Die Wahrnehmung

Wenn wir so in die Welt gucken, so wie ich es jetzt gerade von meinem Schreibtisch aus tue, dann erscheint uns das, was wir sehen, ungeheuer real. Tatsächlich findet die Realität aber fast ausschließlich in unserem Kopf statt. Das fängt schon mit dem Farbsehen an. Die wahre Welt da draußen besteht nur aus elektromagnetischen Wellen in unterschiedlichen Intensitäten und Wellenlängen. Es gibt da draußen keine Farben. (Diesen Gedanken finde ich übrigens total gruselig, spiegelt er für mich doch eindrücklich die Kälte des Universums wider.)

Die Farbillusion entsteht auf unserer Netzhaut. Andere Spektren an elektromagnetischer Strahlung, wie zum Beispiel Infrarot oder Röntgenstrahlen, können wir nicht sehen. Aber auch sie sind nachweislich vorhanden. Tiere hingegen können manche Dinge viel besser wahrnehmen als wir, beispielsweise Ultraschall. Unsere menschliche Wahrnehmung von der Realität ist vermutlich so weit von der Realität entfernt, dass wir uns noch nicht einmal vorstellen können, wie die Realität tatsächlich aussehen könnte. Es scheint jedoch einen evolutionären Sinn zu haben, dass die menschliche Wahrnehmung begrenzt ist, weil hierdurch viele, für das Überleben irrelevante Informationen schon im Vorfeld ausge ltert werden und somit gar nicht erst unser Gehirn beanspruchen. Um als Mensch klarzukommen, müssen wir also von vielem, was vor sich geht, gar nichts wissen.

Unsere begrenzte menschliche Wahrnehmung ist also schon einmal ein Grund, warum unsere Sicht auf die Realität eingeschränkt und verzerrt ist. Auf der Ebene der rein sinnlichen Wahrnehmung scheinen wir Menschen allerdings so ziemlich alle das Gleiche zu sehen. Wir sind uns einig, was rund und was eckig ist, wie ein Baum oder ein Tisch aussehen.

Kleiner Exkurs: Die Wahrheit und die Philosophie

In der Philosophie wird angezweifelt, inwiefern wir auch bei solchen simplen Dingen überhaupt in der Lage sind, »die Wahrheit« zu sehen. Ende des 18. Jahrhunderts kam der berühmte Philosoph Immanuel Kant zu der Erkenntnis, dass alles Wissen über die Welt aus einer trügerischen Sinneswahrnehmung der Menschen entsteht. Auf diese philosophische Ebene möchte ich mich jetzt aber nicht begeben.

Ich gehe im Folgenden davon aus, dass die gehirntechnische Informationsverarbeitung bei allen Menschen gleich ist, mal abgesehen von Abweichungen wie Farbenblindheit oder veränderten Wahrnehmungen, die sich bei manchen neurologischen Schädigungen einstellen können.

Entscheidend für die Individualität unserer Wahrnehmung ist die subjektive Bedeutung, die wir dem Gesehenen beimessen. Diese Bedeutung entscheidet nicht nur darüber, wie wir wahrnehmen, sondern auch darüber, was wir wahrnehmen. Unsere Wahrnehmung richtet sich nur geringfügig nach dem aus, was da draußen in der Welt los ist, sondern vielmehr nach unseren eigenen Wünschen, Bedürfnissen und Mangelzuständen. Unsere aktuelle Befindlichkeit hat also einen erheblichen Einfluss auf unsere Wahrnehmung. Wenn ich Hunger habe, fokussiere ich auf Essen. Wenn ich unter Langeweile leide, spiele ich mit dem Handy. Wenn ich traurig bin, ist die Welt »grau«. Bin ich verliebt, erscheinen mir meine Mitmenschen viel netter als sonst. Hege ich einen starken Kinderwunsch, fallen mir lauter Schwangere auf.

Ein zweites Kriterium, das unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht, ist die Auffälligkeit einer Wahrnehmung. Wenn mir in der Trierer Fußgängerzone plötzlich ein Kamel entgegenkäme, würde ich das auf jeden Fall sehen, egal wie gedankenversunken oder bedürfnisgesteuert ich gerade bin. Dass wir Reize aufnehmen, die besonders auffällig sind, ist unserem Überlebenswunsch geschuldet, schließlich müssen wir merken, wenn plötzlich eine Bedrohung auftaucht.

