4.5. Kiew: Ein Putsch und die Folgen

Dmitrij Wasilez hat das Kämpfen nicht verlernt. Seinen Augen sehe ich an, dass die Hoffnung auf eine Ukraine der Lohnabhängigen noch nicht erloschen ist. Aber kämpfen muss er vorerst in Moskau. Er erwartet Sergey und mich im Kreis von Freunden und Familie in einem Café in der ersten Etage eines Einkaufszentrums im Norden der Stadt. Jahrelang arbeitete Dmitrij Wasilez als Reporter für den ukrainischen »Kanal-17«. Er war Gewerkschafter und Vorsitzender des Medienrats des Informationsministeriums, wo er sich gegen den Versuch der Regierung wehrte, die Presse stärker an die Kandare zu nehmen. Er gehört der Partei »Staat (ukrainische Macht«), einer sozialistischen Partei, an, eigentlich einer Splittergruppe im Parteiensystem der Ukraine, die sich als Teil eines Bündnisses gegen die Orangene Revolution von 2004 stellte. Er führt diese prorussische Partei seit 2019.


Zwei Jahre und drei Monate verbrachte Dmitrij Wasilez in der Ukraine im Gefängnis. Der Geheimdienst SBU hatte ihn am 24. November 2015 in der Region Schytomyr westlich von Kiew festgenommen: Er habe im Donbass beim Aufbau des Separatisten-Senders Novorossiya TV geholfen – was Dmitri Wasilez bestreitet. Das Bezirksgericht in Andruschewsky verurteilte ihn zu neun Jahren Gefängnis. Das Urteil wurde jedoch aufgrund mangelnder Beweise in der Berufungsinstanz aufgehoben. Ende 2021 ging er nach Moskau ins Exil. Der Journalist und Menschenrechtsaktivist Dmitrij Wasilez kennt den Maidan genau. Er hat mit eigenen Augen gesehen, was sich in jenen Monaten im Winter 2013/14 ereignete: die Demonstranten, die Organisatoren, die Geldscheine, die Waffen, die Toten. Westliche Beobachter sahen die Ereignisse in der Ukraine 2013/14 als ein Scheideweg zwischen »einer Diktatur nach dem Vorbild von Belarus oder dem Sturz von Janukowytsch«. Sie betrachten den Maidan als »Revolution« oder als »Transformation von unten«, die zu einer Demokratie mit mancherlei Mängeln geführt hat, in der aber »volle Meinungsfreiheit« herrscht. (322) Wenn Dmitrij Wasilez so etwas hört, kann er nur höhnisch lachen. »Ich war jeden Tag auf dem Maidan«, erzählt er. »Ich wollte herausfinden, was dort geschieht. Was ich gesehen habe, war: Dieser Volksaufstand war eine perfekt inszenierte Show. Wenn Pressevertreter einen Kommentar von mir wollten und ich habe mich nicht zustimmend zu den Protesten geäußert, dann haben sie die Kamera wieder abgeschaltet und mich weggeschickt: ›Verschwinde, Junge, wir haben andere Ziele!‹ Das haben sie offen gesagt. Auf der Bühne befand sich keine zufällige Besetzung. Da durfte man nicht einfach so hoch. Diese Bühne war sehr teuer, und wer rauf wollte, musste an zwei, drei Sicherheitskontrollen vorbei.«(323) Wenn das stimmt: Wer hat das organisiert? Die herrschende Meinung im Westen sieht jene »ausgebauten zivilgesellschaftlichen Strukturen« am Werk: Demonstranten und NGOs, die genug hatten »von Korruption, Vetternwirtschaft und der allgemeinen Verarmung«. Die Ukraine habe sich »tatsächlich in einer revolutionären Situation« befunden.(324) Dmitrij Wasilez sah etwas ganz anderes: »Die Sicherheitskräfte auf dem Maidan wurden von ukrainischen Oligarchen bezahlt. Sie waren viel besser ausgerüstet und bewaffnet als die Polizei. Zufälle gab es auf der Bühne nicht. Wenn einer warnen wollte: Das hier wird in einem Blutbad enden, in einem Zerbrechen der Ukraine als Staat, dann durfte er nicht auf die Bühne. Jeder Oligarch, der mitmachte, bekam eine Quote für seine Reden, und für seine Strohmänner in Parlament und Regierung.«

Mit solchen Beobachtungen steht Dmitrij Wasilez nicht allein. Der Schriftsteller und Journalist Denis Simonenko erinnert sich an jene bitterkalten Wintermonate in Kiew: »Freunde von mir haben geglaubt, dass auf dem Maidan ein Volksaufstand stattfindet, und sind nach Kiew gefahren. Dort machte sich Ernüchterung breit. Denn sie haben erlebt, dass ihnen Geld angeboten wurde, dass unter den Demonstranten Thermo-Unterwäsche verteilt wurde, Winterkleidung, dicke Socken, Schuhe mit Heizplatten, damit sie nicht frieren. Das hat eine Menge Geld gekostet. Es wurde meinen Freunden sofort klar, dass dies von amerikanischen Stiftungen finanziert wurde. Das haben alle begriffen, die auf dem Maidan waren. Sie haben erlebt, dass nur eine kleine Gruppe zum Umsturz aufgerufen hat. Die meisten kamen aus der westlichen Ukraine. Diese Westukrainer aus Lwiw waren sehr aggressiv. Von anderen Regionen waren nur wenige Demonstranten auf dem Maidan. Diese Proteste waren gekauft. Meine Freunde haben als klardenkende Menschen sofort begriffen, von wem und wofür das organisiert wurde. Es richtete sich gegen Russland, und man ließ sich das ganze richtig viel Geld kosten.«(325)

