10. Kapitel: Die objektive Eignung der Juden zum Kapitalismus

III. Das Halbbürgertum

Es scheint auf den ersten Blick, als sei die bürgerliche Rechtsstellung der Juden insbesondere dadurch für ihr ökonomisches Schicksal von Bedeutung gewesen, daß sie ihnen bestimmte Beschränkungen in der Wahl der Berufe, wie überhaupt, in ihrer Erwerbstätigkeit auferlegte. Aber ich glaube, daß die Einwirkung, die die Rechtslage in dieser Hinsicht ausgeübt hat, überschätzt worden ist. Ich möchte umgekehrt diesen gewerberechtlichen Bestimmungen nur eine ganz verschwindende Bedeutung beimessen, möchte fast sagen: sie seien belanglos gewesen für die wirtschaftliche Gesamtentwicklung des Judentums. Jedenfalls wüßte ich beim besten Willen keine der wirklich bedeutsamen Einwirkungen, die wir die Juden auf den Gang des moderen Wirtschaftslebens haben ausüben sehen, auf irgendwelche gewerberechtliche Bestimmung zurückzuführen.

Daß diese nicht von nachhaltigem und tiefgehendem Einfluß gewesen sein können, geht ja schon aus der Tatsache hervor, daß die gewerberechtliche oder gewerbepolizeiliche Stellung der Juden während des Zeitraums, der uns hier interessiert, außerordentlich verschieden gestaltet war, und daß trotzdem eine große Gleichartigkeit des jüdischen Einwirkens im gesamten Umkreis der kapitalistischen Kultur sich nachweisen läßt.

Wie grundverschieden die Rechtslage der Juden in dieser Hinsicht war, macht man sich selten genügend klar. Sie wechselte zunächst von Land zu Land in den großen Zügen. Während die Juden in Holland und England fast volle Gleichberechtigung mit den Christen genossen, was das Erwerbsleben anbetrifft, unterlagen sie in den übrigen Ländern mehr oder weniger großen Beschränkungen, abgesehen wiederum von einzelnen Gebietsteilen und Städten, wo volle Handels- und Gewerbefreiheit für sie bestand, wie etwa innerhalb Frankreichs in den Besitzungen der Päpste. (411)

Aber diese Einschränkungen waren nun wieder nach Maß und Art in den verschiedenen Ländern verschieden und innerhalb eines und desselben Landes oft grundverschieden von Ort, zu Ort. Und zwar erscheinen die einzelnen Bestimmungen ganz und gar willkürlich. Von einer irgendwelchen Grundidee, die sich etwa in den verschiedenen Verfügungen durchfühlen ließe, ist keine Rede. Hier ist ihnen das Hausieren verboten, dort das Halten fester Laden; hier dürfen sie Handwerke betreiben, dort nicht; hier dieses, dort jenes Handwerk; hier dürfen sie mit Wolle handeln, dort nicht; hier mit Leder, dort nicht; hier ist ihnen die Pachtung von Branntweinschenken erlaubt, dort verboten; hier werden sie zur Anlage von Fabriken und Manufakturen ermuntert, dort ist ihnen die Beteiligung an kapitalistischer Industrie untersagt u. s. f.

Man sehe sich etwa den Rechtszustand an, wie er innerhalb des preußischen Staats um die Wende des 18. Jahrhunderts sich Herausgebildet hatte. Da galten in den verschiedenen Landesteilen mehrere Dutzend Gesetze, deren Bestimmungen zum Teil sich geradezu widersprachen.

Während mancherorts die Ausübung der Handwerke verboten war (Revidiertes Generalprivilegium von 1750 art. XI. Schwedisches Gesetz von 1777 für Neuvorpommern und Rügen), gestattete die Kabinettsordre vom 21. Mai 1790 den Breslauer Schutzjuden „allerlei mechanische Künste zu treiben“ und besagte, daß es „Uns zum gnädigsten Wolwollen gereichen (werde), wenn die christlichen Handwerker freiwillig Juden-Jungen in die Lehre und in der Folge in ihre Innung nehmen.“ Das Gleiche bestimmte das General-Juden-Reglement für Süd- und Neu-Ostpreußen vom 17. April 1797 (S 10).

Während den Berliner Juden verboten war. Bier und Branntwein an Nichtuden zu verschänken, Fleisch an Nichtjuden zu verkaufen (General-Privileg vom 17. April 1750 art. XV. XIII) hatten die sämtlichen Stammjuden in Schlesien die Erlaubnis, Bier- und Branntweinurbars, Fleischereien, Bäckereien, Meth, Bier- und Branntweinschenken zu pachten oder zu verwalten (laut Ordre vom 18. Februar 1769).

