Wir sind unsere Erinnerung

Wenn wir das Licht der Welt erblicken, ist unser Gehirn nur zu circa 25 Prozent ausgebildet. Diese 25 Prozent betreffen basale Überlebensfunktionen wie beispielsweise die Regulation von Hunger und Sättigung. Auch unser Gefühlsleben ist noch rudimentär entwickelt und kann im Wesentlichen nur zwischen Lust und Unlust unterscheiden. Die Funktionseinheit des Gehirns, die schon bei unserer Geburt ausgebildet ist, bezeichnet man als das Stammhirn oder Reptiliengehirn. Dieser Teil des Gehirns macht bei niederen Wirbeltieren fast das gesamte Gehirn aus.

Das heißt, wir sind in dieser Phase unseres Lebens so funktionsfähig wie ein Reptil. Alle höheren Gehirnregionen, wie das limbische System, das für unsere emotionalen Interaktionen und unsere Erwartungen zuständig ist, sowie der präfrontale Kortex, in dem komplexe Denk- und Entscheidungsprozesse verarbeitet werden, entwickeln sich erst während der und durch die Interaktion mit anderen Menschen.

Hinsichtlich dieser »Hardware«, also der funktionalen Eigenschaften wie der Struktur des Nervensystems, stellt unser Gehirn bei unserer Geburt ein großes Spektrum an Möglichkeiten bereit. Wie sich unsere »Software«, also unsere Gedanken und Gefühle, jedoch letztlich formatiert und wie der Informations uss im Gehirn vonstattengeht, hängt entscheidend davon ab, welche Erfahrungen wir im Laufe unseres Heranwachsens sammeln. Ganz besonders rasant entwickelt sich unser Gehirn in den ersten sechs Lebensjahren, weswegen diese für unsere psychische Prägung auch so wichtig sind. Ganz fertiggestellt ist das Gehirn im Normalfall im zwanzigsten Lebensjahr. Allerdings ist es bis an unser Lebensende lernfähig.

Wir können in höheren Lebensjahren sowohl noch neue Fähigkeiten erlernen als auch unsere psychische Software verändern. Allein, was wir in den ersten zwei Lebensjahren erfahren, kann im Erwachsenenalter nicht mehr gelöscht werden. Während der ersten zwei Lebensjahre bildet sich unser Urvertrauen oder auch Urmisstrauen in uns selbst und in die Welt aus. Diese Prägung ist irreversibel. Allerdings kann man als Erwachsener durch Selbstreflexion und die Aneignung neuer innerer Einstellungen und das Erlernen neuer Verhaltensweisen einen möglichen »Programmierschaden« ganz gut kompensieren.  

Bevor man anfängt, seine frühen Kindheitserlebnisse bewusst zu reflektieren und somit einen gewissen Abstand zu ihnen zu erlangen, fungieren diese frühen Prägungen wie eine Brille, durch die man die Wirklichkeit wahrnimmt. In der neuropsychologischen Wissenschaft wird diese Brille auch als mentale Landkarte (englisch: Mindmap) bezeichnet.

Unsere frühen Prägungen bestimmen unser Selbstbild und unser Selbstwertgefühl, und beide entscheiden maßgeblich darüber, wie wir andere Menschen wahrnehmen und was wir von ihnen erwarten. Und weil wir ohne andere Menschen und ohne die Gemeinschaft nicht überlebensfähig wären, ist die Art und Weise, wie wir unsere Beziehungen wahrnehmen und gestalten, die Grundlage unseres psychischen Lebens und Überlebens.

Wenn ein kleines Kind wiederholt die Erfahrung macht, dass seine Bedürfnisse nach Nähe und Geborgenheit von seinen Eltern nicht erfüllt werden, dann speichert sein Gehirn ab, dass es generell wenig Beachtung bekommt und sich auf Menschen nicht verlassen kann. Weil das Gehirn dieses Kindes jedoch viel zu wenig entwickelt ist, als dass es verstehen könnte, dass die Eltern überfordert sind und eventuell eine Bindungsstörung aufweisen, gibt sich das Kind an diesem Mangelzustand selbst die Schuld. Es meint und fühlt, es sei nicht liebenswert genug und habe Fürsorge nicht verdient. Das ist sozusagen der Spiegel, den ihm seine Eltern vorhalten, wenn das auch in den meisten Fällen nicht intendiert ist. Dieser Prozess wird in der Psychologie als das gespiegelte Selbstwertempfinden bezeichnet und ist eine Konditionierung, die uns ein Leben lang erhalten bleibt – hierauf werde ich noch öfter zu sprechen kommen. Durch das lieblose Verhalten seiner Eltern verinnerlicht das Kind ein Gefühl von Minderwertigkeit und eine gewisse Skepsis gegenüber anderen Menschen und deren Verlässlichkeit. So ist sein Gehirn nun synaptisch verknüpft, mit diesem Gehirn wird es groß und mit diesen Erinnerungen aus seiner Kindheit vergleicht der spätere Erwachsene alle weiteren Erfahrungen, die er mit anderen Menschen macht. Durch die Prägung seines Gehirns sammelt er jedoch keine objektiven Erfahrungen, sondern diese werden durch den ständigen Abgleich mit alten Erinnerungen subjektiv verzerrt. Das geht allen Menschen so, auch denen, die vorrangig schöne Erinnerungen abgespeichert haben. Sie haben dadurch viele positive Vorannahmen. Die Erfahrungen, die wir mit unseren Eltern machen, entscheiden also darüber, ob wir ein eher positives Selbst- und Menschenbild in uns tragen oder eher ein negatives.