Bindung: Die Basis des Lebens

Auch wenn unser Bedürfnis nach Kontrolle unser Denken, Handeln und Fühlen stark beherrscht, so ist doch unser Bindungsbedürfnis die Basis unseres Lebens. Mit der Bindung fängt alles an: Im Mutterleib sind wir total gebunden. Mit der Geburt werden wir zwar entbunden, sind aber vollkommen schutzlos und abhängig von der Fürsorge anderer. Wir verfügen über keinerlei Kontrollmechanismen außer der Fähigkeit, schreien zu können, um auf uns aufmerksam zu machen. Unser Überleben hängt davon ab, ob wir da draußen in der Welt eine Bindungsperson finden, die sich um uns kümmert. Die ersten Jahre unseres Lebens sind von dieser Abhängigkeit geprägt. Unsere ersten Lebenserfahrungen entscheiden darüber, ob wir Abhängigkeit mit Geborgenheit und Vertrauen assoziieren oder mit Verlassenheit und Misstrauen.

Exkurs: Konditionierung im Säuglingsalter

In den ersten Lebensjahren kommt die Erlösung fast immer von außen, weil der Säugling oder später das Kleinkind sich nicht selbst helfen kann. Deswegen sind unsere Gehirne auch später so stark darauf konditioniert, dass die Lösung für unsere Probleme im Außen zu finden ist. Wenn die Eltern nicht gut auf die Bedürfnisse ihres Kindes reagieren, dann lernt das Kind zudem, dass auch die Ursache für seine Probleme im Außen, also bei seinen Eltern zu verorten sind. Die Eltern beziehungsweise die Pflegepersonen sind Quelle für Frustgefühle, aber auch Helfer in der Not. Wir sind also darauf geprägt, sowohl die Ursache für unsere Probleme als auch deren Lösung in der Außenwelt zu verorten. Deswegen neigen wir dazu, anderen Menschen und den äußeren Umständen die Schuld an unserem Leiden zu geben und von diesen auch die Erlösung zu erhoffen.

Leider funktioniert dies jedoch im Erwachsenenleben meistens nicht. Als Erwachsene müssen wir selbst die Verantwortung für unsere Probleme übernehmen. Wir müssen analysieren, welche falschen Entscheidungen wir getroffen haben, und Lösungswege finden. Dies zeigt mal wieder, dass unsere frühen Konditionierungen nicht zwangsläufig richtig oder tauglich für das spätere Leben sind.

In den ersten Monaten unterteilt sich das Gefühlsleben des Säuglings in Lust- und Unlustgefühle. Ein differenziertes Gefühlsleben ist noch nicht vorhanden und wird erst durch die Interaktion mit den Eltern im Laufe der weiteren Entwicklung erworben. Das Gehirnareal, in dem sich unser Gefühlsleben abspielt, wird als das limbische System bezeichnet. Es beginnt sich circa ab dem dritten Lebensmonat zu entwickeln und ist vollständig aktiv ab dem Alter von acht bis zehn Monaten. Wir erleben Prozesse, die im limbischen System ablaufen, als Stimmungen und Gefühle. Mit den Gefühlen und Stimmungen erhalten auch die Interaktionen mit anderen Menschen ihre Bedeutung, und es bilden sich Erwartungen heraus, wie andere Menschen auf uns reagieren und was wir tun müssen, damit sie uns mögen. Die Fähigkeit, unterschiedliche Gefühle zu emp nden beziehungsweise überhaupt Gefühle zu haben, hängt davon ab, was wir mit den Eltern und in unserer späteren Kindheit und Jugend mit anderen Menschen lernen.

Zwischen dem Baby und seinen Eltern findet ein Prozess statt, der als Einstimmung bezeichnet wird. Einstimmung bedeutet, dass die Emotion und die Mimik der erwachsenen Bezugsperson im Einklang mit den Emotionen des Babys stehen. Hier spielt die elterliche Feinfühligkeit eine zentrale Rolle. Einfühlungsvermögen beziehungsweise Feinfühligkeit, das haben alle psychologischen Studien zu diesem Thema ergeben, ist die wichtigste Fähigkeit, die Eltern besitzen müssen, damit das Kind psychisch gut gedeihen kann.

Neben der Feinfühligkeit ist natürlich die Verfügbarkeit der Eltern entscheidend. Denn was das kleine Kind in seinen ersten zwei Lebensjahren am meisten benötigt, ist ein Gefühl von Sicherheit. Sicherheit entsteht, indem die Eltern feinfühlig und zuverlässig auf ihr Kind reagieren und ihm seine Bedürfnisse nach körperlichem Wohl und liebevoller Zuwendung erfüllen.

Kinder kommen mit einer hohen Bindungsbereitschaft auf die Welt, oder etwas schöner formuliert: Sie tragen eine hohe Liebeserwartung im Herzen. Säuglinge wenden sich instinktiv ihrer Umgebung zu. Sie drehen das Köpfchen und verfolgen, so gut es geht, die Handlungen der sie umgebenden Menschen. Sie bemühen sich aktiv um Nähe, schließlich hängt ihr ganzes Leben von der Zuwendung ihrer Eltern ab. Sie tun viel dafür, sich auf ihre Eltern einzuschwingen. So hat man in einer bewegenden Studie festgestellt, dass bereits sechs Wochen alte Säuglinge instinktiv spüren, wenn ihre Mütter überfordert und wenig bindungsbereit sind. Diese Säuglinge haben ihre Mama angelächelt, wenn diese sie angeschaut hat, während sie einen regelrecht eingefrorenen Gesichtsausdruck hatten, wenn die Mama sie nicht beachtet hat. Diese Säuglinge haben also instinktiv gespürt: Ich muss die Mama bei Laune halten und ein liebes, lächelndes Kind sein, damit die Sache hier gut für mich ausgeht. Sie haben also schon im Alter von sechs Wochen die Verantwortung dafür übernommen, dass ihre Beziehung zur Mutter gelingt.