Die Liste der erlaubten oder verbotenen Handelsartikel scheint oft mit einer geradezu sinnlosen Willkür zusammengestellt, wenn ihnen etwa freisteht: „mit aus- und einländischem ungefärbtem gar gemachtem Leder zu handeln, dagegen nicht „mit rohem oder gefärbtem Leder„; zwar „mit rohen Kalb und Schaffellen“, nicht aber „mit rohen Rind- und Pferdehäuten zwar mit allerhand hier im Lande fabrizierten ganz und halbwollenen und baumwollenen Waren“ nicht aber „mit roher Wolle und wollenen Garnen auch nicht mit fremden wollenen Waren“ usw. (Alles aus dem Generalprivileg von 1750).

Das Bild wird noch bunter, wenn wir die verschiedene Rechtslage in Betracht ziehen, in der sich die verschieden berechtigten Kategorien von Juden befanden. So bestand z. B. die Breslauer Judengemeinde bis zur K.O. vom 21. Mai 1790 aus folgenden Gruppen:

  1. den Generalprivilegierten, das ist: solchen jüdischen Glaubensgenossen, die christliche Rechte im Handel und Wandel in und außer Gericht hatten und deren Vorrechte, erblich waren:
  2. den Privilegierten, welche das Recht hatten, mit verschiedenen, in ihren Spezialprivilegien enthaltenen Arten, von Sachen zu handeln; ihr Vorrecht war nicht erblich, doch wurde auf ihre Kinder bei offenen Privilegiis Rücksicht genommen;
  3. den Tolerierten, welche ebenfalls auf Lebenszeit ihr Recht, in Breslau zu wohnen, erhalten, deren Gewerbe,aber eingeschränkter als das der Privilegierten war;
  4. den sogenannten Fixentristen, welche nur auf eine bestimmte oder unbestimmte Zeit zu bleiben die Erlaubnis hatten.

Endlich ist noch zu bedenken, daß alle diese nach Ort und Personen so sehr verschiedenen Berechtigungen alle Augenblick im Zeitablauf geändert wurden. Beispiel; 1769 war, wie wir sahen, den schlesischen Landjuden die Erlaubnis erteilt worden, Bier- und Branntweinurbars, Fleischereien usw. zu pachten; 1780 wurden ihnen alle derartigen Pachtungen verboten; 1787 aber schon wieder nachgegeben.

Jeder, der die wirtschaftliche Entwicklung der letzten Jahrhunderte auch nur einigermaßen in ihrer Eigentümlichkeit begriffen hat, weiß ja nun aber auch, daß die gewerberechtlichen Bestimmungen zum guten Teile nur auf dem Papiere standen, daß namentlich alle kapitalistischen Interessen sich sehr wohl ihnen zum Trotz durchzusetzen vermochten. Dazu gab es mehr als ein Mittel. Nicht bloß die Gesetzesübertretung, der der bureaukratische Staat immer lässiger gegenüberstand; auch eine Menge erlaubter Mittel und Wege gab es, sich lästige Beschränkungen, vom Halse zu halten: Konzessionierungen, Privilegierungen und wie sonst die Freibriefe hießen, die die Fürsten so gern ausstellten, wenn sie sich damit einen keinen Nebenverdienst verschaffen konnten. Und nicht zuletzt waren es die Juden, die sich solcherart Vergünstigungen zu verschaffen wußten. Was die preußischen Edikte von 1737 und 1750 ausdrücklich sagten: daß den Juden dieses und jenes verboten sei: „ohne Unsere dazu erhaltene besondere Konzession, als deshalb sie sich in gewissen, Fällen bei Unserm General-Direktorio zu melden haben“ das verstand sich bei allen gewerberechtlichen Beschränkungen stillschweigend von selbst. Denn wenn nicht irgendwo sich ein Ausweg gefunden hatte: wie sollte es sich sonst erklären lassen, daß die Juden in manchem gerade derjenigen Handelszweige, die ihnen vom Gesetze ausdrücklich verschlossen wurden, wie etwa in der Leder- oder Tabakbranche, von jeher eine Führerstellung eingenommen haben?

Und doch läßt sich an einem Punkte die Einwirkung der alten Gewerbeverfassung auf den Werdegang der Juden nachweisen: das ist dort, wo das Wirtschaftsleben durch die Herrschaft korporativer Verbände beeinflußt wurde oder richtiger: wo die wirtschaftlichen Vorgänge sich im Rahmen genossenschaftlicher Organisation abspielten. In die Zünfte und Innungen fanden die Juden keinen Zutritt; das Kruzifix, das in allen Amtsstuben dieser Verbände aufgestellt war, und um das sich alle Mitglieder versammelten, hielt sie zurück. Und darum; wenn sie ein Gewerbe betreiben wollten, so konnten sie es nur außerhalb der Kreise, die von den christlichen Genossenschaften besetzt gehalten wurden; gleichgültig, ob ein Produktionsgebiet oder ein Handelsgebiet in Frage stand. Und deshalb waren sie wiederum zunächst aus äußeren Gründen in die geborenen „interlopers“, die Bönhasen, die  Zunftbrecher, die „Freihändler“ als die wir sie allerorten angetroffen haben.