Jahre später erzählt die Schriftstellerin Marija Hirt: »Nach meiner Wahrnehmung sehen viele im Osten die Katastrophe nach wie vor auch als bittere Konsequenz des ›Euromaidan‹. Als 2014 mit offener Unterstützung fremder Mächte eine relativ fair gewählte Regierung gestürzt wurde, die dort ihre Basis hatte, roch es nach Krieg. Wie wohl die meisten hatte ich zuletzt nicht mehr damit gerechnet. Doch hat dieser Einschnitt immer ein gewaltsames Zerbrechen des Landes riskiert. Und dass damals in Kiew der harte Kern auf dem Platz bezahlt wurde, weiß in der Ukraine jeder.«(326) Nur in Deutschland will dies niemand hören. Vielleicht hat das nicht nur mit Propaganda zu tun, sondern auch damit, dass man sich unbewusst von der eigenen historischen Schuld entlasten und einfach mal auf der Seite der Guten stehen möchte. Dass Geld an die Demonstranten geflossen ist, steht außer Frage. Wiederum erwies sich Ihor Kolomojskjy als einer der Hauptfinanziers der Maidan-Bewegung und insbesondere des Rechten Sektors. Aber nicht nur ukrainische Oligarchen unterstützten den Aufstand mit Geld, Nahrungsmitteln und Zelten.(327) Ina Kirsch, die damalige deutsche Geschäftsführerin des European Center for a Modern Ukraine, einer Lobby-Organisation der ukrainischen Regierung in Brüssel, erklärte: »Es gibt allerdings Leute wie den US-Milliardär George Soros, die Revolutionen finanzieren. Soros hat auch den Maidan unterstützt, hat dort Leute bezahlt – die haben in zwei Wochen auf dem Maidan mehr verdient als in vier Arbeitswochen in der Westukraine.«(328) Ein guter Deal im Armenhaus Europas.

Das bedeutet jedoch nicht, dass der ganze Maidan gekauft war. Die Empörung über die Nichtunterzeichnung des EU-Assoziierungsabkommens war echt. Über ein Jahr lang hatte die Regierung den Menschen erklärt, dass Europa die einzige Perspektive sei, und plötzlich wurde diese Vision zunichtegemacht. Die Wut über Korruption und wirtschaftlichen Niedergang trieb viele proeuropäische Ukrainer auf den Maidan. Sie richtete sich insbesondere gegen die Familie Janukowytsch, deren maßlose Bereicherung zum Ansehensverlust des Präsidenten und der hinter ihm stehenden Donbass-Oligarchen beigetragen hatte. »Europa« wurde zu einem Kampfbegriff gegen die Ausplünderung des Landes durch die Oligarchen. Schon lange saß Präsident Janukowytsch in der Klemme: Seit seinem Amtsantritt im Jahr 2010 hat er laviert. Am liebsten hätte er den neutralen Status der Ukraine beibehalten, aber das Land war zahlungsunfähig und benötigte einen Kredit vom Internationalen Währungsfonds. Dieser machte Auflagen, wie zum Beispiel das Einfrieren der Renten. Das wollte Janukowytsch nicht akzeptieren, da er eine Wiederwahl im Jahr 2015 anstrebte. Gleichzeitig übte Russland Druck aus, da die Ukraine gemeinsam mit der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) eine Freihandelszone bildete. Moskau fürchtete, dass bei einer weitgehenden Assoziierung der Ukraine mit dem EU-Binnenmarkt westliche und ukrainische Waren den russischen Markt fluten und die Verflechtung mit der Industrie im Donbass abreißt. Janukowytsch wollte Zeit gewinnen, doch die EU drängte ihn zu einer Entscheidung zwischen Moskau und Brüssel. In der westlichen Ukraine wurde die Hängepartie als Absage an Europa verstanden. Der Unmut über die Herrschaft der Oligarchen vermischte sich jetzt mit einem im Westen konzentrierten ethnisch-ukrainischen Aufstand.(329) Es war ein bürgerlicher Aufstand: Viele Studenten waren auf dem Maidan, aber der durchschnittliche Protestler war zwischen 34 und 45 Jahre alt, hatte einen festen Job und gehörte der Mittelschicht an. 92 Prozent der Teilnehmer waren ethnische Ukrainer.(330) Dazu gesellte sich ein mit der Dauer des Aufstandes zunehmendes »lumpenproletarisches« Element: Viele Arbeitslose aus der armen Westukraine, die sich als illegale Wanderarbeiter in der EU verdingten und deshalb ein Interesse an offenen Grenzen nach Westen hatten, wurden zu bezahlten Protesten auf dem Maidan angeworben.(331) Anders als bei der Orangenen Revolution 2004 waren diesmal ethnisch-ukrainische Nationalisten die treibenden Kräfte. Dies ebnete den Weg für faschistische Gruppen, den Aufstand zu kapern. Es gelang ihnen, in enger Kooperation mit den Neokonservativen in Washington und der NATO im Februar 2014 einen Staatsstreich zu organisieren. Es galt, mithilfe der NGOs bürgerliche Minderheiten gegen die eher Russland-affinen Großoligarchen zu mobilisieren, denen die Schwerindustrie im Donbass gehörte.

