Ich bin dem Leben gewachsen

Die internale Kontrollüberzeugung

Die Intensität des persönlichen Kontrollbedürfnisses verändert sich im Laufe des Lebens. Am Anfang, so schon Klaus Grawe (009), ist es sehr eng verbunden mit unserem Bedürfnis nach Bindung. Wenn wir geboren werden, sind wir vollkommen abhängig von einer Bindungsperson, die sich unserer annimmt. Machen wir als Säugling und später als Kleinkind wiederholt die Erfahrung, dass man sich gut um uns kümmert, erleben wir, dass wir einen gewissen Einfluss auf unsere Umgebung nehmen können.

Deswegen ist es wichtig, dass man sich dem Säugling zuwendet, wenn er schreit. Denn nur durch Schreien kann er in der ersten Zeit seines Lebens darauf aufmerksam machen, dass ihm etwas fehlt. In der weiteren Entwicklung des Kindes ist es wichtig, dass es immer wieder erfährt, dass seine Wünsche und Bedürfnisse ernst genommen werden und es einen eigenen Willen haben darf. Auch hierdurch lernt es, dass Beziehungen etwas sind, das man nicht nur über sich ergehen lassen muss, sondern aktiv mitgestalten kann.

Diese Erfahrungen von »Ich kann mitgestalten, ich kann mich selbst behaupten und ich kann mich wehren« speichern sich tief im Gehirn und Gefühl des Kindes ab. Der spätere Erwachsene hat dann im Großen und Ganzen das Gefühl, dem Leben und seinen Widrigkeiten gewachsen zu sein.

Psychologen sprechen in diesem Zusammenhang von der internalen Kontrollüberzeugung. Diese bezeichnet die Überzeugung, etwas bewirken zu können. Je nachdem, welche Erfahrung ein Kind macht, kann es eine hohe oder niedrige internale Kontrollüberzeugung entwickeln. Eine hohe internale Kontrollüberzeugung geht mit einem stabilen Selbstwertgefühl einher.

Wenn ein Kind nämlich wiederholt die Erfahrung macht, dass seine Eltern sich gut um seine Bindungsbedürfnisse kümmern und hierdurch auch sein Bedürfnis nach Kontrolle befriedigen, dann erlebt es sich durch den Spiegel seiner Eltern als wertvoll. Wurden die kindlichen Bedürfnisse nach Bindung und Kontrolle hingegen häufig frustriert, dann entwickelt das Kind eine niedrige internale Kontrollüberzeugung, die einen weitreichenden Einfluss auf seine spätere Lebensgestaltung hat.

Menschen üben jedoch nicht allein Kontrolle aus, um bestimmte Ziele zu erreichen, sondern auch, um sich vor Verletzungen (der vier Grundbedürfnisse) zu schützen. So kann ich den starken Wunsch hegen, beruflich in eine verantwortliche Position zu kommen, aber gleichzeitig Angst haben, in dieser zu scheitern. Die Frage ist dann: Nehme ich die Angst in Kauf und setze mich aktiv dafür ein, diese Position zu erreichen? Oder ist es mir wichtiger, mich vor einem etwaigen Scheitern zu bewahren?

In der Psychologie spricht Klaus Grawe (010) in diesem Zusammenhang von Annäherungs- und Vermeidungszielen. Bei der Annäherung weiß ich genau, was ich will und wie ich es erreichen kann. Bei der Vermeidung will ich mich so weit wie möglich entfernen. Den Selbstwert vor einer Kränkung zu schützen, ist ein typisches Vermeidungsziel. Jeder Mensch arbeitet ständig an größeren und kleineren Annäherungs- und Vermeidungszielen. Menschen, die jedoch über ein geringes Selbstwertgefühl und damit einhergehend über eine niedrige internale Kontrollüberzeugung verfügen, neigen dazu, ihr Leben eher nach Vermeidungszielen auszurichten. Ihr größtes und häufig unbewusstes Anliegen ist es, nicht verletzt zu werden. Zum einen rechnen sie sich geringe Chancen aus, ihre Ziele zu erreichen, und zum anderen beherrscht sie die untergründige Angst, ein Scheitern oder eine Zurückweisung nicht verkraften zu können. Sie vollziehen ihr Leben in der Defensive, ihr Selbstschutz ist häufig ihr stärkstes Handlungsmotiv.

