Unser Selbstbild bestimmt, was wir wahrnehmen

Ob wir anderen gefallen und Bindung erhalten oder ob wir auf Ablehnung stoßen und im schlimmsten Fall von der Gemeinschaft ausgeschlossen werden, hängt davon ab, wie andere Menschen uns wahrnehmen. Dass wir positiv wahrgenommen werden, dass wir gut ankommen, ist essenziell für uns. Nicht wenige Menschen behaupten, dass es ihnen gleichgültig sei, was andere von ihnen denken. Zuerst einmal zeigt diese Aussage aber, dass die betreffenden Menschen sich große Mühe geben, nicht von der Anerkennung anderer abhängig zu sein – was irgendwie paradox ist: Denn dass man sich große Mühe gibt, beweist ja, dass die Anerkennung anderer eben doch wichtig ist.

Das Bedürfnis nach menschlicher Anerkennung hat nichts mit übertriebener Eitelkeit zu tun; wir werden mit diesem Bedürfnis geboren. Das liegt zum einen daran, dass wir Menschen ohne die Gemeinschaft nicht überlebensfähig sind. Ohne Beziehungen gäbe es keine Verteilung der Gene, ohne diese keine Verbreitung der Menschheit. Die Gene sind quasi die Währung der menschlichen Evolution, so wie Geld die Währung einer Firma ist. Hat die Firma kein Geld mehr, geht sie pleite und ihre Existenz löst sich auf. So verhält es sich auch mit den Genen und der Menschheit.

Deswegen legt uns die Evolution so unheimlich viel Motivation in die Wiege, uns an andere Menschen zu binden. Gleichzeitig ist es so, dass sehr viele Menschen den oben angesprochenen »Sinn des Lebens« aus ihren Beziehungen zu anderen bekommen. Die größte Sinnlosigkeit erleben wir, wenn wir wichtige Beziehungen verlieren – wenn ein geliebter Mensch oder auch ein geliebtes Tier stirbt, wenn eine Liebesbeziehung oder eine Freundschaft zerbricht. Dass es bei unseren Beziehungen nicht nur um die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse oder um Glücksgefühle geht, zeigt unser Umgang mit Streit oder Differenzen in unseren Verbindungen. Wie auch der bekannte Lebenskunst Philosoph Wilhelm Schmid in einem Interview sagte: »Der Geliebte oder Freund macht einen nicht jeden Tag und jede Nacht glücklich, trotzdem trennt man sich nicht sofort – aus dem einfachen Grund, dass man einen tieferen Sinn in diesem Zusammenhalt erkennt«(007).

Damit wir aber solche Bindungen überhaupt knüpfen können, müssen wir gefallen. Wenn wir keinem anderen Menschen gefallen, bekommen wir keine Bindung. Also versuchen wir alle, anderen zu gefallen. Mit welchen Mitteln wir das angehen, hängt dabei von unserem kulturellen Umfeld und unserer Zielgruppe ab. Ein Gangsta Rapper findet andere Maßnahmen als eine Ordensschwester.

Unser Gehirn rechnet also ständig Chancen und Risiken aus, womit wir wohl auf Zustimmung oder auf Ablehnung stoßen. Wie diese Kalkulation ausfällt, hängt ganz wesentlich davon ab, wie wir uns selbst wahrnehmen, also von unserem Selbstbild. Finden wir uns im Großen und Ganzen okay, gehen wir davon aus, dass die meisten anderen Menschen uns mögen oder uns zumindest nicht ablehnen. Wir projizieren unser positives Selbstbild in die Köpfe der anderen: »Ich bin doch okay, so wie ich bin. Warum sollte jemand etwas gegen mich haben?« Diese innere Überzeugung ist kaum zu erschüttern. Wenn wir uns dagegen selbst nicht genügen, haben wir ständig das Gefühl, uns furchtbar anstrengen zu müssen, um akzeptiert zu werden. Gleichzeitig zweifeln wir an, dass unsere Bemühungen erfolgreich sind. Wir gehen dann davon aus, dass auch unser Gegenüber unsere vermeintlichen Mängel bemerkt. Unser Selbstbild entscheidet also darüber, wie wir die Chancen für unser soziales Überleben berechnen.

