Die mentale Landkarte und kindliche Bindungstypen

Durch die Erfahrungen, die das Kind in den ersten zwei Jahren seines Lebens mit seinen Bezugspersonen macht, entsteht ein wichtiger Teil seiner mentalen Landkarte. Darunter versteht man die tief eingeprägte Vorstellung, was ich von mir und anderen Menschen zu halten habe und wie ich es schaffe, meine vier psychologischen Grundbedürfnisse (siehe »Die vier psychischen Grundbedürfnisse«) zu befriedigen und mich vor Verletzung zu schützen.

Exkurs: Das »innere Kind« und die »mentale Landkarte«

In der Psychologie kursieren diverse synonyme Begriffe zur mentalen Landkarte. Der bekannteste ist »das innere Kind«. Das innere Kind umfasst positive wie negative Prägungen, die ich in meinem Ansatz jeweils in »Schattenkind« beziehungsweise »Sonnenkind« unterteilt habe.

Die mentale Landkarte und ihre Synonyme beziehen sich ebenfalls auf die Gesamtheit der frühen Prägungen, seien sie positiv oder negativ. Weitere verwandte Begriffe sind: motivationales Schema, inneres Arbeitsmodell, Grundmuster oder umgangssprachlich: Matrix. Alle Begriffe bezeichnen den Umstand, dass sich in unserem Gehirn eine tief verankerte Vorstellung einprägt, wie soziale Beziehungen funktionieren. Diese Vorstellung ist natürlich nicht nur auf der gedanklichen, sondern auch auf der Gefühlsebene in uns verankert. Wenn mein inneres Kind so geprägt ist, dass es vornehmlich mit Ablehnung durch andere Menschen rechnet, so ist dies eng verknüpft mit Emotionen von Angst und Scham. Ist meine mentale Landkarte jedoch vorwiegend positiv geprägt, dann verbinde ich mit zwischenmenschlichen Beziehungen Gefühle von Wärme und Vertrauen.

Die mentale Landkarte eines Kindes hat einen großen Anteil an dem Bindungsstil, den es in den ersten zwei Lebensjahren entwickelt. Der Bindungsstil bezeichnet die Qualität der Bindung, die ein Kind zu seinen Eltern oder mindestens einem Elternteil entwickelt hat. Kinder, die Urvertrauen erworben haben, weisen einen sicheren Bindungsstil auf. Kinder, die kein Urvertrauen erworben haben, weisen einen unsicheren Bindungsstil auf.

Die sichere Bindung: Die mentale Landkarte eines Kindes mit einer sicheren Bindung und damit einhergehendem Urvertrauen lautet etwa wie folgt: »Ich bin okay, andere Menschen sind auch okay. Man kann sich auf die Welt da draußen im Großen und Ganzen verlassen, und wenn ich etwas brauche, dann muss ich mich melden. Die anderen werden mir helfen. Ich kann mir innerhalb meiner Möglichkeiten allerdings auch selbst helfen.«

Diese Kinder haben die Erfahrung gemacht, dass sie sich auf ihre Mutter und ihren Vater verlassen können und diese einfühlsam ihre Bedürfnisse befriedigen. Hierdurch haben sie die für ihre spätere Bindungsfähigkeit entscheidende Erfahrung gemacht, dass sie Beziehungen mitgestalten können und nicht einfach nur über sich ergehen lassen müssen. Ich erinnere: Das Bindungs- und das Kontrollbedürfnis sind eng miteinander verwoben: indem die Eltern sich dem Kind zuwenden, wenn es etwas braucht, befriedigen sie mithin nicht nur dessen Bindungsbedürfnis, sondern auch sein Bedürfnis nach Kontrolle.

Der Bindungsstil, der in der Kindheit erworben wurde, bleibt über die Lebensspanne ziemlich stabil. Allerdings ist er nicht unabänderlich im Gehirn eines Menschen eingebrannt. Positive oder negative Erfahrungen in der späteren Kindheit oder im Erwachsenenalter können den Bindungsstil auch in die eine oder andere Richtung verändern.