Die USA, die EU und die NATO hatten längst Sorge getragen, um die Levée en masse bei der Hinwendung zum Westen zu unterstützen. Spätestens seit Anfang März 2013 hatte die US-Botschaft in Kiew Aktivisten darin geschult, soziale Medien zur Vorbereitung von Massendemonstrationen zu nutzen. Am 20. November 2013 enthüllte Oleh Zarjow, ein föderalistisches Mitglied des Parlaments, in einer Rede, er habe Informationen darüber, dass »mit Unterstützung und direkter Beteiligung der US-Botschaft in Kiew das Projekt eines ›TechCamps‹ betrieben wird. Bei diesen Treffen werden Vorbereitungen für einen Bürgerkrieg in der Ukraine getroffen. Das ›TechCamp‹ bereitet Spezialisten auf Informationskriegführung und die Diskreditierung der staatlichen Institutionen durch den Einsatz moderner Medien vor. Potenzielle Revolutionäre sollen organisiert werden, um Proteste zu organisieren und die Regierung zu stürzen. Dieses Projekt wird derzeit unter der Verantwortung von US-Botschafter Geoffrey R. Pyatt betreut.«(332) Oleh Zarjow sparte nicht mit Details. Föderalistische Aktivisten hätten sich verdeckt Zugang zu dem Projekt verschafft, bei dem ihnen US-amerikanische Instruktoren erklärten, wie das Internet und soziale Medien genutzt werden könnten, um die öffentliche Meinung zu manipulieren, Proteste zu organisieren und so gewalttätige Unruhen auszulösen. Insgesamt seien quer durch die Ukraine bislang fünf TechCamps durchgeführt worden. Die etwa 300 ausgebildeten Aktivisten seien nun überall in der Ukraine aktiv: »Die letzte Konferenz fand am 14. November 2013 in der US-Botschaft in Kiew statt.«(333) Der Euromaidan begann in der Nacht des 21. November 2013. Rund 2 000 Demonstranten hatten sich über die sozialen Netzwerke organisiert. Die fünf Milliarden Dollar, die Victoria Nuland zufolge in der Ukraine investiert wurden, hatten sich gelohnt. »Ich habe auf dem Maidan Leute interviewt. Sie haben mir bestätigt, dass sie einer Nichtregierungsorganisation angehören und fürs Demonstrieren bezahlt werden«, Dmitrij Wasilez berichtet weiter von seinen Erlebnissen auf dem Maidan. »Sie sagten: ›Wir sind auf den Maidan gekommen, bleiben zwei Wochen, dann werden wir ausgetauscht, nach zwei weiteren Wochen kommen wir wieder zu den Protesten.‹ Die wichtigste Aufgabe dieser Leute war, den Maidan in den sozialen Medien zu präsentieren. Damit der Eindruck entsteht, die Demonstranten verträten das gesamte ukrainische Volk. Aber faktisch waren das Mitarbeiter von NGOs, die vom Westen und von westlichen Botschaften bezahlt wurden, bis hin zu den Schreibtischtätern, die Bilder von den Protesten gepostet haben. Wie auf Befehl waren alle NGOs, die in der Ukraine mit dem Geld aus den USA und anderen Ländern finanziert worden sind, nach Kiew gekommen. Wie später herauskam, gab es nicht hunderte, sondern tausende solcher Organisationen. Jede bestand aus jungen Leuten, jede hatte Mitarbeiter, die in einer militärisch straffen Rotation auf dem Maidan zwei Wochen gelebt haben und dann ausgetauscht wurden. Ihre Hauptaufgabe war, von früh bis spät auf dem Maidan zu sein. Damals schon hat vieles darauf hingedeutet: Dies ist kein Volksaufstand, sondern das Volk wurde benutzt. Das war gut orchestriert von Oligarchen.«(334)

Ähnlich wie bei der Orangenen Revolution im Jahr 2004 erlaubte die Maidan-Revolte jenen bislang schwächeren Oligarchen, die durch den Aufstieg des Donezk -Blocks an den Rand gedrängt worden waren, sich mit den Demonstranten zu verbünden und die Proteste zu nutzen, um die Staatsmacht zurückzufordern. Dies gelang nur in enger Zusammenarbeit mit der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten und stürzte das Land in eine Zerreißprobe. Bereits seit Längerem gab es Bemühungen, die ukrainische Wirtschaft in einen Lieferanten für Primärrohsto e für die EU umzuwandeln. So waren niederländische Investoren in den Bereichen Saatgut, Biotreibstoffe, landwirtschaftliche Produkte und Energie aktiv. Shell hatte bereits Verträge über die Ausbeutung von Gasvorkommen in der Tasche. Die Hightech-Industrie der Ukraine, einschließlich Unternehmen der Luftfahrt- und Maschinenbaubranche, sowie die Schwerindustrie im Donbass fanden keine Beachtung. Die in die Jahre gekommene industrielle Infrastruktur war eng mit Russland ver ochten und wäre nach einer EU-Assoziierung durch die harte westliche Konkurrenz hinweggefegt worden. Besondere Brisanz erhielt die geplante EU-Assoziation, weil der Vertrag wichtige Bestimmungen zur Verteidigungs- und Außenpolitik enthielt und gleichzeitig höchst geheime Verhandlungen über einen Transatlantischen Freihandelsvertrag liefen. (335) Die Priorität lag darin, die Ukraine in den westlichen Einflussbereich zu integrieren und gleichzeitig die Eigentumsrechte der Oligarchen zu festigen. (336) Auf dem Maidan trafen also die Interessen westlich orientierter Oligarchen sowie die der EU und der USA in eine Richtung zusammen.

Doch zunächst tarnte sich der Staatsstreich als Happening. Als Cheerleader erschienen westliche Politiker wie Victoria Nuland, damals Abteilungsleiterin im US-Außenministerium, der deutsche Außenminister Guido Westerwelle, die damalige Sprecherin der Grünen für Osteuropa-Politik Marieluise Beck, US-Senator John McCain und die Außenbeauftragte der EU Catherine Ashton auf dem Maidan. Sie feuerten die Demonstranten an und sendeten so ein Signal westlicher Beteiligung und Unterstützung. Man stelle sich vor, der russische Außenminister Sergei Lawrow wäre in Paris erschienen und hätte die Gelbwesten-Proteste angefeuert. Anders als in Kiew hätte dies zu massiven Reaktionen westlicher Regierungen geführt.(337) Auf dem Maidan konnten westliche Politiker unter den Augen der Regierung die Proteste anheizen. Der scheidende EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso rief die Demonstranten auf, »den Mut zu haben, aufzustehen und zu kämpfen«.(338) 2016 sollte er zum Vorsitzenden des Aufsichtsrates von Goldman Sachs International ernannt werden.

