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11. Kapitel--I: Die Wichtigkeit der Religion für das jüdische Volk 1911: Die Juden und das Wirtschaftsleben von Werner Sombart: Zweiter Abschnitt - 11. Kapitel: Die Bedeutung der jüdischen Religion für das Wirtschaftsleben
Vorbemerkung
Wenn ich hier in einem besonderen Kapitel die Religion des jüdischen Volkes in Betracht ziehe und den Nachweis zu führen versuche, daß sie eine überragend große Bedeutung für die Leistungen der Juden bei der Herausbildung des Kapitalismus, gehabt habe, so bestimmt mich dazu erstens die Erwägung, daß die Wichtigkeit dieses Erklärungsmomentes neben den andern „objektiven“ Umständen in der Tat nur dann zu einer richtigen Anerkennung gelangt, wenn man in verhältnismäßig großer Ausführlichkeit und in eigenem Rahmen diese Seite des Judenproblems abhandelt.
Sodann aber erscheint mir eine gesonderte Erörterung des Religionsproblems durch die ganz und gar besondere Methode erheischt, die bei seiner Darstellung angewandt werden muß.
Endlich spricht für diese Gruppierung des Stoffes der Umstand, daß die Einwirkung der Religion auf das wirtschaftliche Verhalten der Gläubigen schon gar nicht mehr nur unter der Kategorie der rein objektiven Verumstandungen begriffen werden kann, sintemal die Religion selber ja schon deutlich als der Ausdruck einer besonderen Geistesrichtung, also einer subjektiven Eigenart, erscheint (wie freilich hier noch nicht des näheren auszuführen ist). Anderseits tritt das Religionssystem, in das der einzelne hineingeboren wird, diesem doch als ein fest gegebenes „Objektives“ gegenüber. Und was die Ausübung religiöser Pflichten etwa an Wirkungen auf das wirtschaftliche Vollbringen im Gefolge hat, kann in gewissem Sinne ebenso zu den objektiven Ursachen gerechnet werden, wie die Wirkungen die aus einer bestimmten Rechtslage folgen. Schließlich aber erscheint das Religionssystem in häufigen Fällen selbst als Ursache, sei es bestimmter äußerer Schicksalsfügungen des jüdischen Volkes (eben der von uns hervorgehobenen „objektiven Umstände“), sei es bestimmter Eigenarten des jüdischen Wesens.
Die Religion steht also gleichsam zwischen den objektiven und (etwaigen!) subjektiven Befähigungsgründen mitteninne und verdient auch deshalb einen besonderen Platz in der Ordnung dieses Buches, den ich ihr in diesem Kapitel hiermit anweise
I. Die Wichtigkeit der Religion für das jüdische Volk
Daß die Religion eines Volkes oder einer Gruppe innerhalb des Volkes von großer Bedeutung für die Gestaltung des Wirtschaftslebens werden kann, dürfen wir als zweifellos annehmen. Noch unlängst hat uns Max Weber den Zusammenhang aufgedeckt, der zwischen Puritanismus und Kapitalismus besteht. Und gerade Max Webers Untersuchungen haben ein gut Teil, Schuld an der Entstehung dieses Buches: sie mußten jeden aufmerksamen Beobachter vor das Problem stellen, ob denn nicht etwa das, was Weber dem Puritanismus zuschreibt, schon lange vorher und später in erhöhtem Maße von dem Judaismus geleistet sei; ja: ob denn das, was wir Puritanismus nennen, in seinen Wesenszügen nicht eigentlich Judaismus sei, Wir werden über diese innere Verwandtschaft der beiden Religionen noch mehr im weiteren Verlauf unserer Untersuchungen zu erfahren haben.
Haben aber andere Religionssysteme, wie der Puritanismus, Einfluß auf die Gestaltung des Wirtschaftslebens ausgeübt, so dürfen wir ohne weiteres annehmen, daß es der Judaismus auch getan habe, weil ja wohl bei keinem andern Kulturvolke die Religion eine so große Bedeutung gehabt hat wie bei den Juden.
