Lernen und Erinnerung

Wenn wir uns bewusst machen, dass unsere Erfahrungen und Erinnerungen unsere Wahrnehmung beein ussen, folgt daraus natürlich, dass wir auch alle neuen Informationen unter bestimmten – also unseren individuellen – Voraussetzungen aufnehmen. Lernen und Erinnern sind untrennbar miteinander verknüpft. Indem wir Informationen in unserem Gedächtnis abspeichern, lernen wir. Alles neu Erlernte prägt und verändert gegebenenfalls unsere zukünftigen Reaktionen. Ein alltägliches Beispiel: Wenn ich erfahre, dass der Mann meiner Arbeitskollegin schwer erkrankt ist, dann verhalte ich mich ihr gegenüber etwas aufmerksamer und rücksichtsvoller als ohne dieses Wissen.

Nun stellt sich jedoch die Frage, welche von den unzähligen Informationen, mit denen wir ständig konfrontiert werden, in unser Langzeitgedächtnis gelangt. Was hält unser Gehirn für speicherungswürdig? Da ist zunächst einmal das Kriterium der Wiederholung zu nennen. Je öfter wir eine bestimmte Information dargeboten bekommen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir sie uns merken. Durch sture Wiederholung können wir auch emotional total uninteressante Dinge lernen, wie beispielsweise die Wiedergabe einer Telefonnummer. Sehr eingängige und einfache Informationen können jedoch auch ohne Wiederholung sofort in unserem Langzeitgedächtnis landen. Kürzlich bin ich zum Beispiel über das englische Wort für Zecke gestolpert, nämlich »tick«. Ich fand das so
eingängig, dass ich es mir nach nur »einmaliger Darbietung« gemerkt habe (es wäre zu schön, wenn das bei allen Vokabeln so wäre).

Ein zweites Kriterium, welches Lernen enorm erleichtert, sind Emotionen. Erlebnisse, die entweder ganz besonders schön oder ganz besonders schrecklich sind, merken wir uns am besten. Deswegen geraten die normalen Tage, die wir erleben, schneller in Vergessenheit als die außergewöhnlichen. Extrem gut abgespeichert werden zum Beispiel Erlebnisse, die uns in Angst versetzen. Angst sorgt dafür, dass wir uns in Sicherheit bringen, im äußersten Fall unser Leben retten. Angst hat deswegen in unserem Gehirn die höchste Priorität, sie ist sozusagen die VIP unter den Emotionen. Starke Angst blockiert die Vernunft. Im Zweifelsfall laufe ich nämlich lieber sofort davon, als lange darüber nachzudenken, ob das raschelnde Ding, das sich da auf dem Waldboden bewegt, ein morscher Zweig oder eine gefährliche Schlange ist. Angst sorgt dafür, dass wir sofort handeln – flüchten, angreifen oder uns tot stellen. Auf jeden Fall merken wir uns die Situation und den Ort, wo wir das Angsterlebnis hatten.

Das Gehirn von traumatisierten Menschen, die katastrophale Angsterlebnisse hatten, ist sogar in seiner Struktur verändert. Ihr Gehirn schlägt bereits bei Kleinigkeiten Alarm, auch wenn sie nur ganz entfernt mit der traumatischen Situation assoziiert sind. Eine Klientin von mir, die auf offener Straße einen Überfall überlebt hatte, litt in der Folge unter krassen Angstattacken, die durch laute Schritte ausgelöst wurden. Die lauten Schritte
des Täters waren die Sinneserfahrung, die dem Überfall unmittelbar vorausging. Diese Schritte hatten sich als Gefahrensignal quasi in ihr Gehirn eingebrannt. Das Angstzentrum im Gehirn wird Amygdala (Mandelkern) genannt, sie ist ein wichtiger Bestandteil des limbischen Systems, dem Sitz unserer Gefühle. Man kann sich die Amygdala dieser Klientin wie einen rechtschaffenen Wächter vorstellen, der es einmal versäumt hatte, sie rechtzeitig vor der Gefahr des Überfalls zu schützen und nun, um diesen Fehler niemals zu wiederholen, bei jeder Kleinigkeit Alarm schlug. Einen ganz gravierenden und nachhaltigen Effekt auf unser Gehirn haben natürlich auch Kindheitstraumata. Hierauf werde ich in diesem Buch noch an anderen Stellen vertiefend eingehen.

