getreide und Düngemittel. Russland und Belarus stellen die Hälfte der weltweiten Düngemittel her. Gemäß dem Getreideabkommen sollte nicht nur die Ukraine ihr Getreide, sondern auch Russland seine Düngemittel wieder verschiffen können. Doch der Westen erlaubte nur Exporte in die EU und die USA, Ausfuhren nach Asien und Afrika blieben verboten. Hier in Rostow wird deutlich: Das Abkommen war eine Farce. Russland kann kaum exportieren, da die dringend benötigten Schiffsversicherer mit westlichen Sanktionen belegt sind. (99)
Auf der Rückfahrt nehmen wir ein Taxi, das von einer superschlanken, 40-jährigen, von oben bis unten tätowierten Punk-Lady namens Marija gesteuert wird. Sie macht auf cool und fährt mit offenem Fenster hart am Gas – begleitet von lauter Musik: »Es passt nix zueinander / Es läuft echt nichts zusamm’ / Wem könnte man noch trau’n / Was könnte man noch hoffen / Wenn Vögel sich verflechten / zu dunkelschwarzer Schlang’ / Mit ärgerlichem Schall / Auf angepisster Erde.« Es ist eine Freude, ihr zuzusehen, nur Notizen kann ich bei dem Tempo keine machen. Seit vielen Jahren hat Rostow eine ausgeprägte Punk -Szene. Die laute Musik im Taxi stammt von der Band »Utro« um
Wladislaw Parshin, minimalistische Beats, die für eine dunkle, mystische Atmosphäre sorgen. »Herzen treiben / Einen gift’gen Westwind / Auf Langzeittour / Hintern Horizont, ins Meer / Ein erstickter Sonnenzwerg /Versteckt sich angefickt / Ein schmerzverzerrter Mond / Flimmert ins Unglück / Und grinst in die Scheiße.« Punk statt Putin – auch das ist ein Weg, denen in Moskau und ihrem »Scheiß-Krieg« den Stinkfinger zu zeigen. Zwanzig Jahre lang konnten Russinnen wie Marija Gefallen finden an der Konsumgesellschaft – einkaufen, reisen, sich selbstständig machen. Jetzt ist alles anders, der Krieg bringt ihr Leben durcheinander: Wie wird das Abschlachten in mein Leben eingreifen? Wann trifft es mich? Am Hotel bedanken wir uns. »Paka.« Marija lächelt zum Refrain: »Lieber Engel, führe mich / Hintern Horizont, ins Meer / Auf einen langen Weg / Mein lieber Engel, führe mich / Hintern Horizont, ins Meer / Auf den langen Weg.«(100) Vielleicht ist dort das Morgengrauen still.
Dann die schlechte Nachricht. Freunde rufen an und warnen: »Kein Weg führt nach Luhansk. Wenn sie eure deutschen Pässe sehen, werdet ihr wahrscheinlich an der Grenze abgewiesen. Die lassen niemanden rein. Vermutlich werdet ihr festgenommen, stundenlang verhört und dann bei Nacht und Nebel im Niemandsland zurückgeschickt!« Sergey und ich schauen uns an. Unsere Akkreditierung liegt in Donezk. Aber wie dort hinkommen? Wir sitzen fest.