Das Selbstverständnis der russischen Juden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beschrieb W. E. Jabotinsky in den 1920er-Jahren in seiner etwas überspannten emotionalen Art folgendermaßen: Zunächst hatten die jüdischen Massen der Aufklärung einen »fanatischen Irrwahn übertriebener Eigenständigkeit« entgegengesetzt. Doch die Zeit verging und »so sehr sich die Juden vormals vor der humanistischen Aufklärung gefürchtet hatten, so sehr dürsteten sie nun danach … und wir, die russischen Juden, sind vielleicht das Volk auf der Welt… mit dem aller stärksten Wissensdurst«. Doch »kaum am Ziel, jagten wir mit vollem Schwung weiter. Das Ziel war es gewesen, einen Juden zu schaffen, der als Jude ein ganz normales Leben führen könnte«, doch »wir haben nunmehr … völlig vergessen, dass wir dabei doch Juden bleiben müssen«, »wir haben die Wertschätzung für unser jüdisches Innerstes verloren und begonnen, es als Last zu empfinden«. Und er ruft dazu auf, »den Geist der Selbstverachtung zu vertreiben und den Geist des Selbstbewusstseins wieder zu erwecken … Wir beklagen uns, dass man uns verachtet, und verachten uns dabei beinahe selbst. «

Diese Beschreibung erfasst zwar die Hauptströmung der Assimilationsbewegung, zeigt aber nicht alle Seiten des Bildes. Wie wir schon in Kapitel 4 gesehen haben, brachte der Publizist und Belletrist Perez Smolenskin schon am Ende der 1860er-Jahre seine scharfe Ablehnung für die Assimilationsbewegung in der jüdischen Intelligenzija zum Ausdruck, die zunächst in Odessa zu beobachten war und später in Deutschland zutage trat. Er erklärte damals ohne Umschweife sowohl den »bigotten Heuchlern, die sich bemühen, jedwede Wissenschaft aus dem Hause Jakobs zu tilgen«, wie auch den »aufgeklärten Heuchlern, die mit süßen Reden versuchen, die Söhne Israels vom Erbe der Väter zu entfernen«, den Krieg. Nein, man habe sich seiner Herkunft nicht zu schämen, man müsse seine Sprache und seine nationale Würde hochhalten, und die nationale Kultur könne nur mithilfe der hebräischen Sprache bewahrt werden. Dies sei umso wichtiger, als das »seines Territoriums beraubte jüdische Volk« eine besondere Art »geistiger Nation« sei. Das Judentum sei nämlich eine Nation und keine religiöse Glaubensgemeinschaft. Smolenskin gab die Doktrin des »jüdischen progressiven Nationalismus« aus.

Smolenskins Stimme verhallte jedoch die ganzen 70er-Jahre hindurch weitgehend ungehört. Wohl blieb am Ende der 70er-Jahre die Befreiung der Slawen auf dem Balkan nicht ohne Einfluss auf das nationale Erwachen auch der russischen Juden. Nach den Pogromen der Jahre 1881/82 brachen die Ideale der Haskala weg, und »der Glaube, dass die Zivilisation den mittelalterlichen Judenjagden ein Ende machen würde und dass es den Juden glücken würde, sich vermittels der Aufklärung den europäischen Völkern anzunähern, war erheblich ins Schwanken geraten. «(Übertrug sich die Erfahrung der Pogrome in der Südukraine allmählich auf die ganze europäische Erfahrung der Juden?) Unter den russischen Juden »bildete sich ein bestimmter Typ des >reumütigen< Intellektuellen heraus, der sich wieder dem traditionellen Judentum zuwandte. «

Schon 60-jährig trat der einflussreiche Publizist und Arzt Leon Pinsker mit seinem energischen Aufruf an die russischen und deutschen Juden zur »Autoemanzipation« an die Öffentlichkeit. Pinsker schrieb, dass der Glaube an die Emanzipation zerbrochen sei und nun auch noch der letzte Funke eines Glaubens an die Brüderschaft der Völker ausgelöscht werden müsse. Heutzutage »sind die Juden keine lebende Nation; sie sind überall Fremde, daher sind sie verachtet«. Das jüdische Volk stehe »unter den lebenden Nationen der Erde … als eine schon seit langem abgestorbene Nation da«. »Man müsste mit Blindheit geschlagen sein, um zu behaupten, dass die Juden nicht das auserwählte Volk des allgemeinen Hasses sind. « Die Juden könnten »von keiner Nation assimiliert werden, demgemäß auch von keiner Nation gut vertragen werden«. »Indem sie mit anderen Völkern zu amalgamieren suchten, haben sie sich gewissermaßen mutwillig ihrer eigenen Nationalität begeben. Nirgends aber haben sie es durchgesetzt, dass sie von ihren Mitbürgern als ebenbürtige Eingeborene anerkannt worden wären. « Die Geschicke der Juden dürften nicht von der Gnade anderer Völker abhängen. Der praktische Ausweg sei die Schaffung eines »Volkes auf eigenem Grund und Boden«. Mithin sei es erforderlich, irgendein geeignetes Territorium zu erwerben und mit Juden zu besiedeln, egal in welchem Teil der Welt.

