Die vier psychischen Grundbedürfnisse

Der Psychotherapieforscher Klaus Grawe hat in seiner großartigen Arbeit vier psychische Grundbedürfnisse identifiziert, die unser psychisches Erleben steuern.(8) Diese psychologischen Grundbedürfnisse stehen im
Dienst der Evolution: Indem wir motiviert sind, sie zu erfüllen, sichern wir unser menschliches Überleben und somit die Verbreitung der Gene. Unsere psychologischen Grundbedürfnisse in Kombination mit unseren Emotionen sind sozusagen die Motivation für unser Leben. Von morgens bis abends, von der Wiege bis zur Bahre sind wir teils bewusst (aber meistens unbewusst) damit beschäftigt, unsere psychischen (und körperlichen) Grundbedürfnisse zu befriedigen.

Unsere körperlichen Grundbedürfnisse kennen die meisten. Wenige wissen aber, dass unsere psychischen Grundbedürfnisse den körperlichen Grundbedürfnissen gleichzusetzen sind. So haben wir das körperliche Grundbedürfnis nach Nahrungsaufnahme. Dieses ist für unser Überleben existenziell. Weniger existenziell ist hingegen, dass wir Schokolade essen (auch wenn sich das manchmal anders anfühlen mag …). Wie mit den körperlichen verhält es sich auch mit den psychischen Grundbedürfnissen; sie sind universell und betreffen jeden Menschen. Es gibt jedoch individuelle Schwankungen, mit welchen Mitteln wir unsere Grundbedürfnisse befriedigen.

Die vier psychischen Grundbedürfnisse sind:

  • 1. Unser Bedürfnis nach Bindung und Zugehörigkeit,
  • 2. unser Bedürfnis nach Autonomie und Kontrolle,
  • 3. unser Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung,
  • 4. unser Bedürfnis, Lustgefühle zu bekommen und Unlustgefühle zu vermeiden.

Die vier Grundbedürfnisse greifen ineinander: Ist ein Grundbedürfnis befriedigt oder auch unbefriedigt, so sind häufig die weiteren drei ebenfalls tangiert. Wenn ich beispielsweise in einer Liebesangelegenheit eine Zurückweisung erfahre, dann wird nicht nur mein Grundbedürfnis nach Bindung frustriert, sondern auch jenes nach Autonomie und Kontrolle, weil ich keinen Ein uss auf das Verhalten meines Liebesobjektes habe. Die Abfuhr entzieht sich meiner Kontrolle und schwächt meinen Handlungsspielraum (Autonomie). Gleichzeitig wird aber auch mein Grundbedürfnis nach Selbstwerterhöhung frustriert, weil eine Zurückweisung den Selbstwert – zumindest vorübergehend – schmälert. Und natürlich ist auch mein Grundbedürfnis, Unlust zu vermeiden, betroffen – erzeugt doch eine Zurückweisung in Liebesdingen maximale Unzufriedenheit.

Ich möchte die vier psychischen Grundbedürfnisse noch einmal am Beispiel von Maja erläutern. Durch das wenig einfühlsame Verhalten ihrer Eltern wurden Majas psychische Grundbedürfnisse in ihrer Kindheit des Öfteren frustriert. Durch die häufige Kritik ihrer Eltern fühlte sie sich häufig abgelehnt (Bindungsbedürfnis). Zudem konnte sie wenig Einfluss nehmen auf das strenge Verhalten ihrer Eltern und es ihnen selten recht machen (Kontrollbedürfnis). Darüber hinaus hat sie die häufige Kritik ihrer Eltern oft traurig gemacht (Selbstwert und Unlust).

Wie ich bereits unter dem Abschnitt »Unser Selbstbild bestimmt, was wir wahrnehmen« erörtert habe, hat Maja, wie alle kleinen Kinder, die Verantwortung dafür übernommen, dass ihre Eltern sich ihr gegenüber so verhielten. Sie hat also nicht gedacht und gefühlt: Mama und Papa sind viel zu autoritär und wenig einfühlsam! Sondern sie hat gedacht: Ich genüge nicht! Diese frühkindliche Prägung, die ich als Schattenkind bezeichne, ist mit allen vier psychischen Grundbedürfnissen Majas, mit denen sie genetisch ausgestattet ist, eng verwoben.

Und das geht so: Majas Schattenkind ist in ständiger Sorge, dass es von anderen Menschen abgelehnt wird. Diese Sorge interagiert mit allen vier psychischen Grundbedürfnissen Majas. Sie lebt in der latenten Angst, dass durch eine etwaige Ablehnung ihrer Person ihr Bindungsbedürfnis, ihr Kontrollbedürfnis und ihr Selbstwertgefühl frustriert werden (Frust = Unlust, damit wäre auch das vierte Grundbedürfnis betroffen). Majas Grundangst vor Ablehnung motiviert sie enorm, das ganze Geschehen unter Kontrolle zu bringen. Kontrolle ist nämlich die Antwort auf Angst und die Antwort auf jegliche Form der Inkonsistenz. 

Kurzer Reminder: Inkonsistenz entsteht, wenn unsere Wünsche und Vorstellungen von der Realität abweichen. Wenn wir Inkonsistenz wie beispielsweise in Form von Ablehnung erleben oder auch nur sorgenvoll erwarten, dann setzen wir alles daran, die Kontrolle zu gewinnen – sowohl über den vermeintlichen Angreifer als auch über unsere Gefühle. Kontrollstreben ist die Mutter sämtlicher Selbstschutzmaßnahmen. Deswegen möchte ich auf das psychologische Grundbedürfnis nach Autonomie und Kontrolle im nächsten Abschnitt als Erstes eingehen.

(8) Grawe bezieht sich hier auf die Arbeiten von Seymor Epstein zur »Cognitive-experiential self-theory«.