Wenn aber nichts auffällig oder von subjektiver Bedeutung für uns ist, dann gelangt es nicht in unser Kurzzeitgedächtnis. Und was unser Kurzzeitgedächtnis nicht erreicht, ist nicht passiert. Unser Auge kann zwar Wahrnehmungsbilder registrieren, solange dieses Bild aber nicht an das Kurzzeitgedächtnis weitergereicht wird, existiert es in unserem Bewusstsein nicht. Das Kurzzeitgedächtnis wird auch als Arbeitsgedächtnis bezeichnet und ist quasi mit unserem Bewusstsein gleichzusetzen. Die Beurteilung, was wichtig und was unwichtig ist, was also bewusst wahrgenommen wird und was im »schwarzen Loch« verbleibt, erfolgt nicht über unsere Sinnesorgane, sondern über unser Gehirn. Man kann unsere bewusste Wahrnehmung mit einer Taschenlampe in der Dunkelheit vergleichen. Auf was sich dieser Aufmerksamkeitsstrahl richtet, hängt von unseren inneren Bedürfnissen und unseren früheren Erfahrungen ab. Alles, was wir sehen, landet nicht einfach im Gehirn, sondern wird durch unsere früheren Erfahrungen gefiltert. Wenn wir hingegen etwas sehen, das wir zuvor noch nie gesehen haben, dann können wir das Gesehene nicht einordnen, nicht in seiner Bedeutung erfassen. Denn jedes Bild der äußeren Realität, das auf unsere Netzhaut trifft, wird mit vergangenen Erfahrungen verglichen. Das geht natürlich so schnell, dass wir das gar nicht bemerken. Ein Sinneseindruck aus der Außenwelt landet auf dem primären Hirnrindenfeld, das ist das Bild von draußen, die Realität . Dieses Bild wird jedoch mit Erinnerungen aus dem sekundären Hirnrindenfeld , das auch Assoziationsgebiet genannt wird, verglichen und vermischt. Erst hierdurch erlangt das Bild seine subjektive und persönliche Bedeutung. Insofern ist das, was wir sehen, immer eine Mischung aus der Realität und unseren subjektiven Erfahrungen. Unsere Wahrnehmung wird also sehr stark von unserer Erinnerung bestimmt. Dieses Prinzip, also die Verknüpfung von Sinneseindruck und unserer persönlichen Erfahrung, gilt übrigens auch für andere Wahrnehmungsorgane, also auch die Ohren, die Nase, die Zunge und unsere Haut.

Wichtig ist, dass unsere Wahrnehmung Empfindungen in uns auslöst. Es ist unmöglich, eine Empfindung ohne subjektive Tönung und Bedeutung zu erleben. So löst der Geruch, den eine Tasse Kaffee verströmt, bei einem Kleinkind ganz andere Empfindungen aus als bei einem Erwachsenen, der sie dringend nach dem morgendlichen Aufstehen benötigt. Der Kaffeegeruch löst beim Erwachsenen ganz andere Assoziationen und somit auch andere Empfindungen aus.

Evolutionär ergibt diese enge Verknüpfung von Wahrnehmung und Erfahrung Sinn. Hierdurch können wir nämlich blitzschnell Gefahren einschätzen, etwa das kleine, süße Kuschelkätzchen von der giftigen
Schlange unterscheiden. Durch die Verknüpfung von Wahrnehmung, Erfahrung und Empfindung findet Lernen statt. Wie ich weiter oben schon ausgeführt hatte, sind unsere Emotionen in diesem Zusammenhang überlebenswichtig – würde der Anblick der giftigen Schlange nämlich nicht sofort Angst in uns auslösen, dann hätten wir keine klare Vorstellung davon, wie wir uns richtig verhalten sollen. Die Angst treibt uns entweder zur Flucht an oder rät uns zum Angriff – je nachdem, wie die subjektiv bewerteten Chancen stehen.

Zusammenfassend nehmen wir also nur einen Bruchteil der uns umgebenden Realität wahr, und zwar im Wesentlichen das, was für uns von subjektiver Bedeutung ist. Wir reagieren auch weniger auf die Realität,
sondern auf die Bedeutung, die wir ihr durch unsere subjektiven Lernerfahrungen beimessen. Streng genommen reagieren wir also auf unsere eigenen Gedanken und Interpretationen, die sich vor allem aus
unseren persönlichen Erinnerungen ergeben.