Die Gründung der Alliance Israelite Universelle 1860 in Paris war ebenso ein erstes Anzeichen für die Abwendung der Juden von der ausschließlichen Zielrichtung der Assimilation.

Auch die Palästinophilie-Bewegung, das Bestreben also, nach Palästina zurückzukehren, trat unter den russischen Juden bereits auf, wenn auch noch in geringem Maße. (Was ja auch die Erfüllung der gebetshaften Grußformel »Nächstes Jahr in Jerusalem!« wäre. ) Und diese Bewegung wurde nach 1881/82 sichtlich stärker. »Nach der Kolonisierung Palästinas streben … , damit die Juden im Verlaufe eines Jahrhunderts fast endgültig das wenig gastfreundliche Europa hinter sich lassen können. « Frühere Losungen der Aufklärer, die zum Kampf »gegen Orthodoxie, Chassidismus und religiösen Fanatismus [aufriefen], wichen dem Aufruf zur Aussöhnung und Einigung der Juden aller Gesellschaftsschichten zur Verwirklichung der Ideale« Palästinas und »für die Rückkehr zum alten Judentum«. »In vielen Städten Russlands entstanden Zirkel der >Freunde Zions<« – die »Chowewe Zion«. Und so mengte sich ein Gedanke zum anderen und modifizierte ihn. Umsiedeln ja, aber nicht irgendwohin, sondern nach Palästina.

Und wie standen die Dinge in Palästina selbst? »Der erste Kreuzzug hatte zur fast völligen Vernichtung der Reste jüdischer Bevölkerung in Palästina geführt. « Gleichwohl »vermochte die winzige jüdische Glaubensgemeinschaft den Zusammenbruch des Kreuzfahrerstaats, die Eroberung Palästinas durch die Mamelucken wie auch den Einfall der Mongolenheere zu überstehen«. »In den folgenden Jahrhunderten« wuchs die jüdische Bevölkerung durch den langsamen Zustrom von »Gläubigen aus verschiedenen Ländern«. Am Ende des 17. Jahrhunderts emigrierten einige Chassidim aus Russland dorthin. »In der Mitte des 19. Jahrhunderts zählte man in Palästina 12.000 Juden« — gegen Ende des 11. Jahrhunderts waren es noch 25.000. »Zusammengenommen nannte sich diese jüdische Bevölkerung im Lande Israels >Jischuw<. « Und alle diese Leute (die Männer) widmeten sich ausschließlich dem Studium des Judaismus und nichts anderem, wobei sie von der »Chalukka« lebten, also von Gaben aus den jüdischen Gemeinden Europas. Diese Gaben wurden von den Rabbinern verteilt, die darin absolute Macht hatten. Die Anführer des Jischuws »wiesen jedweden Versuch zurück, im Lande wenigstens Anfänge produktiver jüdischer Arbeit entstehen zu lassen«. Studiert wurde dabei ausschließlich der Talmud, nichts anderes, und selbst dies auf niedrigem Niveau. »Der bekannte jüdische Historiker Heinrich Graetz, der Palästina 1872 bereist hatte«, fand, dass »wenige tatsächlich Studien treiben, während es die Mehrzahl vorzieht, auf der Straße herumzubummeln, auf der faulen Haut zu liegen, zu schwatzen und zu klatschen«. Er befand, dass »dieses System zu Obskurantismus, Armut und Degeneration der jüdischen Bevölkerung in Palästina führt«, – und wurde dafür selbst »unverzüglich mit dem >Cherem< belegt«.

Im Jahr 1882 entstand in Charkow der palästinophile Studentenzirkel »Bilu«. Die Bilu-Mitglieder setzten es sich zum »Ziel, in Palästina eine landwirtschaftliche Musterkolonie zu gründen«, um »ein Signal zur allgemeinen jüdischen Kolonisierung Palästinas« zu geben. Sie begannen solche Zirkel in verschiedenen Städten Russlands ins Leben zu rufen. (Später gründeten sie auch eine Art erste Kolonie in Palästina, doch stießen sie auf Ablehnung und Widerstand des alten Jischuws. Die Rabbiner verlangten, dass die Landbewirtschaftung nach altem Brauch alle sieben Jahre unterbrochen werde. )

Leon Pinsker unterstützte die Palästinophilen, berief 1884 in Kattowitz den ersten palästinophilen Kongress und 1887 in Druskeniki den zweiten. Durch den jüdischen Ansiedlungsrayon begannen Agitatoren zu reisen, die in den Synagogen und bei öffentlichen Versammlungen Reden hielten. (Deutsch berichtet, dass sich nach 1881 selbst P. Axelrod für die Palästinophilie begeisterte! … )

Ein leidenschaftlicher Apostel der palästinophilen Bewegung wurde selbstredend auch Smolenskin. Er unterhielt rege Kontakte zu bekannten anglo-jüdischen Persönlichkeiten, und als er auf Widerstand der Alliance Israelite Universelle stieß, die nicht die Kolonisierung Palästinas, sondern eine jüdische Emigrationswelle nach Amerika wünschte, erklärte er diese Taktik der Allianz zum »Verrat an der Sache des Volkes«. Der frühe Tod Smolenskins setzte seinen Bemühungen ein jähes Ende.