Im Alter von circa drei Monaten entwickelt sich die neuronale Verbindung zwischen dem Gesicht des Säuglings und dem Vagusnerv, der das sogenannte Bauchgefühl hervorruft. Wenn die Mama beispielsweise lächelt, dann entstehen im Bauchgefühl des Säuglings Freude und das Gefühl, willkommen zu sein. Das Kind kann immer mehr Emotionen zeigen wie Trauer, gespannte Erwartung, Wut oder Freude. Die Eltern müssen diese Gesichtsausdrücke richtig deuten können, also feinfühlig sein, um dann angemessen darauf reagieren zu können. Gelingt dies den Eltern (oder anderen Bezugspersonen) gut, fühlt sich das Kind verstanden und angenommen.

Exkurs: Elterliche Liebe

Der Sozialpsychologe Erich Fromm ist in seinem Buch »Die Kunst des Liebens« darauf eingegangen, wie sich bei diesem Prozess väterliche und mütterliche Liebe ergänzen. Das Buch wurde 1956 veröffentlicht: Es ist in seinen Aussagen nach wie vor aktuell, wenn man Väterlichkeit und Mütterlichkeit nicht mit alten Rollenbildern verbindet, sondern als zwei Prinzipien versteht, die für das Kind notwendig sind. Mütterliche Liebe steht für Nestwärme, der väterliche Part hilft, dass uns Flügel wachsen. Natürlich können Männer die Mutterrolle ausfüllen und Frauen können in die Vaterrolle schlüpfen. Bei den meisten Paaren, die Kinder aufziehen – auch bei homosexuellen –, gibt es jedoch einen »Innenminister« und einen »Außenminister«. Manchmal wechseln diese Rollen auch. Fakt ist, dass wir beide Formen von Liebe brauchen, diese Energien ergänzen sich zu einem Prinzip, das uns Sicherheit, Anerkennung und Autonomie vermittelt.

Ein Beispiel: Wenn ein Kind gestillt und nicht mit der Flasche ernährt wird, rückt der Vater bei den meisten Kindern erst etwas später in den Fokus als die Mutter. Er ist deswegen keine weniger wichtige Bezugsperson. Sobald er als Mensch einen festen Platz in der Wahrnehmung des Kleinkindes hat, kann es sich ein wenig von der Mutter lösen und gewinnt dadurch an Autonomie und Mut zur Eigenständigkeit.


Im Laufe der weiteren Entwicklung verfeinert sich die Interaktion zwischen dem Baby und seinen Bezugspersonen zunehmend, und es werden immer komplexere Gewohnheiten und Erwartungen rund um das Thema Beziehung entwickelt. Ein Beispiel: Während das Neugeborene mit seinemSchreien zunächst erreichen möchte, dass die Eltern kommen, entwickeln sich im Laufe der Zeit bestimmte Rituale, um auf bestimmte Verhaltensweisen zu reagieren. Das Kind erwartet diese Reaktionen dann entsprechend von seinen Eltern: Viele Mütter haben beispielsweise ein kleines Ritual, um ihr Kind zu trösten, wenn es sich wehgetan hat. Natürlich verpassen auch empathische Eltern öfter mal ein bestimmtes Signal ihres Kindes, und die Einstimmung, also die feinfühlige Reaktion der Eltern auf die emotionale Situation des Babys, geht vorübergehend verloren. Babys mögen es nicht, wenn diese Harmonie abhandenkommt, und so werden Eltern und Baby schnell tätig, um sie wiederherzustellen. Gerade diese Wiederherstellung der Einstimmung ist der Prozess, der Vertrauen in Beziehungen aufbaut.

Auch in erwachsenen Beziehungen gilt, dass nicht immer das völlig reibungslose und harmonische Miteinander die Basis des Vertrauens ist, sondern die Fähigkeit, sich wieder aufeinander einzustimmen, wenn es zu vorübergehenden Problemen oder Störungen gekommen ist.

Nach und nach entwickelt das Kind eine immer genauere Vorstellung davon, wie es sich bei seinen Eltern verhalten kann. Zwischen zwölf und 18 Monaten hat es schon viele Erfahrungen gemacht und Gewohnheiten entwickelt, wie es mit seinen Eltern am besten klarkommt. Im Gehirn des Kindes entsteht eine mentale Landkarte, wie die Beziehung mit anderen Menschen grundsätzlich abläuft. In dieser Zeit entwickelt sich das Urvertrauen – oder auch nicht. Es ist verknüpft mit dem Selbstwerterleben und damit einhergehend mit dem Bindungsstil des Kindes. In den ersten zwei Lebensjahren wird das Fundament für die psychische Entwicklung des Kindes gelegt.