Aber mal abgesehen von den traumatischen Erfahrungen, die uns das Leben leider bescheren kann, hat unser Gehirn grundsätzlich die schlechte Angewohnheit, sich auf die Probleme und Baustellen in unserem Leben zu konzentrieren und weniger auf die Dinge, die gut laufen. Leben wir beispielsweise in einer langjährigen, harmonischen Beziehung, so können wir uns wunderbar auf unsere Arbeit und andere Dinge konzentrieren, weil
unser Gehirn die Beziehung sozusagen unter »läuft« abgehakt hat und sich nicht weiter mit ihr beschäftigt. Menschen, die hingegen in einer Achterbahn-Beziehung gefangen sind, leiden darunter, dass sie sich ganz schlecht auf andere Dinge konzentrieren können. Ich habe mit unzähligen Betroffenen gesprochen, die in eine Beziehung mit einem bindungsängstlichen Partner verstrickt sind. Bindungsängstliche verhalten sich in der Partnerschaft hochgradig ambivalent: Mal stellen sie ganz viel Nähe her, dann laufen sie wieder davon. Die Partner wissen überhaupt nicht, woran sie sind, und können sich keinen Reim auf das widersprüchliche Verhalten machen. Wie der arme Pawlow’sche Hund, den ich unter »Das Konsistenzprinzip« erwähnt hatte, erhalten sie extrem uneindeutige Signale und leiden unter hochgradiger Inkonsistenz. Ihre Gehirne drehen fast durch bei dem Bemühen, das Verhalten ihres Partners unter Kontrolle zu bekommen. Alle äußern sinngemäß das Folgende: »Ich kann an nichts anderes mehr denken. Gäbe es eine Pille zum Abschalten – ich würde sie sofort einnehmen!«

Es ist also kein Wunder, dass wir mit dieser Konfiguration unseres Gehirns schnell schlechter Stimmung sind und die von Jens Corssen beschriebene »gehobene Gestimmtheit« sich bestenfalls sporadisch einstellt. Würden wir unser Augenmerk hingegen mehr auf erfreuliche Dinge lenken und im Augenblick verweilen können, so hätten wir unsere Stimmung viel besser im Griff. Stattdessen kreisen unsere Gedanken oftmals um Situationen, die bereits in der Vergangenheit liegen, die also gar nicht mehr existieren, außer eben in unserer Erinnerung. Da hilft es, sich bewusst zu machen, dass es eigentlich nicht mehr die Situation an sich ist, die einen runterzieht, sondern nur unsere Gedanken an sie, also elektromagnetische Impulse im Gehirn.

Das gleiche Prinzip gilt für unsere Zukunftsängste. Die meisten Szenarien, vor denen wir uns ängstigen, treten ohnehin nie ein.

Um diesem Negativ-Drall unseres Gehirns entgegenzuwirken, gibt es eine sehr einfache und wirksame Maßnahme, die heute auch oft empfohlen wird: Man beginnt, ein sogenanntes »Dankbarkeits-Tagebuch« zu führen. Man notiert sich jeden Abend, wofür man den Tag über dankbar sein durfte. Hierdurch ruft man sich vieles ins Gedächtnis, das im Alltag ansonsten als »selbstverständlich« untergeht. Dazu kann beispielsweise die warme Wohnung gehören, in der man lebt, die freundliche Kollegin, ein leckeres Mittagessen und so weiter. Der Effekt beim Dankbarkeitstagebuch liegt darin, dass man bereits nach wenigen Tagen des fleißigen Notierens viel aufmerksamer registriert, worüber man sich im Alltag freuen kann und hierdurch dem Gehirn ein Schnippchen schlägt.