Trotz alledem fand die palästinophile Bewegung in diesen Jahren unter den russischen Juden nur schwache Resonanz, stieß gar auf Widerstand. »Die Idee einer politischen Wiedergeburt des Volkes konnte in dieser Zeit nur eine unbedeutende Gruppe der Intelligenzija begeistern und fand bald überzeugte Widersacher. « Die konservativen Kreise, sowohl das Rabbinat als auch die Zaddikim, sahen in der Palästinaströmung ein Vergehen am göttlichen Willen, einen »Anschlag gegen den Glauben an den Messias, der allein die Juden nach Palästina Zurückzufuhren hat. Die Fortschrittlichen unter den Assimilationsbefürwortern sahen in der Palästinophilie einen reaktionären Versuch, die Juden von der ganzen kultivierten Menschheit abzusondern«.

Die europäischen Juden unterstützten die Bewegung ebenfalls nicht.  Zu dieser Zeit erschienen die praktischen Erfolge der Palästinophilie vor Ort als »allzu bedeutungslos«; »viele der Kolonisten erkannten ihre mangelnde Eignung zur landwirtschaftlichen Arbeit«; »das Ideal der Wiedererstehung der alten Heimat war zu einer kleinen Wohltätigkeitsaktion zusammengeschrumpft:«; »die Kolonien überlebten nur dank der großzügigen Subsidien des Barons Edmond Rothschild« (der in Paris lebte). Doch gerade dadurch wurden die Kolonisten »zu bevormundeten, einer strengen Disziplin unterworfenen Tagelöhnern«. Zu Anfang der 90er-Jahre »erlebte die Kolonisierung … eine schwere Krise, die durch ungeordneten und unsystematischen Landkauf« hervorgerufen worden war, sowie durch einen Erlass der damals in Palästina herrschenden Türken, der russischen Juden die Ausschiffung aus palästinischen Häfen untersagte.

Unter den Palästinophilen tat sich damals der Publizist, Denker und Organisator Ascher Ginzberg hervor, der ab 1889 unter dem klangvollen hebräischen Pseudonym Achad Haam (»einer aus dem Volke«) auftrat und seither bekannt wurde. Die Palästinophilie, so wie sie sichin der Praxis ausprägte, kritisierte er scharf. Seine Auffassung war: »Bevor Anstrengungen zur Wiedergeburt im Land< unternommen werden, muss für eine Wiedergeburt der Herzen Sorge getragen werden, für eine geistige und moralische Vervollkommnung des Volkes«; »im Innersten des Judentums ein lebendiges geistiges Streben nach Einung der Nation verwurzeln, nach ihrer Erweckung und freien Entwicklung in einem nationalen Geist, doch auf den allgemein menschlichen Grundlagen«. Diese Denkweise wurde später als »geistiger Zionismus« (wohlgemerkt nicht als »religiöser«!) bezeichnet.

Ebenfalls 1889 gründete Achad Haam die Liga bzw. den so genannten Orden »Bnei Mosche« (»Söhne des Mose«) als Vereinigung der Anhänger einer Wiedergeburt jüdischer nationaler Gefühle. Die Statuten »ähnelten in vielem den Statuten der Freimaurerlogen: Beim Eintritt legte man unter Eid das Versprechen ab, alle Gebote der Statuten auf das Strengste zu erfüllen, neue Mitglieder wurden durch einen Meister, einen >älteren Brüdern, eingeweiht… Eintretende >Brüder< verpflichteten sich, der Idee der nationalen Wiedergeburt selbstlos zu dienen, selbst gegen die eigene Überzeugung, dass keinerlei Hoffnung auf die baldige Verwirklichung des Ideals bestand. « Im Manifest des Ordens wurde »das Primat des nationalen Bewusstseins vor dem religiösen und die Unterordnung persönlicher Interessen unter die nationalen« proklamiert und die Vertiefung der selbstlosen Liebe zum Judentum als höchstes aller Ziele der Bewegung verlangt. Der Orden bereitete den »Boden für die Verbreitung des politischen Zionismus« Herzls, den Achad Haam überhaupt nicht gewollt hatte. 1891, 1893 und 1900 unternahm Achad Haam Reisen nach Palästina und entlarvte die Systemlosigkeit und die Fundamentlosigkeit der damaligen Kolonisation Palästinas. »Er unterzog das diktatorische Verhalten der Angestellten des Barons [E. Rothschild] einer herben Kritik. «

So kam es, dass der Zionismus in Europa ein Jahrzehnt später als in Russland aufkeimte. Der erste Vorkämpfer des Zionismus, Theodor Herzl, war bis zu seinem 36. Lebensjahr (er wurde nur 44 Jahre alt) Schriftsteller, Dramaturg und Feuilletonist gewesen und hatte sich für die jüdische Geschichte nicht interessiert, er kannte sie kaum, geschweige denn die Sprache.