Die Religion war ja bei ihnen nicht nur eine Angelegenheit der Sonntage und der Feste, sondern sie durchdrang das Alltagsleben bis in die Kleinsten Verrichtungen hinein. Alle Lebensverhältnisse erhielten ihre religiöse Weihe. Bei jedem Tun und Lassen wurde — wie man weiß und wie wir im einzelnen noch erfahren werden — die Erwägung angestellt; ob die göttliche Majestät damit anerkannt oder verleugnet werde. Nicht nur die Beziehungen zwischen Mensch und Gott regelt das jüdische „Gesetz“, nicht nur einem metaphysischen Bedürfnisse kommen die Sätze der Religion entgegen: auch für alle andern denkbaren Beziehungen zwischen Mensch und Mensch oder zwischen Mensch und Natur enthalten die Religionsbücher die bindende Norm. Das jüdische Recht bildet ebenso einen Bestandteil des Religionssystems wie die jüdische Sittenlehre. Das Recht ist von Gott gesetzt und sittlich gut und Gott gefällig; sittliches Gesetz und göttliche Verordnung sind für das Judentum völlig untrennbare Begriffe (423). In konsequenter Auffassung gibt es sogar gar keine selbständige „Ethik des Judentums“. „Die jüdische Sittenlehre bildet den inneren Quell, genauer das sachliche Prinzip der jüdischen Glaubenslehre. Die jüdische Ethik ist das Prinzip der jüdischen Religion. Sie ist das Prinzip und nicht die Konsequenz. Sie kann aus der jüdischen Religion nur in dem Sinne abgeleitet werden, wie man die Axiome aus dem Lehrgehalt der mathematischen Sätze ableitet …… Es besteht eine unabtrennbare, unauflösliche Einheit zwischen der jüdischen Sittenlehre, und der jüdischen Gotteslehre …… Die jüdische Sittenlehre ist, nichts anderes als die jüdische Glaubenslehre.“ (424)
Bei keinem Volke ist aber auch so gut wie bei den Juden Vorsorge getroffen, daß der Geringste die Vorschriften der Religion auch wirklich kennt. Schon Josephus meinte: bei den Juden könne man den ersten besten über die Gesetze befragen: er werde sämtliche Bestimmungen leichter hersagen als seinen eigenen Namen. Der Grund liegt in der systematischen Ausbildung, die jedes Judenkind in Religionssachen erfährt; liegt, in der Einrichtung, daß der Gottesdienst selber zu einem guten Teile dazu benutzt wird, Stellen aus den heiligen Schriften vorzulesen und zu erläutern, so zwar, daß während des Jahres einmal die ganze Thora zur Verlesung kommt; liegt darin, daß nichts so sehr dem einzelnen eingeschärft wird als die Verpflichtung zum Thorastudium und Schemalesen, „In der heiligen Schrift (Deut. 6, 5) heißt es mit Bezug auf die Gebote und Vorschriften Gottes: „Du sollst davon reden, wenn du zu Hause, sitzest, wenn du auf Reisen bist, wenn du dich niederlegst und wenn du aufstehst“ (425).
Aber kein zweites Volk ist wohl auch so streng in den Bahnen gewandelt, die Gott ihm gewiesen, hat die Vorschriften der Religion so peinlich zu befolgen sich bemüht wie die Juden.
Man hat gesagt, die Juden seien das „unfrömmste“ aller Völker. Ich will hier nicht entscheiden, mit welchem Rechte, man das von ihnen behauptet. Sicherlich aber sind sie gleichzeitig das „gottesfürchtigste“ Volk, das jemals auf Erden gewandelt ist. In zitternder Angst haben sie immer gelebt, in zitternder Angst vor Gottes Zorn. „Ich fürchte mich vor Dir, daß mir die Haut schaudert und entsetze mich vor Deinen Gerichten.“ Diese Worte des Psalmisten (119, 120) haben zu allen Zeiten für das jüdische Volk ihre Gultigkeit bewahrt. „Heil dem Menschen, dem allezeit bange ist (vor Gott), Prov. 28.14. „Die Frommen“, sagt Tanchuma Chukkat 24, „legen die Furcht,
nicht ab.“ (426) Welch ein Gott aber auch, was für ein schreckhaftes, grauenerregendes Wesen, das so fluchen kann, wie Jahve! Es ist wohl niemals wieder in der Weltliteratur, weder vorher, noch nachher, so viel Übles Menschen angedroht worden, wie in dem berühmten 28. Kapitel des Deuteronomiums Jahve dem an den Hals wünscht, der seine Gebote nicht befolgt.