Währenddessen flossen im Hintergrund weiter beträchtliche finanzielle Beträge. Da sind die fünf Milliarden US-Dollar, die Victoria Nuland erwähnte. Zwischen 1910 und 2009 hatten die USA bereits 3,1 Milliarden US-Dollar in die Ukraine investiert. Im Jahr 2010 bewilligte der Kongress noch einmal 118 Millionen US-Dollar. Zwei Drittel dieser Beträge wurden von der US-Agentur für internationale Entwicklung (USAID) verwaltet. Im Jahr 2012 gab die USAID insgesamt 78,4 Millionen US-Dollar für die Ukraine aus, wovon 27 Millionen US-Dollar für die Förderung von Demokratie und Governance vorgesehen waren. Dazu kommen der Milliardär George Soros mit seinen Stiftungen wie der Renaissance Foundation sowie halbstaatliche Akteure wie Freedom House, German Marshall Fund, National Endowment for Democracy, die neben öffentlichen Mitteln auch über Stiftungen der US-Wirtschaft finanziert werden. Das Omidyar Network von eBay-Gründer Pierre Omidyar mischte mit. Offiziell von den USA finanziert wurde das Center UA, eine ukrainische Dachorganisation für NGOs. Auch die NATO war bereits 2006 mit dem »Zentrum demokratische Initiative«, einer PR-Kampagne, und dem »Zentrum für euroatlantische Integration« vertreten. Die EU stellte ebenfalls Unterstützung bereit. Sie zahlte beispielsweise fast 496 Millionen Euro für »Front-Gruppen« – als Teil der 1,3 Milliarden Euro für Entwicklung und Forschung, die insgesamt zwischen 2007 und 2014 an die Ukraine vergeben wurden. Der Europäische Demokratiefonds, eine hauptsächlich von der EU finanzierte Stiftung, unterstützte ebenfalls die Zivilgesellschaft und Medien. Die britische Botschaft startete mehrere Kampagnen für die EU.(339)

All dies war Teil einer Gesamtstrategie, die aus Krediten und finanzieller Erpressung, Einflussnahme über NGOs und Regime Change sowie militärischer Intervention besteht. Auf diese Weise führte eine »Allianz von liberalen Internationalisten, Neokonservativen, Atlantikern, Glucksmann-Fans, deutschen Grünen, osteuropäischen Revanchisten und maßgebenden Europa-Verfechtern eine heilige Mission für die Erweiterung« von EU und NATO, »um den Osten zu bändigen, stellte dabei aber am Ende die eigenen Prinzipien auf den Kopf«.(340) Denn aus militärischer Perspektive geht es dabei nicht um Frieden und Europa, sondern darum, Moskau US-amerikanische Atomraketen vor die Nase zu setzen – und damit den Versuch, Washington einen atomaren Erstschlag zu ermöglichen, verbunden mit einer vorgeschobenen Raketenabwehr, die einen russischen Zweitschlag vereiteln könnte. (341) Dabei wurde die Einhegung der Ukraine offen mit der Destabilisierung von Putins Präsidentschaft verbunden. (342)

»Ich habe selbst beobachtet und kann das auch eidesstattlich versichern«, so Dmitrij Wasilez, »dass der größte Teil des Geldes in bar von polnischen und baltischen Diplomaten verteilt wurde. Wir haben mehrmals polnische Diplomaten bei der Übergabe von Dollarbeträgen an die Organisatoren der Proteste erwischt. Ein Teil des Geldes ging an die Medien, die über das Geschehen auf dem Maidan berichtet haben. Ein anderer Teil wurde für die Organisation verwendet, für die Wärmeversorgung, für Lebensmittel. Es wurden sogar Tischtennisplatten angeliefert, damit die Leute animiert werden, auf dem Platz zu bleiben. Ein Teil des Geldes ist wahrscheinlich an Sicherheitskräfte und Polizei geflossen, um deren Loyalität zu erkaufen. Wahrscheinlich ist auch Schmiergeld an die Beamten des Janukowytsch-Apparates gezahlt worden, damit sie auf ein hartes Durchgreifen gegen die Demonstranten verzichten. Auch, um zu vertuschen, dass es kein Volksaufstand war, sondern eine kriminelle Attacke zum Sturz der Regierung. Da gab es auch sehr gut organisierte Schlägertrupps. Sie haben sich Kämpfe mit der Polizei geliefert, bis vor die Bühne, die von Oligarchen kontrolliert wurde. Natürlich wurden die Organisatoren der Proteste, die auch die Aktivisten zum Maidan gebracht haben, in bar bezahlt.«(343)

Das unbedachte und brutale Vorgehen der Sicherheitskräfte führte mehrfach zu Eskalationen. Als Reaktion auf das Vorgehen der Berkut, einer Aufstandsbekämpfungseinheit der Polizei, begannen antirussische Extremisten bewaffnete Gruppen zu bilden, die ihrerseits Angriffe auf die Polizei verübten.(344) Jedoch kam der zentrale Anlass für das Umschlagen der Proteste in Gewalt aus der Politik. Am 16. Januar 2014 verabschiedete das Parlament scharfe Anti-Demonstrations-Gesetze, die drakonische Strafen für »Unruhestifter« vorsahen. Sie wühlten die Stimmung unter den Protestierenden zusätzlich auf und sorgten für weitere gewaltsame Konfrontationen mit der Polizei. In der Nacht vom 19. auf den 20. Januar kam es zu gewalttätigen Zusammenstößen, die eine explosive Lage schufen. Am 22. Januar wurde der erste Demonstrant getötet. Nun verwandelte sich die Protestbewegung in eine Revolution. Den weiteren Verlauf bestimmten zunehmend rechtsextreme Gruppen. Sie stellten das Rückgrat der militanten Hundertschaften dar, die Ende November 2013 gebildet wurden, und wurden verstärkt aus dem Westen des Landes. Täglich wurden mehrere Hundert bewaffnete Ultranationalisten aus den Regionen Lwiw, Wolyn und Ternopil nach Kiew gebracht.(345) Ab Januar gingen sie in die Offensive und griffen die Polizei mit Metallstangen, Baseballschlägern und Molotowcocktails an. Aus den geplünderten Militär- und Polizeidepots im Westen, vor allem in Lwiw, Ternopil und Iwano-Frankiwsk, stammten »massive Mengen an Waffen«, so Volodymyr Ishchenko, »die später in den Zusammenstößen mit der Polizei in Kiew zum Einsatz kamen«.(346)