Bezeichnenderweise hielt er als guter österreichischer Liberaler das Streben einiger »zweitrangiger Völker« Österreich-Ungarns nach Selbstbestimmung und einem nationalen Leben für reaktionär und, fand es recht, sie niederzuhalten. Wie Stefan Zweig schreibt, trug sich Herzl gar mit dem Plan, die Wiener Juden zu einer Massentaufe »zur Stefanskirche zu führen« und damit »dem jüdischen Problem ein für alle Mal ein Ende zu bereiten, und zwar durch Vereinigung des Judentums mit dem Christentum«. Doch dann verstärkte sich in Österreich-Ungarn die antijüdische Stimmung und der Pangermanismus erhitzte die Gemüter, und in Paris, wo Herzl zu dieser Zeit lebte, flammte die Dreyfus-Affäre auf. Zufällig hatte Herzl »der öffentlichen Degradierung Alfred Dreyfus’ beigewohnt«. Er glaubte an dessen Unschuld, war erschüttert und änderte seinen Kurs: »Wenn Absonderung unvermeidlich ist, sagte er sich, dann eine vollkommene! … Wenn wir leiden an unserer Heimatlosigkeit, dann eine Heimat uns selbst aufbauen!« Herzl war wie auf einen Schlag von der Idee erfüllt, einen jüdischen Staat zu bilden. »Blitzartig erleuchtete Herzl ein neuer Gedanke: Der Antisemitismus war keine zufällige Erscheinung, die etwa nur in einer bestimmten Situation und zu bestimmten Bedingungen anzutreffen wäre, nein, er war das beständige Böse, der ewige Begleiter des Ewigen Juden«, und »die einzig mögliche Lösung der jüdischen Frage« war ein eigener jüdischer Staat. (Um nach Tausenden von Jahren der jüdischen Diaspora auf solch einen Plan zu kommen, dazu bedurfte es eines großen Höhenfluges der Phantasie und außergewöhnlicher Entschlossenheit!) Jedoch rief Herzls Schrift »Der Judenstaat« nach Zweigs Worten die »Verblüffung und Verärgerung der Wiener bürgerlich-jüdischen Kreise« hervor. »Was ist, sagten sie unwirsch, in diesen sonst so gescheiten, witzigen und kultivierten Schriftsteller gefahren? Was treibt und schreibt er für Narrheiten? Warum sollen wir nach Palästina? Unsere Sprache ist Deutsch und nicht Hebräisch, unsere Heimat ist das schöne Österreich«; Herzl »gibt unseren bösesten Feinden Argumente in die Hand und versucht uns zu sondern«. Kurz, »Wien … verließ und verlachte ihn sogar. Aber dann dröhnte Antwort mit solcher Wucht und Ekstase so plötzlich zurück, dass er beinahe erschrak, eine wie mächtige, ihn weit überwachsende Bewegung er mit seinen paar Dutzend Seiten in die Welt gerufen. Sie kam freilich … von den riesigen Massen des Ostens … Herzl hatte mit seiner Broschüre den unter der Asche der Fremde glühenden Kern des Judentums zum Aufflammen gebracht. «

In den verbleibenden Jahren seines Lebens verschreibt sich Herzl zur Gänze seiner neuen Idee, »bricht mit den ihm Nächststehenden und kommuniziert fortan nur mehr mit dem jüdischen Volk … Er, der noch vor so kurzer Zeit so leichtfertig die Politik verachtete, gründet nun eine politische Bewegung … , trägt Parteigeist und Disziplin in sie hinein, bildet die Kader einer künftigen riesigen Armee und wandelt die [Zionisten-] Kongresse in ein regelrechtes Parlament des jüdischen Volkes um. « Auf dem ersten Kongress im August 1897 in Basel macht er größten Eindruck auf »die Juden, die sich erstmals in der Rolle von Parlamentariern wiederfanden«, und »noch während seiner ersten Rede wurde er einstimmig und mit Begeisterung zum … Oberhaupt der zionistischen Bewegung ausgerufen«. Er zeigt sich auch »erstaunlich gewandt darin, versöhnliche Formulierungen zu finden«, doch zugleich: »wer seine Ziele kritisiert… oder einzelne seiner Schritte missbilligt, ist nicht nur ein Feind des Zionismus, sondern überhaupt des jüdischen Volkes«.

Und ganz effektvoll bestätigte ihn der »dekorative« Schriftsteller Max Nordau (Südfeld) in seiner Auffassung, dass die Emanzipation ein Irrweg sei, da sie das jüdische Volk spalte. Die emanzipierten Juden würden gar glauben, sie hätten sich tatsächlich eine Heimat erworben. Wo doch »alles, was an Leben im Judentum ist, alles, was ein jüdisches Ideal ist, Tapferkeit und die Fähigkeit zum Fortschritt, eben der Zionismus ist«.