Ein Fallbeispiel: Maja (37 Jahre) wurde sehr streng erzogen. Ihre Eltern verfolgten die an sich gute Absicht, sie bestmöglich zu fördern. Sie haben dabei jedoch etwas zu viel des Guten getan. In ihrer Kindheit und Jugend hat Maja viel Drill erfahren, die Kernbotschaft ihrer Eltern lautete: Es geht immer noch besser! Was Majas kindliches Gehirn jedoch aus dieser Erziehung zog, ist ein tief verinnerlichtes Lebensgefühl, das sich zusammenfassen lässt mit: »Ich bin nicht gut genug!« Dieses Lebensgefühl ist auch als ein Glaubenssatz zu bezeichnen. Majas Gehirn wurde durch die zwar gut gemeinten, aber schlecht umgesetzten Absichten ihrer Eltern hinsichtlich ihres Selbstbildes und ihres Selbstwertgefühls negativ geprägt. Diese Prägung hat weitreichende Auswirkungen auf ihre Selbstwahrnehmung und somit auf die Art und Weise, wie sie andere Menschen wahrnimmt. In Majas Fall führt ihr negatives Selbstbild dazu, dass sie davon ausgeht, dass andere Menschen sie kritisch wahrnehmen. Unbewusst unterstellt sie also anderen, dass sie genauso über sie denken, wie sie selbst über sich denkt.

Jeder Mensch verinnerlicht durch seine persönliche Erziehung Glaubenssätze, die seinen Selbstwert und sein Selbstbild ausdrücken. Im Guten wie im Schlechten. Wären Majas Eltern einfühlsamer gewesen und hätten sie gefördert, ohne sie hierbei zu überfordern, dann hätte Maja ein anderes Selbstbild mit anderen Glaubenssätzen verinnerlicht. In diesem Fall hätte sie höchstwahrscheinlich ein positives Selbstbild verinnerlicht, das sich in Glaubenssätzen wie »Ich bin gut!« Und: »Ich kann viel erreichen!« ausdrücken würde. Dieser Vorgang – also wie wir verinnerlichen, was uns unsere Eltern über unseren Wert spiegeln – wird in der Psychologie als Introjektion bezeichnet. (Wie gesagt, dieser Prozess läuft auf Elternseite meistens unbewusst und somit unbeabsichtigt ab.) Der Begriff der Introjektion stammt ursprünglich aus der Psychoanalyse und bezieht sich auf die Verinnerlichung negativer Einstellungen zu sich selbst und der Welt. Ein Introjekt ist sozusagen wie ein »Fremdkörper«, der sich im Gehirn eingenistet hat und die psychischen Funktionen der Wahrnehmung, der Emotion, der Kognition und schließlich des Verhaltens störend beeinflusst. Diese Introjektionen, die ein Kind durch negative Einflüsse und Spiegelungen seiner Eltern (und anderer Personen) in sich aufnimmt, bezeichne ich als »Schattenkind«. Im Prinzip sind natürlich auch die positiven Einstellungen zu uns selbst und der Welt Introjekte, auch wenn der Begriff sich in der Psychoanalyse nur auf negative Überzeugungen bezieht.

Kleiner Exkurs: Inneres Kind, Schattenkind und Sonnenkind

Die Prägungen unseres Gehirns, die in unserer Kindheit entstehen, werden in der Psychologie als das »innere Kind« bezeichnet. Das innere Kind ist eine Art Metapher für die psychischen Programme, die sich durch die Interaktion des Kindes mit seiner Umwelt herausbilden. Der Terminus »das innere Kind« (oder auch: das Kindheits-Ich) bezieht sich allerdings nicht nur auf die problematischen Introjektionen, die wie ein Fremdkörper in uns wirken, sondern auch auf psychisch gesunde Anteile, also ein positives Selbstbild und einen stabilen Selbstwert. Wir alle tragen sowohl problematische als auch gesunde und stärkende Prägungen in uns. Für Letztere verwende ich den Begriff des »Sonnenkindes«. Wobei das Sonnenkind in meinem Ansatz nicht nur für unsere psychisch gesunden Anteile steht, sondern auch für die Veränderungsmöglichkeiten, über die wir als Erwachsene verfügen. Das Sonnenkind beinhaltet somit auch die psychischen Selbstheilungskräfte, die wir in uns entfalten können.