Am 14. Februar 2014 entließ die Regierung 234 Demonstranten und schlug eine Amnestie für alle kriminellen Übergriffe während der Revolte vor. Doch es war zu spät. Vier Tage später, am 18. Februar, warfen Rechtsextreme während eines Marsches auf der Institutskaja Molotowcocktails auf Polizeieinheiten. Sie setzten die Zentrale der Partei der Regionen in Brand und töteten einen Mitarbeiter. Von nun an war die Anwesenheit bewaffneter Faschisten Bestandteil der Proteste. An diesem Tag wurden 1 200 zusätzliche Waffen, darunter Kalaschnikow-Sturmgewehre, von den Aufständischen in Lwiw erbeutet und ein Großteil davon nach Kiew gebracht. Dies war der entscheidende Wendepunkt, an dem der Aufstand eine paramilitärische Form annahm und sich in einen Staatsstreich verwandelte.(347) Dass auch viele Neofaschisten aus EU-Ländern auf den Maidan strömten, störte westliche Politiker nicht.(348) Aus einer zivilen Protestbewegung war ein bewaffneter Kampf geworden. Anführer der Selbstverteidigungskomitees, bekannt als »Kommandant«, war der Rechtsextremist Andrij Parubij, einer der Gründer von Swoboda. Als die Nacht hereinbrach, waren bereits 28 Menschen erschossen worden, darunter zehn Bereitschaftspolizisten. Der Schusswinkel führte zur Philharmonie, wo Parubij das Kommando hatte. Zwei Tage später eskalierte die Gewalt dramatisch. Mindestens 39 Demonstranten und 17 Polizisten wurden von Heckenschützen ermordet. Ihre Basis hatten sie im Hotel Ukraina und in anderen Gebäuden, die unter der Kontrolle von Parubijs Hundertschaften standen. Im Gegensatz zur westlichen Version, der zufolge das Feuer von der Polizei eröffnet worden sei, kommt Iwan Katschanowski in einer detaillierten Analyse zu dem Ergebnis, dass »das Massaker eine Operation unter falscher Flagge war, die wohlüberlegt, geplant und ausgeführt wurde mit dem Ziel, die Regierung zu stürzen und die Macht zu übernehmen«. Katschanowskis Untersuchung nennt »eine Reihe von Beweisen für die Einbindung einer Allianz rechtsextremer Organisationen, speziell des Rechten Sektors und von Swoboda, sowie oligarchischer Parteien wie Vaterland. Versteckte Schützen und ihre Spotter wurden in mindestens 20 vom Maidan kontrollierten Gebäuden beziehungsweise Bereichen festgestellt«.349 Basierend auf konkreten Beweisen kommt Katschanowski zu dem Schluss, dass die Morde darauf abzielten, insbesondere in den USA und Polen Unterstützung für den Aufstand zu mobilisieren. Im Juli 2015 brach die Anklage gegen zwei Berkut-Polizisten wegen der Tötung von 39 Demonstranten am 20. Februar 2014 zusammen, als Zeugen aussagten, dass die Schüsse nicht aus Positionen der Berkut abgefeuert wurden, sondern aus Gebäuden, die von der Opposition besetzt waren. Das Kaliber stimmte mit deren Waffen überein. Doch das schien die westliche Presse nicht zu interessieren.(350)

Während dieser Zeit standen die militanten Kräfte kontinuierlich in Kontakt mit Vertretern der EU und der
Vereinigten Staaten. Bevor sie im Hotel Ukraina auf dem Maidan Position bezogen, trafen sich drei georgische Scharfschützen unter anderem mit einem ehemaligen US-Soldaten in der Uniform der 101. Airborne Division der US Army namens Brian Christopher Boyenger, der als Instrukteur mitwirkte. Gleichzeitig hatte US-Botschafter Geoffrey Pyatt ständigen Kontakt mit dem Faschistenführer Andrij Parubij, der von Boyenger wusste. Deshalb war auch der US-Botschafter sehr wahrscheinlich informiert. Der kanadische Menschenrechtsanwalt Christopher Black sieht darin den Beleg, dass die Maidan-Massaker eine militärische Operation waren, an der auch Kräfte beteiligt waren, die der NATO nahestehen, und dass sie von US- und NATO-Kräften geplant und organisiert wurden. (351)

Auch Dmitrij Wasilez hat diese Vorgänge beobachtet. Er urteilt kurz und bündig: »Auf dem Maidan haben wir einen Staatsstreich, einen militärisch durchgeführten Putsch erlebt. Im Zentrum von Kiew wurden viele Menschen erschossen. Die Nationalisten haben Regierungsvertreter verfolgt. Für mich ist klar, wer auf dem Maidan geschossen hat. Es sind jene, die nachher die Macht ergriffen haben: Parasjuk, Jazenjuk, Turtschinow, Poroschenko. Diese Gruppen waren direkt verbunden mit westlichen Organisationen und Geheimdiensten. Ich habe gesehen, dass bei diesem Staatsstreich Leute an die Macht kamen, denen es nicht um die Souveränität der Ukraine ging, sondern darum, nur noch Befehle aus Übersee auszuführen.«