Auf diesem ersten Kongress stellten die Vertreter des russischen Zionismus »ein Drittel der Teilnehmer … 66 von 197 Delegierten«, und das, obwohl dies von manchen als Opposition zur russischen Regierung angesehen werden konnte. Dem Zionismus schlossen sich sämtliche russischen »Chowewe Zion« an, womit sie »einen Beitrag zur Grundlegung der internationalen zionistischen Bewegung leistete[n]«. Somit schöpfte »der Zionismus seine Kräfte … aus den Kreisen des unterjochten Ostjudentums, derweil er nur begrenzte Unterstützung unter den Juden Westeuropas fand«. Doch ebenfalls von hier aus setzten die russischen Zionisten Herzl die gewichtigste Opposition entgegen. Achad Haam führte einen zähen Kampf gegen den politischen Zionismus Herzls (auf dessen Seite allerdings die Mehrheit der alten Palästinophilen stand) und kritisierte scharf den Pragmatismus Herzls und Nordaus und deren, wie er fand, »Entfremdung von den geistigen Werten der jüdischen Kultur und Tradition«. Er »hielt es für eine schimärische Hoffnung des politischen Zionismus, in naher Zukunft einen autonomen jüdischen Staat zu gründen. Er schätzte diese ganze Bewegung als äußerst schädlich für die Sache der geistigen Wiedergeburt der Nation ein … Sie kümmern sich nicht um die Rettung des zugrunde gehenden Judaismus, d. h. sie kümmern sich nicht um geistig-nationale undkulturell-historische Errungenschaften, streben nicht nach der Wiedergeburt des alten Volkes, sondern nach der Erschaffung eines neuen aus den verstreuten Bruchstücken der alten Materie. « (Er verwendet das Wort »Judaismus« und hebt es sogar hervor, doch ist beinahe offensichtlich, dass er es nicht im Sinne der Religion, sondern des ererbten geistigen Systems verwendet. Über Achad Haam sagt die Enzyklopädie, dass ersieh noch in den 70er-Jahren, »zunehmend vom Rationalismus durchdrungen, von der Religion abwandte«. ) Nach Achad Haams Überzeugung war die Bestimmung Palästinas lediglich, »ein geistiges Zentrum zu werden, welches das verstreute Volk mit nationalen geistigen Banden verbinden sollte«; ein Zentrum, »das sein >Licht< über das Judentum auf der ganzen Welt ergießen wird«, eine »neue geistige Gemeinschaft unter den verstreuten Teilen des Volkes« herstellen und weniger ein »Judenstaat« als eine »elitäre geistige Vereinigung« sein wird.


Die Streitigkeiten erschütterten die Zionisten. Achad Haam übte scharfe Kritik an Herzl. Zu dessen Unterstützung wiederum beschuldigte Nordau Achad Haam des »Geheimbundzionismus«. Die jährlichen internationalen Zionistenkongresse wurden fortgesetzt, 1902 fand in Minsk eine Tagung der russischen Zionisten statt, und auch hierher übertrugen sich die Streitigkeiten. Hier hielt Achad Haam seinen Vortrag »Geistige Wiedergeburt«.

Das Klima für den Zionismus wurde auch durch die Feindseligkeit von außen beeinträchtigt. Nach Herzls Erwartung würde die Verwirklichung des Programms der Zionisten und der Beginn der Übersiedlung nach Palästina sogleich allerorten zum Verschwinden des Antisemitismus führen. Doch noch bevor es zu einem derartigen Erfolg kam, »erhoben sich lauter als alles andere die Stimmen derer, die … fürchteten, dass das öffentliche Auftreten dieses assimilierten Juden als Vertreter der jüdischen Nation den Antisemiten nur einen Grund zu der Behauptung liefern würde, unter der Maske jedes assimilierten Juden verberge sich ein wirklicher Jude … , der nicht fähig sei, in der eingesessenen Bevölkerung aufzugehen«. Sie fürchteten, dass vom Augenblicke der Gründung eines eigenen jüdischen Staates an die Juden überall der Illoyalität verdächtigt und der Absonderung aus Prinzip beschuldigt würden, die den Juden von ihren Feinden zu allen Zeiten vorgeworfen wurde und wird.

Als Antwort verkündete Nordau auf dem zweiten Zionistenkongress (1898): »Über die Bezeichnung Partei können wir nur verächtlich lachen, und wir lehnen sie ab. Die Zionisten sind keine Partei, sondern das Judentum selbst… All diejenigen hingegen, die sich in der Knechtschaft, in der Verachtung wohl fühlen … , sie alle stehen nun entweder beiseite oder sie bekämpfen uns erbittert. «

Ein englischer Historiker bemerkte, dass sehr wohl »der Zionismus den Juden einen Dienst erwiesen hat, indem er ihnen die Selbstachtung zurückgegeben hat«, doch »lässt er die Frage völlig ungeklärt«, wie sie sich »zu den Ländern, in denen sie leben«, stellen. In Österreich polemisierte Otto Weininger gegen seinen Landsmann Herzl: »Der Zionismus und das Judentum sind unvereinbar, weil der Zionismus versucht, die Juden dazu zu bringen, dass sie die Verantwortung für einen eigenen Staat übernehmen, welches dem Wesen des Juden widerspricht. « Er sagte das Scheitern des Zionismus voraus.

In Russland wandte sich 1899 I. M. Bikerman deutlich gegen den Zionismus als einer »fantastischen, aus dem Antisemitismus geborenen, im Geiste reaktionären und durch und durch schädlichen« Idee; man müsse »die Illusionen der Zionisten verwerfen und — durchaus ohne sich der [jüdischen] geistigen Individualität zu entäußern – Hand in Hand mit den kultivierten und fortschrittlichen Elementen Russlands für die Erneuerung der gemeinsamen Heimat kämpfen«.