Dieser starken Macht: der Gottesfurcht (im engen Wortsinn) sind dann aber im Lauf der Geschichte noch andere Mächte, zu Hilfe gekommen, die in gleicher Weise wie jene den Juden, die peinliche Befolgung der religiösen Vorschriften förmlich aufgedrängt haben. Ich meine vor allem ihr Schicksal als Volk oder Nation. Daß der jüdische Staat zerstört wurde, hat es bewirkt, daß die Pharisäer und Schriftgelehrten, das heißt diejenigen Elemente, die die Tradition Esras pflegten und die Gesetzeserfüllung zum Kernwert machen wollten, daß diese Männer, die bis dahin höchstens moralisch geherrscht hatten, nunmehr an die Spitze der gesamten Judenschaft gehoben und also in die Lage versetzt wurden, diese ganz und gar in ihre Bahnen zu lenken. Die Juden, die aufgehört hatten, einen Staat zu bilden, deren nationale Heiligtümer zerstört waren, sammeln sich nun unter der Führung der Pharisäer um die Thora (dieses „portative Vaterland“ wie es Heine genannt hat); werden eine religiöse, Sekte, die von einer Schar von frommen Schriftgelehrten gelenkt wird (etwa als wenn die Jünger Lovolas die versprengten, Angehörigen eines modernen Staates um sich scharen würden). Die Pharisäer treten die Erbschaft der gestürzten Machthaber an. Ihre vornehmsten Rabbiner bilden ein Kollegium, das als Fortsetzung des alten Synedriums sich betrachtete und galt, und das nunmehr die oberste Instanz in allen geistlichen und weltlichen Angelegenheiten für alle Juden auf der Erde wurde (427). amit war also die Herrschaft der Rabbinen begründet, die dann nur durch die Schicksale, die die Juden während des Mittelalters erlitten, immer mehr befestigt wurde, und die so drückend wurde, daß sich die Juden selbst zuweilen über das schwere Joch beklagten, das ihnen ihre Rabbinen auflegten. Je mehr die Juden von den Wirtsvölkern abgeschlossen wurden (oder sich abschlossen), desto größer natürlich wurde der Einfluß der Rabbinen; desto leichter also konnten diese die Judenschaft zur Gesetzestreue zwingen. Das Leben in der Gesetzeserfüllung, zu dem ihre Rabbinen sie anhielten, mußte aber den Juden auch aus inneren Gründen, aus Herzensgründen, als das wertvollste Leben erscheinen: weil es das einzige war, das ihnen inmitten der Verfolgungen und Demütigungen, denen sie von allen Seiten ausgesetzt waren, ihre Menschenwürde und damit überhaupt eine Daseinsmöglichkeit gewährte. Die längste Zeit war das Religionssystem im Talmud eingeschlossen, und dieser ist es darum auch, in dem, für den, durch den die Judenschaft Jahrhunderte hindurch allein gelebt hat. Der Talmud wurde „das Grundbesitztum des jüdischen Volkes, sein Lebensodem, seine Seele. Er wurde vielen Geschlechtern eine „Familiengeschichte„, in der sie sich heimisch fühlten, denn „sie lebten und webten, der Denker in dem Gedankenstoffe, der Gemütvolle in den verklärten Idealbildern. Die äußere Welt, die Natur und die Menschen, die Gewaltigen und die Ereignisse waren für die Generationen über ein Jahrtausend unwichtig, zufällig, ein bloßes Phantom, die wahre Wirklichkeit war der Talmud“ (428). Man hat treffend den Talmud (von dem mir in besonders hohem Maße gilt, was doch von den jeweils herrschenden Religionsbüchern im allgemeinen zu sagen ist) mit einer Kruste verglichen, mit der sich die Juden während des Exils umgaben: sie machte sie gegen jeden äußeren Reiz unempfindlich und schützte ihre innere Lebenskraft (429).
Was uns hier einstweilen zu erfahren am Herzen liegt, ist dieses: daß eine Reihe von äußeren Umständen dazu verhelfen, die Juden bis in die neue Zeit hinein mehr als irgendein anderes Volk in der Furcht des Herrn zu bewahren, sie religiös bis in die Knochen zu machen; oder wenn man an dem Worte religiös Anstand nimmt: eine allgemeine und strenge Erfüllung der Religionsvorschriften bei Hoch und Niedrig lebendig zu erhalten.