In der Nacht vom 20. auf den 21. Februar 2014 verhandelten die Außenminister von Deutschland, Polen und Frankreich, Frank-Walter Steinmeier, Radosław Sikorski und Laurent Fabius, in Kiew mit Janukowytsch über einen Deal, um eine weitere Eskalation zu verhindern. Die Vereinbarung sah einen sofortigen Waffenstillstand, eine Untersuchung der Gewalttaten und einen Gewaltverzicht aller Seiten vor. Doch gleichzeitig arrangierten US-Diplomaten die tatsächliche Machtübernahme. Mit dabei war auch die Vertreterin des US-Außenministeriums Victoria Nuland, die in ständiger Verbindung mit dem NATO-Oberbefehlshaber General Philip Breedlove stand. Auch die deutsche Seite war eingebunden: Ihr Botschafter in Kiew, Christof Weil, der auch jahrelang bei der NATO in Brüssel gearbeitet hat, leitete ein Treffen, an dem US-Botschafter Pyatt, weitere NATO-Diplomaten und der Kopf der Maidan-Ultras und Kommandeur ihres 12 000 Mann starken bewaffneten Arms, Andrij Parubij, teilnahmen. Parubij erschien im Kampfanzug mit Sturmhaube und drohte mit weiterer Eskalation, »wenn die westlichen Regierungen keine entschiedenen Aktionen gegen Janukowytsch  unternehmen«.(352) Das war keine leere Drohung. Auf dem Maidan drohte einer seiner Staffelführer und Kommandeur einer der Heckenschützeneinheiten, Wolodymyr Parasjuk, vor einer wütenden Menge mit gewaltsamen Schritten, wenn Janukowytsch nicht bis Samstag, dem 22. Februar, zurücktrete. Dmytro Jarosch vom Rechten Sektor las eine Liste von Waffen vor, mit der man dieser Forderung Nachdruck verleihen könne. Das alles schien Teil einer Doppelstrategie zu sein: Die einen wickeln Janukowytsch ein, die anderen wetzen die Messer.

Im Ergebnis wurden 5 000 Berkut-Polizisten und weitere Spezialkräfte aus der Stadt eskortiert. Die Aufständischen übernahmen die Kontrolle in Kiew und im Parlament.(353) Am Abend des 21. Februar floh Janukowytsch per Hubschrauber nach Charkiw. Allerdings hatte der russische Geheimdienst erfahren, dass ukrainische Ultras unterwegs waren, um ihn zu ermorden. Daher setzte er seine Flucht nach Russland fort. In Rostow rief er Moskau dazu auf, einzugreifen und seine Macht wiederherzustellen. Falls Putin je die Absicht gehabt hätte, einzumarschieren und die Ukraine unter seine Kontrolle zu bringen, wäre dies der ideale Zeitpunkt gewesen. Nichts dergleichen geschah. Damit wurde, so Diana Johnstone, der Maidan zu einem »perfekt ausgeführten Regime Change«: »Die Massen an Demonstranten, deren genaue Forderungen niemals verdeutlicht worden waren und deshalb auch nicht erfüllt werden konnten, lieferten die ›demokratische‹ Rechtfertigung für den Sturz einer gewählten Regierung, während die mysteriösen Heckenschützen für den notwendigen Nebel der Verwirrung sorgten, damit ein nicht verfassungsmäßiger Staatsstreich stattfinden konnte.«354 Keine der politischen Gruppen, die an der Maidan-Revolte beteiligt waren, hatte einen stabilen Rückhalt in der Bevölkerung – außer der rechtsextremen Swoboda in der Westukraine.(355)

Brüssel und Washington erkannten die neue Regierung sofort an. Unter Aufsicht bewaffneter Kräfte wurde Arsenij Jazenjuk, der den Segen der USA hatte, zum Ministerpräsidenten ernannt. Bei der Etablierung der neuen Regierung wurden die Regeln der Verfassung mehrfach verletzt. Die vorgesehene Dreiviertelmehrheit für ein Amtsenthebungsverfahren wurde nicht erreicht. Von den 21 Mitgliedern des neuen Kabinetts kamen lediglich zwei aus dem Süden und Osten der Ukraine. Dadurch war der russisch-ukrainische Teil des Landes faktisch nicht mehr repräsentiert. Die neofaschistische Swoboda, die nur acht Prozent der Parlamentssitze besaß, stellte fünf der 21 Kabinettsangehörigen sowie fünf Gouverneure, die ein Fünftel des Landes abdeckten. Stellvertretender Ministerpräsident wurde der Neofaschist Oleksandr Sych. Andrij Parubij, Mitbegründer der faschistischen SNPU und Anführer des bewaffneten Aufstands, der am 20. Februar die Machtübernahme mit den US- und NATO-Botschaftern ausgehandelt hatte, wurde zum Sekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungskomitees ernannt und war somit für die Aufsicht über das Verteidigungsministerium, die Streitkräfte, die Strafverfolgungsbehörden und die Geheimdienste verantwortlich. Arsen Awakow wurde Innenminister und Kommandeur der Freiwilligenmilizen, die aus den Selbstverteidigungseinheiten des Maidan rekrutiert wurden. Er hatte sich als Verwalter in der Region Charkiw einen Namen gemacht, indem er Hooligans gegen seine Gegner einsetzte. Unter den Oligarchen waren vor allem die US-orientierten Ihor Kolomojsky, Petro Poroschenko und Wiktor Pintschuk die Gewinner. Auch Achmetow hatte Janukowytsch im entscheidenden Moment die Unterstützung entzogen. Dmytro Firtasch wurde Mitte März ausgeschaltet, als er in Wien aufgrund eines US-Auslieferungsbegehrens verhaftet wurde. Kolomojsky wurde nach dem Putsch zum Gouverneur von Dnipropetrowsk ernannt, und die Schlüsselministerien für Finanzen und Energie wurden mit seinen Vertrauten besetzt. Sie richteten ihre Politik an den Forderungen des IWF aus und kürzten Renten, schafften das Kindergeld ab und entließen Beamte.(356)