Zu Beginn des Jahrhunderts äußerte der Dichter Nikolaj Minskij, der Zionismus sei eine Abkehr vom allgemein menschlichen Maß, er reduziere die allgemein menschlichen und kosmopolitischen Maßstäbe des Judentums auf das Niveau eines mittelmäßigen Nationalismus. »Wenn die Zionisten von Nationalismus reden, wenden sie sich in Wirklichkeit vom wahren nationalen Antlitz des Judentums ab und strengen sich nur an, so wie alle, nicht schlechter als die anderen zu sein. «

Es ist interessant, die ebenfalls vor der Revolution gemachten Bemerkungen des orthodoxen Denkers Sergij Bulgakow dem gegenüberzustellen: »Die Hauptschwierigkeit für den Zionismus besteht nun darin, dass er nicht in der Lage ist, den verlorenen Glauben der Väter zurückzubringen, und gezwungen ist, sich auf ein nationales oder kulturethnografisches Prinzip zu gründen, auf dem kein wirklich großes Volk bestehen kann. «

Doch die ersten russischen Zionisten – und »gerade aus Russland kam ein Großteil der Gründer des Staates Israel und der Pioniere und Erbauer dieses Staates«, und »die besten Beispiele zionistischer Publizistik«waren in russischer Sprache verfasst worden – waren von dem schwärmerischen, unbändigen Enthusiasmus erfüllt, ihrem Volk die verlorene historische und biblische Heimat zurückzugeben und dort einen Staat mit ungewöhnlichen Eigenschaften zu bilden und Menschen mit ungewöhnlichen Eigenschaften aufzuziehen. Und der Impetus, absolut alle zu körperlicher Feldarbeit zu führen, entstand keineswegs ohne Einfluss des Tolstoj sehen Aufrufs und dessen Gebot der Einfachheit. Alles strömte in diese Richtung.

* * *

Aber wie hatte denn nun die Haltung des Zionisten zu dem Land, in dem er derzeit lebt, zu sein? Von den russischen Zionisten erforderte die Hinwendung aller ihrer Kräfte auf den Traum von Palästina, dass sie sich aus den gesellschaftlichen Prozessen in Russland selbst fern hielten. In ihren Statuten stand: »Keine Beschäftigung mit allgemeiner Politik, weder mit innerer, noch mit äußerer. « Sie konnten damit am Kampf um Gleichberechtigung in Russland nur noch halbherzig und mit Skepsis teilnehmen. Und eine Teilnahme in der russischen Befreiungsbewegung? Das hieße ja überhaupt die Kastanien für andere aus dem Feuer holen. Diese Taktik rief leidenschaftliche Vorwürfe Jabo tinskys hervor: »Selbst Einkehrende in einer Herberge haben doch ein Interesse daran, dass die Herberge sauber und in Ordnung gehalten werde. «

Doch in welcher Sprache sollten die Zionisten ihre Propaganda führen? Hebräisch konnten sie nicht, und es hätte sie ja auch niemand verstanden. Also auf Russisch oder jiddisch. Und das brachte sie erneut in die Nähe der politisch Radikalen in Russland, der jüdischen revolutionären Tendenzen. Es versteht sich von selbst, dass die jüdische revolutionäre Jugend heftig mit den Zionisten stritt: Nein! Die Lösung der jüdischen Frage bestand nicht in einem Auszug aus Russland, sondern im politischen Kampf um Gleichberechtigung hier! Wozu sichirgendwo weit in der Ferne am Meer niederlassen, wo man doch hier Fuß fassen kann. Solche Argumente mussten, klar und einleuchtend, wie sie waren, viele ins Schwanken bringen. Von bolschewistischer Seite wurde der Zionismus als »zutiefst reaktionär« gebrandmarkt, und die Zionisten wurden als »Partei des verzweifelten, hoffnungslosen Pessimismus« bezeichnet.

Es kam unweigerlich auch zu Nebenströmungen, wie beispielsweise der linkszionistischen Partei »Poale Zion« (»Arbeiter Zions«). In Russland wurde sie 1899 gegründet und verband »politischen Zionismus mit sozialistischer Ideologie«. Dies war ein Versuch, zwischen denen, die nur mit der Klassenproblematik, und denen, die nur mit der nationalen Problematik befasst waren, eine Verbindungslinie zu ziehen. »Innerhalb von >Poale Zion< bestanden scharfe Gegensätze über die Frage der Teilnahme an den revolutionären Aktivitäten in Russland. « (Selbst innerhalb der Revolutionäre gab es Unstimmigkeiten: Die einen standen den Sozialdemokraten näher, die anderen den Sozialrevolutionären. )