Wichtig für unsere Zwecke ist vor allem, festzustellen, daß diese Strenggläubigkeit nicht etwa nur in der großen Masse des jüdischen Volkes angetroffen wird, sondern gerade auch bei denjenigen Juden, die wir so entscheidenden Einfluß auf den Gang des Wirtschaftslebens haben ausüben sehen. Selbst die Marranen, des 16., 17. und 18. Jahrhunderts müssen wir uns als orthodoxe Juden vorstellen,
„Die Marranen oder geheimen Juden (so urteilt, über sie einer der besten Kenner jener Epoche der jüdischen Geschichte) (430) gehörten in überwiegender Mehrzahl dem Judentum weit inniger an, als allgemein angenommen wird. Sie fügten sich dem Zwange (Anussim) und waren Christen zum Schein, dabei lebten sie als Juden und beobachteten die Gesetze, und Vorschriften der jüdischen Religion ……“
Sie machten kein Feuer am Sabbat, hatten ihren bestimmten Schlächter, der rituell schlachtete, ebenso einen Mann, der ihre Kinder beschneiden ließ usw. „Diese bewundernswerte Treue“, meint unser Gewährsmann,
„wird erst dann völlig erkannt und gewürdigt werden können, wenn das überreiche Aktenmaterial, das in den Staatsarchiven zu Alcald de Henares und Simancas sowie in mehreren Archiven Portugals aufgehäuft ist ……… gesichtet und bearbeitet sein wird.“
Wir wissen aber auch, daß unter den Juden selbst die Angesehensten, die Reichsten auch die besten Talmudkenner waren. Talmudstudium war jahrhundertelang die Brücke zu Ehren, Reichtum, Gunst unter den Juden. Die größten Talmudgelehrten, waren zumeist gleichzeitig die geschicktesten Finanzmänner, Ärzte, Juweliere, Kaufleute, von vielen z. B. spanischen Finanzministern, Banquiers, Leibärzten wissen wir, daß sie wie die ganz Frommen nicht nur am Sabbat, sondern außerdem noch zwei Nächte in der Woche sich ausschließlich mit dem Studium der heiligen Schriften befaßten. Dasselbe wird vom alten Amschel Rothschild erzählt, der 1855 starb. Der lebte streng nach dem jüdischen Gesetze und aß nie einen Bissen an fremder Tafel, auch wenn er neben dem Kaiser saß, von ihm berichtet, ein Augenzeuge, der in der Nähe des Barons gelebt hat, wie er den Sabbat feierte:
„Er gilt für den frömmsten Juden von ganz Frankfurt. Ich habe nie einen Menschen sich so peinigen, die Brust zerschlagen, zum Himmel aufschreien, zum Allvater aufweinen sehen wie den Baron Rothschild am langen Tage in der Synagoge, von den Anstrengungen des unausgesetzten Betens und seiner fortwährenden Teilnahme am Gesang fällt er häufig ohnmächtig hin: es werden ihm dann starke narkotische Pflanzen, aus seinem Garten vor die Nase gehalten, um ihn wieder zur Besinnung zu bringen“ (431).
Aber auch sein Neffe, der letzte, Frankfurter Rothschild, Wilhelm Karl, der 1901 starb, hat das Ritualgesetz noch bis in seine letzten Verzweigungen hinein beobachtet: Da es dem frommen Juden verboten ist, unter bestimmten Umständen Dinge zu berühren, die durch frühere Berührung „unrein“ geworden sind, so ging diesem Rothschild, immer ein Diener voraus, der die Türklinke abwischte; und das Papiergeld, das Baron Rothschild in die Hand nahm, mußte eben erst die Druckpresse verlassen haben: er berührte keinen Schein, der schon durch mehrere Hände gegangen war.
Wenn so ein Rothschild lebt, dann wird es uns nicht in Erstaunen setzen, wenn wir heute noch dem jüdischen Geschäftsreisenden begegnen, der ein halbes Jahr lang keinen Bissen Fleisch genießt, weil er selbst in den als koscher bezeichneten. Restaurants der fremden Städte nicht sicher ist, daß die Schächtung wirklich nach strengem Ritus erfolgt ist.
Heute findet sich das ganz strenge Judentum kompakt nur noch im Osten Europas, Dort muß man es studieren: durch Augenschein oder mit Hilfe der vielen guten Schriftwerke, die von ihm handeln oder auch von ihm selbst herrühren. Im Westen Europas bilden heute die orthodoxen Juden nur noch die Minderheit der Judenschaft. Will man aber die Einwirkung der jüdischen Religion auf das Wirtschaftsleben feststellen, so muß man natürlich den echten, unverfälschten Judenglauben, nehmen, der ja doch auch im Westen bis vor ein paar Menschenaltern der herrschende war, und der allein es sicher gewesen ist, dessen Fahnen die Judenschaft zu so vielen Siegen geführt haben.
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