Noch einmal der Augenzeuge Dmitrij Wasilez: »Ich habe wirklich einen klassischen Staatsstreich erlebt. Eine Gruppe von Oligarchen wurde mithilfe des internationalen Finanzkapitals gestürzt, eine Gruppe, welche die Schaukelpolitik zwischen Russland und Europa fortsetzen wollte. Das internationale Finanzkapital hat mithilfe seiner politischen Strukturen, in erster Linie mit der US-Botschaft als Lokomotive und einer Reihe von NGOs, die von den USA bezahlt wurden, einen Machtwechsel herbeigeführt, um die Ukraine umzubauen zu einem Bollwerk für eine künftige Konfrontation mit Russland.« Inmitten der Stimmung des ethnisch-ukrainischen Triumphes schaffte das Parlament am 23. Februar 2014 das Gesetz über die Verwendung von Zweitsprachen ab. Damit wurde Ukrainisch wieder zur alleinigen Amtssprache, auch auf regionaler Ebene. Das brachte das Fass zum Überlaufen: Während bewaffnete Banden die Büros der Partei der Regionen und der Kommunistischen Partei plünderten und Videos kursierten, die Beamte zeigten, die in Mülltonnen geworfen und geschlagen wurden oder noch Schlimmeres erfuhren, wuchs die Angst in der russischsprachigen Bevölkerung. All dies war im Februar nichts Neues mehr: Seit Beginn des Maidan machten Demonstranten Jagd auf sogenannte »Tituschki«. (357) Das waren arme, meist arbeitslose Jugendliche, die von der Regierung als Provokateure angeheuert wurden, um Demonstranten zu bedrohen oder anzugreifen – oft zusammen mit der Polizei. Aber die Jagd auf »Tituschki« war wohlorganisiert.(358) Ende Januar waren die Proteste zu regelrechten Straßenkämpfen eskaliert, bei denen paramilitärische Neonazi-Gruppen auch Gewerkschafter und Anarchisten unter den Demonstranten mit Äxten und Schlagstöcken angriffen.(359) Die Zahl der politischen Morde nahm zu: Im August 2014 wurde Walentina Semenjuk, die Vorsitzende des Fonds zur Privatisierung von Staatsvermögen, ermordet – angeblich Suizid. Im März 2015 starb der ehemalige Gouverneur von Saporischschja, Alexander Pekluschenko – angeblich auch Selbstmord. Am 15. April 2015 wurde Oleh Kalaschnikow, ein führendes Mitglied der Partei der Regionen, erschossen, am Tag darauf der Journalist und Historiker Oles Busina. Viele andere Oppositionelle landeten im Gefängnis, zahlreiche Organisationen, Parteien und Medien wurden verboten. Die ukrainische Menschenrechtlerin Larissa Schessler: »In der Ukraine gibt es heute kein freies Wort. Es gibt keine Freiheit für politische Organisationen. Es wurde eine totale Diktatur errichtet.«(360) Hunderttausende Oppositionelle haben bis heute die Ukraine verlassen und sind ins Ausland geflohen.


Mit der Welle der Gewalt war die Büchse der Pandora geöffnet. Bewaffnete ultranationalistische Gruppen zogen marodierend durch das Land, plünderten Büros der Partei der Regionen und der Kommunisten, bedrohten und schlugen Beamte. Dies versetzte die russischsprachige Bevölkerung in Angst und Schrecken und führte letztendlich zum Referendum auf der Krim. Angesichts der Machtübernahme in Kiew diskutierte das Parlament der Krim am 26. Februar 2014 die Durchführung eines Referendums über eine Trennung von der Ukraine. Es ging vor allem darum, die Krim-Bewohner vor randalierenden ukrainischen Banden zu schützen. In prorussischen Organisationen konnten Freiwillige für Selbstverteidigungsmilizen unterschreiben. Bereits bei der Auflösung der Sowjetunion war die Krim aufgrund der russischen Bevölkerungsmehrheit und der zweifelhaften Übertragung der Halbinsel durch Chruschtschow im Jahr 1954 auf Distanz zur Ukraine gegangen. Im Januar 1991 stimmten 93 Prozent für eine separate Krim-Republik. Die Unabhängigkeitserklärung der Ukraine erfolgte erst im August 1991. Im Dezember wurde dieser Schritt in einem Referendum bestätigt, wobei die Zustimmung auf der Krim deutlich geringer war als im Rest des Landes. Im Mai 1992 erklärte die Halbinsel ihre Unabhängigkeit, jedoch wurde kein Referendum dazu abgehalten. Trotzdem etablierte die Krim Institutionen der Selbstverwaltung. Am 17. März 1995 setzte Kiew die Verfassung der Krim außer Kraft und schickte Spezialkräfte zur Absetzung des dortigen Präsidenten. Dadurch hat die Ukraine selbst den Status der Krim missachtet und die Halbinsel de facto annektiert.(361) In den westlichen Medien findet dies kaum Beachtung. In der Verfassung von 1996 gewährte Kiew der Krim den Status einer Autonomen Republik, den sie bis 2014 behielt.