Viel einschneidender haben das Schicksal der Juden offenbar diejenigen Teile der Rechtsordnung bestimmt, die ihr Verhältnis zur Staatsgewalt, also insbesondere ihre Stellung im öffentlichen Leben regelten. Sie weisen zunächst in allen Staaten eine auffallende Ubereinstimmung auf, denn sie laufen letzten Endes sämtlich darauf hinaus: die Juden von der Anteilnahme am öffentlichen Leben auszuschließen, also ihnen den Zugang zu den Staats- und Gemeindeämtern, zur Barre, zum Parlamente, zum Heere, zu den Universitäten zu versperren. Das gilt auch für die Weststaten — Frankreich, Holland, England und Amerika. Eine eingehende Darstellung des bürgerlichen Status der Juden vor der „Emanzipation“ erübrigt sich um s0 mehr, als ja diese Dinge im allgemeinen bekannt sind. Erinnert mag nur daran werden, daß ihr staatsrechtliches Halbbürgertum in den meisten Staaten bis tief ins 19. Jahrhundert hinein angedauert hat. Nur die Vereinigten Staaten erklärten schon 1783 die politische Gleichberechtigung aller Bürger ohne Unterschied des Glaubens; Frankreichs berühmtes Emanzipationsgesetz, trägt das Datum des 27. Septembers 1791, und in Holland brachte, den Juden die Vollbürgerfreiheit die Batavische Nationalversammlung im Jahre 1796. Aber selbst in England kämpften die Juden, noch in den 1840er Jahren um den Eintritt ins Parlament (der erste gewählte Abgeordnete war Baron Lionel de Rothschild im Jahre 1847) und erst das Jahr 1859 brachte ihnen volle Gleichberechtigung. In den deutschen Staaten beginnt diese doch erst seit 1848 und wird zu einer endgültigen und allgemeinen erst durch das Gesetz des Norddeutschen Bundes vom 3. Juli 1869; Osterreich folgte 1867, Italien 1870 usw.

Und daß der Buchstabe des Gesetzes noch lange nicht die wirkliche Gleichberechtigung brachte — bis auf den heutigen Tag nicht gebracht hat —, lehrt ein Blick in eine beliebige freisinnige Zeitung, in der wir Tag für Tag die Klagen finden, daß wieder ein jüdischer Freiwilliger nicht Offizier bei den Zietenhusaren geworden ist oder wieder nicht genug Richter- oder Notarstellen mit Juden besetzt worden sind.

Was diese Zurücksetzung der Juden im öffentlichen Leben, für Wirkungen haben mußte, ist von mir schon des öfteren dargelegt worden: das Wirtschaftsleben zog zunächst insofern Nutzen daraus, als es die gesamte Tatkraft, die im jüdischen Volke aufgespeichert war, aufnehmen konnte. Wenn aus andern Volksschichten die besten Talente an dem Wettbewerb um die Macht im Staate sich beteiligten, mußten sie im Judentum notgedrungen (wenn sie nicht etwa in der Beth-midrasch sich durch scholastische Studien aufzehrten) sich im Wirtschaftsleben betätigen. Sie mußten aber auch in diesem — je mehr es auf dem Gelderwerb aufgebaut wurde und je mehr der Geldbesitz, zu einer Machtquelle wurde — das Feld erblicken, auf dem sie das erobern konnten, was ihnen das Gesetz auf geradem Wege, zu erringen versagte: Ansehen und Einfluß im Staate, Wiederum ist damit eine der Wurzeln blosgelegt, aus denen die starke Bewertung des Geldes erwuchs, wie wir sie bei Juden angetroffen haben.

Die Ausschließung aus dem Gemeinschaftsleben mußte aber noch in anderer Richtung die Stellung der Juden im Wirtschaftsleben verbessern, sodaß sie abermals einen Vorsprung vor ihren christlichen Mitbewerbern erlangten.

Sie erzeugte nämlich das, was man politische Farblosigkeit nennen könnte: eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber dem Staat, in dem sie lebten und noch mehr gegenüber der Regierung, die in diesem Staate jeweils das Heft in den Händen hatte. Dank dieser Gleichgültigkeit waren sie mehr denn irgend jemand sonst befähigt, die Träger der kapitalistischen Weltwirtschaft zu werden, indem sie den verschiedenen Staaten „die Kapitalkräfte der Weltwirtschaft zur Verfügung stellten“ Nationale Konflikte wurden geradezu eine Hauptquelle für jüdischen Erwerb.

Nur dank dieser politischen Farblosigkeit war es ihnen aber auch möglich, in Ländern wie Frankreich, die einen häufigen Systemwechsel erlebten, den verschiedenen Dynastien und Regierungen zu dienen: die Geschichte der Rothschilds enthält die Bestätigung für diese Behauptung. Die Juden halfen also, dank ihrer Zurücksetzung im Staate, die schließlich dem Kapitalismus, als solchem anhaftende Indifferenz gegenüber allen nicht dem Erwerbsinteresse dienenden Werten zur Entwicklung zu bringen, wurden also auch nach dieser Seite hin Förderer und Mehrer, des kapitalistischen Geistes.