Maja, die uns im Abschnitt »Unser Selbstbild bestimmt, was wir wahrnehmen« das erste Mal begegnet ist, richtet ihr Leben eher nach Vermeidungs- als nach Annäherungszielen aus. Aufgrund ihrer Minderwertigkeitsgefühle rechnet sie häufig mit Ablehnung und persönlichem Versagen. Sie möchte anderen Menschen nur ihre starken Seiten zeigen und versperrt deswegen einen Teil ihrer Identität. Auch mit nahestehenden Personen wie guten Freundinnen redet sie nicht über ihre Selbstzweifel und Versagensängste. Festen Liebesbeziehungen weicht sie aus. Sobald ein Mann näheres Interesse zeigt, das über eine unverbindliche Affäre hinausgeht, zieht sie sich von ihm zurück. Sie ist überzeugt, dass man sie so, wie sie wirklich ist, nicht lieben kann, und dass jeder Mann, wenn er sie näher kennenlernt, sie früher oder später verlassen wird. Auch in ihrem Beruf als Webdesignerin fühlt sie sich am wohlsten, wenn sie möglichst wenig Aufmerksamkeit auf sich zieht. Es käme ihr nicht in den Sinn, eine Führungsposition anzustreben. Ihr ganzer Daseinsvollzug ist darauf ausgerichtet, sich vor persönlichen Verletzungen zu schützen.

Das Schwierige an Vermeidungszielen ist, dass man sie – anders als Annäherungsziele – nur schwerlich erfüllen kann. Bei einem Annäherungsziel ist das Kriterium, wann man es erreicht hat, meistens recht klar definiert. So möchte ich zum Beispiel mit Person XY eine feste Beziehung beginnen oder ich möchte die nächste Beförderung erhalten. In beiden Fällen weiß ich, wann ich mein Ziel erreicht habe. Vermeidungsziele hingegen verlangen eine ständige Wachsamkeit – ich komme nicht am Ziel an, weil das Ziel negativ definiert ist. Ist die eine potenzielle Verletzung abgewendet, taucht schon direkt die nächste Gefahrensituation auf. Das Ziel, nicht verletzt zu werden, kann nicht erreicht werden, denn solange ich am Leben bin, bin ich verletzbar.

Vermeidungsziele sind also schlechter kontrollierbar als Annäherungsziele. Und wie wir bereits gelernt haben, löst ein Mangel an Kontrolle Stress aus. Dies ist einer der Gründe, warum Menschen wie Maja, die ein hohes Vermeidungsmotiv aufweisen, unter ständiger Anspannung stehen.

Menschen wie Maja unterscheiden sich von Menschen, die vorwiegend Annäherungsziele aufweisen, vor allem durch ihre persönliche Erwartung, ob sie in der Lage sind, ihre Ziele zu erreichen. Diese Erwartung wird durch das Ausmaß der internalen Kontrollüberzeugung bestimmt, das ein Mensch aufgrund seiner früheren Erfahrungen entwickelt hat. Dies zeigt, wie hochgradig subjektiv unsere Gehirne geprägt sind. Dieselbe Maja hätte, wenn ihre Eltern etwas einfühlsamer gewesen wären, eine höhere internale Kontrollüberzeugung entwickelt und würde sich dementsprechend viel mehr zutrauen. Es sind also mitnichten ihre objektiven Fähigkeiten oder ihre persönliche Attraktivität, die über ihren Lebens- und Liebeserfolg bestimmen, sondern allein die subjektive Einschätzung ihrer Erfolgsaussichten. Ich erinnere daran, dass Maja durch die sehr leistungsbetonte Erziehung ihrer Eltern ein Schattenkind introjiziert hat, das überzeugt ist, den elterlichen Anforderungen nicht zu genügen. In dieser verzerrten Wirklichkeitswahrnehmung ist sie verhaftet und projiziert hierdurch in viele Menschen ein hohes Gefährdungspotenzial hinein. Andere, seien es Freundinnen, Vorgesetzte, Arbeitskollegen oder potenzielle Partner, haben in ihren Schattenkind-Augen die Macht (so wie früher ihre Eltern), sie durch Kritik und Zurückweisung zu verletzen.

Wollte Maja sich aus ihrer Schattenkind-Matrix befreien, so müsste sie im ersten Schritt verstehen, dass es sich um eine willkürliche Prägung ihres Gehirns handelt, die allenfalls etwas über das partielle Erziehungsversagen ihrer Eltern etwas aussagt, aber nichts über ihre Fähigkeiten, geschweige denn über ihren menschlichen Wert. Und im zweiten Schritt müsste sie neue Lernerfahrungen machen, indem sie sich Annäherungsziele setzt. Hierdurch könnte sie die Erfahrung machen, dass sie über viel mehr Kontrolle verfügt, als sie bisher angenommen hat. Kontrolle bedeutet in diesem Kontext nicht allein, dass sie viele Erfolgserlebnisse haben wird, sondern auch, dass sie mit einem Misserfolg umgehen kann. Im Abschnitt »Die psychischen Abwehrmechanismen« gehe ich darauf ein, was beim Umgang mit Misserfolgen konkret helfen kann.

  • (009) Grawe: Neuropsychotherapie, S. 233
  • (010) Grawe: Neuropsychotherapie, S. 233