Die faschistischen Übergriffe bereiteten den Verantwortlichen in Moskau große Sorgen hinsichtlich der Zukunft der strategisch wichtigen Marinebasis auf der Krim, dem Stützpunkt der russischen Schwarzmeerflotte. Ein Auftauchen von NATO-Marineeinheiten vor Sewastopol hätte das Schwarze Meer in eine westliche Domäne verwandelt. Die Vorstellung, dass die Krim zur Basis der sechsten US-Flotte im Mittelmeer werden und Washington dort Kampfbomber oder Atomraketen stationieren könnte, wurde im Kreml als eine äußerst bedrohliche betrachtet. Aus diesem Grund entsandte Moskau bereits Anfang Februar einen geheimen Sondergesandten, Wladimir Surkow, auf die Krim. Am 3. März wurde im engsten Kreis des Kremls die Entscheidung getroffen, der Bitte der Abgesandten des Krim-Parlaments zu folgen und die Halbinsel nach einem Referendum zu übernehmen. (362) Es gab keinen Zweifel daran, dass Russland nach der Unterstützung des Putsches in Kiew durch Washington entschlossen war, seine eigenen Interessen zu wahren und den Schutz seiner eigenen Landsleute ohne Rücksicht auf ukrainische Verfassungsprozeduren sicherzustellen.(363)

Am 28. Februar tauchten an strategisch wichtigen Punkten der Krim Militärs ohne Hoheitsabzeichen auf . Sie gaben vor, lokale Freiwillige zu sein. In Wahrheit handelte es sich jedoch um russische Spezialkräfte. Geführt wurden die »kleinen grünen Männchen« von Oberstleutnant a. D . Dmitry Utkin, der zuvor eine Spezialeinheit des Militärgeheimdienstes GRU geführt hatte und später die Söldnertruppe Wagner mitgründete.364 12 500 russische Soldaten waren auf der Krim stationiert, 25 000 waren nach dem Stationierungsabkommen erlaubt. Diese Kräfte sicherten das Referendum am 16. März über die Sezession ab. Der Wahlkommission zufolge nahmen 83 Prozent der Bevölkerung an der Abstimmung teil, wobei 96,7 Prozent für die Vereinigung mit Russland stimmten. Es gab auch in Russland Zweifel am Ergebnis. Unstrittig ist jedoch, dass eine Mehrheit für den Anschluss an Russland gestimmt hat. Am 18. März wurde der Vertrag über den Beitritt zur Russischen Föderation unterzeichnet, am 21. März wurde der Beitritt vollzogen.(365) Als Reaktion darauf sperrte Kiew die Wasserversorgung und vernichtete damit die Reisernte eines Jahres.

Noch einmal Dmitrij Wasilez: »Auf der Krim lehnten viele den Putsch in Kiew ab. Die Menschen wollten nicht hinnehmen, was ihnen von der US-Botschaft aufgezwungen werden sollte. Das Referendum war sehr transparent, es el auch kein einziger Schuss. Das zeigt, dass die Menschen wirklich so empfunden haben, wie es das Abstimmungsergebnis zeigt.« Wegen Äußerungen wie dieser wurde auch Dmitrij Wasilez verhaftet und musste schließlich das Land verlassen. Der Anschluss der Krim markierte eine radikale Wende in der russischen Außenpolitik, aber das Drehbuch dafür wurde von der NATO auf dem Balkan geschrieben: Im Jahr 1992 hatten die Europäische Gemeinschaft und die USA die Loslösung Bosnien-Herzegowinas von der Republik Jugoslawien auf Basis eines Referendums anerkannt, das von der serbischen Minderheit boykottiert worden war.(366) Im Jahr 2010 billigte der Internationale Gerichtshof in Den Haag die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo vom 17. Februar 2008, obwohl das Völkerrecht mit der Resolution 1244 des UN-Sicherheitsrates das Kosovo als Territorium Serbiens betrachtet und die Sezession mit dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der NATO gegen Serbien 1999 erzwungen worden war.(367) Darüber hinaus gab es auch völkerrechtswidrige Angriffskriege und erzwungene Regimewechsel im Irak und in Libyen. Moskau folgte nun dem Beispiel des Westens. Das Referendum stellte einen Bruch der ukrainischen Verfassung dar. Allerdings hatte der Westen selbst zuvor die ukrainische Verfassung verletzt, indem er den Putsch in Kiew unterstützte. Die NATO hatte das Völkerrecht für ihre eigenen Angriffskriege längst außer Kraft gesetzt. Dies hinderte den kollektiven Westen nicht, von einer »völkerrechtswidrigen Annexion« der Krim zu sprechen. (368)

Tatsächlich wurden die internationalen Standards missachtet: Bewaffnete Kräfte spielten eine Rolle, die
Abstimmung wurde übereilt durchgeführt, die Auszählung war nicht transparent, unabhängige internationale Beobachter gab es nicht.(369) Allerdings hatten die Behörden der Krim am 10. März 2014 die OSZE um die Entsendung von Wahlbeobachtern gebeten. Doch die Organisation lehnte ab. Dies wurde zur gängigen Praxis des Westens: die Entsendung von Wahlbeobachtern ablehnen, um die Wahlen allein aus diesem Grunde für unrechtmäßig zu erklären.(370) Das Völkerrecht selbst ist widersprüchlich: Es schützt das Selbstbestimmungsrecht der Völker genauso wie die territoriale Integrität der Staaten. Es gibt keine Norm, die das Sezessionsrecht bejahen oder verbieten würde. Deshalb ist seine Auslegung umstritten. Der Strafrechtler Reinhard Merkel: »Sezession, Referendum und Beitritt schließen eine Annexion aus … Auch die Sezessionserklärung selbst verletzt keine völkerrechtliche Norm und könnte dies gar nicht. Sezessionskonflikte sind eine Angelegenheit innerstaatlichen, nicht internationalen Rechts … Die Zwangswirkung der russischen Militärpräsenz bezog sich weder auf die Erklärung der Unabhängigkeit noch auf das nachfolgende Referendum. Sie sicherte die Möglichkeit des Stattfindens dieser Ereignisse; auf deren Ausgang hatte sie keinen Einfluss.«(371) Karl Doehring legt das
Selbstbestimmungsrecht als Notwehrrecht aus: Wenn eine ethnische Gruppe in fundamentaler Weise diskriminiert werde, dann habe sie ein Recht auf Sezession. (372) Die Debatte zeigt, dass das Völkerrecht selbst zur Waffe im Propagandakrieg geworden ist, genauso wie der Putsch auf dem Maidan: Er war es, der die Ukraine in die Zerreißprobe stürzte und schließlich in den Abgrund des Krieges.