»Ab 1903 begannen sich Gruppen des >Ze’ire Zion< [Junge Zionisten<] zu bilden, die ideologisch dem nichtmarxistischen sozialistischen Zionismus nahe standen. « 1904 spaltete sich von »Poale Zion« die Partei der »Zionisten-Sozialisten« ab, die den Gedanken an Palästina fast aufgegeben hatten: Die »weit möglichste Entwicklung des Jiddischen als Umgangssprache der jüdischen Massen« genüge, weg mit der Idee der nationalen Autonomie. Der Zionismus beginne bourgeois-reaktionäre Züge anzunehmen, er müsse in eine sozialistische Bewegung umgeformt und bei den jüdischen Massen müssten revolutionäre politische Instinkte geweckt werden. Die Partei »schätzte den >sozial-ökonomischen Gehalt< des Zionismus hoch, doch verneinte sie die Notwendigkeit der Wiedergeburt des jüdischen Landes, der jüdischen Kultur, der jüdischen Traditionem«. Wohl müsse die chaotische jüdische Emigration auf ein geeintes Territorium umgeleitet werden, doch »gibt es keine organische Verbindung zwischen dem Zionismus und Palästina«. Die Hauptsache war, dass der jüdische Staat sozialistische Fundamente habe, nicht kapitalistische. Eine solche Emigration sei aber ein langwieriger historischer Prozess, und ein Großteil der jüdischen Massen werde noch lang an seinen derzeitigen Wohnorten bleiben. »Die Partei begrüßte die Teilnahme von Juden an der revolutionären Bewegung in Russland«, also den Kampf um die eigenen Rechte hier, das religiöse Judentum hingegen verachteten sie.

Zu diesem Sammelsurium gesellte sich schließlich auch noch »Wosroshdenie« [»Wiedergeburt«]. Diese »jüdische sozialistische Gruppe … vertrat die Ansicht, dass der nationale Faktor von Natur aus fortschrittlich sei«, und 1906 gründeten »die Wiedergeburtier«, die sich von den Zionisten-Sozialisten abgespalten hatten, die Jüdische Sozialistische Arbeiterpartei. (Nach der russischen Abkürzung SERP, was zugleich Sichel bedeutet, wurden die Mitglieder »Serpowzi« genannt. Wegen ihrer Forderung, einen jüdischen nationalen Sejm [Parlament] als »oberstes Organ der jüdischen nationalen Selbstverwaltung« wählen zu lassen, nannte man sie auch »Sejmowzi«. ) Die »Serpowzi« betrachteten die hebräische und die russische Sprache als gleichberechtigt verwendbar. Wegen ihres Festhaltens an der Ideologie des »Autonomismus« innerhalb des russischen Staates kam es nicht zu einer Verschmelzung mit dem ebenfalls sozialistischen »Bund«.

Trotz der inneren Uneinigkeit der Zionisten kam es insgesamt in Russland zu einem Ruck des Zionismus hin zum Sozialismus, der von der russischen Regierung durchaus wahrgenommen wurde. Bis dahin hatte diese die zionistische Propaganda in keiner Weise behindert. Doch im Juni 1903 ließ Innenminister Plehwe ein Rundschreiben an alle Gouverneure und Stadthauptmänner ergehen, in dem es hieß, die Juden hätten die Emigration nach Palästina zurückgestellt und konzentrierten sich auf die Organisation der Juden an den Orten, wo sie jetzt lebten. Eine solche Haltung könne nicht geduldet werden, weshalb die öffentliche Propaganda des Zionismus, seine Versammlungen, Vorträge etc. verboten würden. Hiervon erfuhr Herzl, der sich ungeachtet des Kischinjower Pogroms desselben Frühjahrs, dessen gerade Plehwe lautstark beschuldigt wurde, und ohne auf Verurteilungen und Verwünschungen seitens vieler russischer Zionisten zu achten umgehend nach Petersburg aufmachte und um Audienz bei Plehwe ansuchte. (Er hatte schon 1899 um eine Audienz bei Nikolaus II. gebeten, wenn auch ohne Erfolg. )

Plehwe erläuterte Herzl (nach dessen Aufzeichnungen) Folgendes: »Die Judenfrage ist für uns keine vitale, aber doch immerhin eine ziemlich wichtige Frage. Und wir bemühen uns, mit ihr auf möglichst gute Art fertig zu werden… . Der russische Staat muss eine Homogenität seiner Bevölkerung wünschen«, und er fordere von allen eine patriotische Auffassung. »Wir wollen sie [die Juden] uns assimilieren … Aber diese Assimilierung, die wir wünschen, vollzieht sich nur sehr langsam … Denn Sie müssen wissen, dass ich als ein Freund der Juden die Regierung übernahm. Ich kenne die Juden sehr gut. Ich habe meine Jugend unter ihnen verbracht. Das war in Warschau … Ich spielte da ausschließlich mit Judenkindern… . Sie sehen also, dass Sie bei mir eine gewisse Prädisposition finden, etwas für die Juden zu tun… . Nun will ich allerdings nicht leugnen, dass die Lage der Juden im Russischen Reiche keine glückliche ist. Ja, wenn ich ein Jude wäre, so wäre ich wahrscheinlich auch ein Feind der Regierung. « »… uns wäre darum die Errichtung eines unabhängigen Judenstaates, der einige Millionen Juden aufnehmen könnte, am liebsten. Wir wollen aber unsere Juden darum nicht sämtlich verlieren. Die klugen Köpfe … würden wir behalten wollen… . Aber die schwachen Intelligenzen u. die geringen Vermögen möchten wir gerne loswerden. Wer sich assimilieren kann, den möchten wir behalten. « »Ihre zionistische Bewegung war uns früher sympathisch, solange sie auf die Emigration hinarbeitete«, doch »bemerken wir eine Änderung bei den Großkopfeten«. Die russische Regierung sei der Palästina-Auswanderung der Zionisten wohl gesonnen und – sofern der Zionismus zu seinem früheren Programm zurückkehre – geneigt, sie gegenüber dem Osmanischen Reich zu unterstützen, aber sie könne die Propaganda einer jüdischen nationalen Entfremdung innerhalb Russlands, welcher der Zionismus derzeit zuneigt, nicht dulden; denn diese würde zur Bildung eines Bevölkerungsteils mit fremdem Patriotismus führen, der doch die Grundfeste des Staates bilde. (Will man Plehwes damaligem Kanzleidirektor, N. D. Ljubimow, glauben, hat Plehwe zu ihm gesagt, dass Herzl im Gespräch eingeräumt habe, die westliche jüdische Finanzwelt unterstütze die revolutionären Parteien in Russland. Sliosberg hält dies für unwahrscheinlich. )