Majas negatives Selbstbild, das sie unwissentlich und – von ihren Eltern unbeabsichtigt – übernommen hat, ist ihre Introjektion, ihr Schattenkind. Solange sie dies nicht reflektiert und für sich auflöst, wird sie sich mit diesem negativen Programm identifizieren, was bedeutet, dass sie von ihrer gefühlten Minderwertigkeit überzeugt ist und daran glaubt. Ihre Selbstwahrnehmung bestimmt, wie sie andere Menschen wahrnimmt. Weil sie sich als minderwertig empfindet, projiziert sie in andere Menschen häufig eine gewisse Überlegenheit. Die meisten anderen Menschen sind in ihrer Wahrnehmung, in ihren »Schattenkind-Augen«, potenzielle Angreifer und keine ihr wohlgesonnenen Mitmenschen.

Der Begriff der Projektion bedeutet, dass man Inhalte, die eigentlich zu einem selbst gehören, auf andere Menschen überträgt und diese hierdurch verzerrt wahrnimmt. Maja projiziert also durch ihre Schattenkind-Augen – deren subjektiven Blickwinkel nur sie hat – eine gewisse Überlegenheit und somit potenzielle Bedrohlichkeit auf andere Menschen.

Grundsätzlich läuft alles, was wir wahrnehmen, durch den subjektiven Filter unserer persönlichen Erinnerungen und unseres Selbstbildes. Reize, die wir aus der Außenwelt empfangen, werden immer subjektiv interpretiert. Die Interpretation der Wirklichkeit bestimmt unsere Gedanken, Gefühle und unser Verhalten. Und umgekehrt beeinflussen unsere Gedanken und Gefühle unsere Wahrnehmung der »Wirklichkeit«. Ich empfange also einen Reiz aus der Außenwelt – zum Beispiel zieht mein Gegenüber die Mundwinkel nach oben –, dann interpretiere ich diesen Reiz (blitzschnell und unbewusst) entweder als ein Lächeln oder als ein »blödes Grinsen«. Aus dieser Interpretation ergibt sich ein angenehmes Gefühl (Freude) oder ein unangenehmes (Ärger), das wiederum einen Verhaltensimpuls auslöst: Ich lächle beispielsweise zurück oder ich mustere mein Gegenüber mit genervtem Gesichtsausdruck. »Auf Reiz folgt Interpretation, folgt Emotion, folgt Verhalten« lautet die kurze Formel, welche die Art und Weise beschreibt, wie wir unseren Mitmenschen begegnen. Allerdings hängen unsere Interpretationen auch von unseren tagesaktuellen Emotionen ab. Habe ich sowieso schlechte Laune, bin ich eher geneigt, die hochgezogenen Mundwinkel als blödes Grinsen zu interpretieren. Habe ich gute Laune, sehe ich ein Lächeln. Habe ich ein Schattenkind introjiziert, das sich minderwertig fühlt, so wie Maja, dann bin ich grundsätzlich geneigt, meine Mitmenschen negativ verzerrt wahrzunehmen.

Kurz gefasst kann man sagen, dass die allermeisten Kommunikationsprobleme und somit Störfaktoren eines friedlichen sozialen Miteinanders durch den Zusammenhang zwischen Introjektion und Projektion erklärt werden können beziehungsweise durch die Wahrnehmungsverzerrungen, die durch unsere persönliche Interpretation äußerer Ereignisse (Reize) statt nden. Das gilt sowohl für den Konflikt zwischen zwei Nachbarn als auch für jenen zwischen zwei Staaten.

Permanent geschieht es, dass man aufgrund seiner eigenen, subjektiven Ängste andere Menschen, Menschengruppen und Staaten als potenzielle Aggressoren wahrnimmt. Sie werden damit aufgrund der eigenen verzerrten Wahrnehmung zu einer Art Erweiterung unseres Selbst. Deswegen ist es außerordentlich wichtig, diese Prozesse zu reflektieren und sie letztlich aufzulösen.