Plehwe machte Mitteilung an den Zaren, wo sein Bericht Zustimmung fand, und übergab Herzl einen Bestätigungsbrief in diesem Sinne. Herzl fand, dass sein Besuch bei Plehwe erfolgreich war. Beide ahnten nicht, dass sie nur noch elf Monate zu leben hatten … Die Türken ließen keine Neigung erkennen, den Zionisten entgegenzukommen, und die englische Regierung bot ihnen in demselben Jahr 1903 an, anstelle von Palästina Uganda zu kolonisieren.

Auf dem sechsten Zionistenkongress im August 1903 in Basel stellte Herzl diese Alternative vor, »die natürlich nicht der Zion« war, die aber als vorläufige Lösung angenommen werden könne, um die Bildung eines jüdischen Staates zu beschleunigen. Dieses Projekt rief stürmische Diskussionen hervor. Es gibt Berichte, wonach sich sogar im palästinischen Jischuw Unterstützung für das ugandische Projekt regte, und zwar vonseiten jener neuen Siedler, die von den unwirtlichen natürlichen Gegebenheiten in Palästina enttäuscht waren. Die russischen Zionisten hingegen, die doch dringender als alle Juden der Welt einer Zuflucht bedurften, traten schärfer als alle anderen gegen die Uganda-Lösung ein. Unter der Führung M. M. Usyschkins, dem Begründer der »Bilu« und der späteren rechten Hand Achad Haams in der »Bnei Mosche«-Liga, traten sie in unversöhnliche Opposition: Der Zionismus sei fest an den Zion gebunden und nichts könne diesen für die Juden ersetzen! Der Kongress richtete immerhin eine Kommission ein, welche nach Uganda entsandt wurde, um dieses Land zu erkunden. Der siebte Kongress 1905 hörte ihren Bericht an – und verwarf Uganda. Der ob all diesen Widrigkeiten niedergeschlagene Herzl erlebte die Entscheidung nicht mehr: Er starb 1904 an einem Herzschlag.

Doch einmal entbrannt, führte der Konflikt zu einer neuen Spaltung der Zionisten: Unter der Führung Israel Zangwills spalteten sich die Territorialisten ab, denen sich Delegierte aus England anschlossen. Sie bildeten einen internationalen Führungsrat, hielten Versammlungen ab und erhielten Subsidien von Jacob Schiff und Rothschild aus Paris. Sie schworen der Fixierung auf Palästina ab: Ja, eine konzentrierte jüdische Kolonisierung auf einem bestimmten Territorium sollte es geben, doch egal wo, an einem beliebigen Ort. In jahrelanger Suche prüften sie ein Dutzend Länder, so Angola, aber auch »Portugal ist ein zu schwaches Land, es wird die Juden nicht verteidigen können«, dort »können die Juden leicht zu Opfern benachbarter Völker werden«.

Sie wären sogar mit einem Gebiet innerhalb Russlands einverstanden gewesen, wenn nur eine autonome und selbstverwaltete Einheit geschaffen würde. Dieses Argument, dass nämlich ein starkes Land zur Verteidigung der Juden auf ihrem neuen Territorium vonnöten sei, lag besonders den Befürwortern einer kurzfristigen Bildung eines eigenen Staates mit massenhafter Umsiedlung am Herzen. Sie wurde damals und später von Max Nordau vorangetrieben, und zwar »ungeachtet der Tatsache, dass das Land [Palästina] auf ihre Aufnahme wirtschaftlich nicht vorbereitet ist«. Doch hierzu musste erst die Türkei ihr Einverständnis geben und das arabische Problem in irgendeiner Form gelöst werden. Die Befürworter dieses Programms wussten, dass sich die zionistische Bewegung nicht ohne die Hilfe starker Verbündeter selbst würde verteidigen können. Aber solche militärische Hilfe bot bislang noch kein Land an.

Auf dem Weg zur Bildung des israelischen Staats sollten noch zwei Weltkriege liegen.