Erwachsene, die einen sicheren Bindungsstil aufweisen, verfügen über ein stabiles Selbstwertgefühl. Sie haben eine gute innere Balance zwischen Anpassung (Bindung) und Selbstbehauptung (Kontrolle) erworben. Ihr Leben gestalten sie vorwiegend nach Annäherungszielen: Sie setzen sich Ziele und fühlen sich den meisten Herausforderungen gewachsen. Zwar haben auch sie Angst vor dem Scheitern, jedoch überwiegt diese Angst nicht ihre Bereitschaft, ihr Ziel zu erreichen, so wie es bei Menschen mit einem hohen Vermeidungsmotiv der Fall ist. Rückschläge ziehen sie zwar runter, aber sie verfügen über gute Coping-Strategien, um mit ihnen fertigzuwerden. Laut Forschung weisen circa 60 Prozent der Menschen einen sicheren Bindungsstil auf.

Die unsichere Bindung: Die Eltern von Kindern mit einem unsicheren Bindungsstil sind entweder vorhersehbar oder unvorhersehbar unzuverlässig. Vorhersehbar unzuverlässig bedeutet, dass die Bezugspersonen sich konstant wenig gekümmert haben, während eine unvorhersehbar unzuverlässige Bezugsperson sich mal kümmert und dann mal wieder nicht. In beiden Fällen stehen die Bedürfnisse der Mutter/Eltern im Vordergrund und nicht die Bedürfnisse des Kindes. Da Kinder aber existenziell auf die Liebe und Zuwendung ihrer Eltern angewiesen sind, tun sie alles dafür, um von ihren Eltern angenommen zu werden. Sind die Eltern also nicht in der Lage, die Bedürfnisse ihres Kindes nach Bindung hinreichend zu erfüllen, dann übernimmt das Kind die Verantwortung dafür, dass seine Beziehung zu den Eltern gelingt – dies ist der Nährboden für psychische Probleme und Störungen im späteren Leben. Das Kind übernimmt die Verantwortung, indem es sich so auf seine Eltern einstellt und sich deren Bedürfnissen anpasst, dass es von ihnen angenommen oder zumindest nicht abgelehnt wird.

Unsichere Bindungsstile

Bei den unsicheren Bindungsstilen unterscheidet man zwischen der unsicher-vermeidenden und der unsicher-anklammernden Bindung. Diese beiden Bindungsstile haben zwar die gleiche zugrunde liegende Ursache, äußern sich aber unterschiedlich. Ich möchte im Folgenden deshalb näher auf die Ausprägungen der kindlichen Bindungserfahrungen und das daraus resultierende Beziehungsverhalten eingehen.

Die unsicher-vermeidende Bindung: »Ich muss mich auf mich selbst verlassen«

Die mentale Landkarte eines Kindes mit einer unsicher-vermeidenden Bindung ist geprägt durch die Annahme: Ich bin nicht wichtig. Andere Menschen sind nicht vertrauenswürdig. Ich kann wenig Ein uss darauf nehmen, ob meine Bedürfnisse befriedigt werden. Was ich bekomme, kann schnell wieder verloren gehen. Nähe ist nicht sicher. Ich muss mich auf mich selbst verlassen.

Diese Kinder haben die Erfahrung gemacht, dass man sich wenig um ihre Bedürfnisse kümmert. Nicht selten werden Essens- und Schlafenszeiten nach einem rigiden Zeitplan organisiert. Insgesamt ist wenig Raum für eine liebevolle, emotionale Zuwendung. Das Kind empfindet sich als Last, die der Mutter zu viel ist. Aber auch, wenn die Atmosphäre im Elternhaus streitbeladen und sehr unruhig ist, kann sich ein vermeidender Bindungsstil entwickeln, weil das Kind spürt, dass es den überforderten Eltern nicht auch noch zur Last fallen darf. Es lernt also früh, seine eigenen Bedürfnisse zurückzunehmen und sich stattdessen auf die Bedürfnisse seiner Eltern einzustellen.

Letztlich können auch Mütter/Eltern, die mit Gefühlen von Traurigkeit und Wut nicht umgehen können, einen vermeidenden Bindungsstil bei ihren Kindern etablieren. Trauer und Wut sind die Emotionen, mit denen ein Baby ausdrückt, dass es ihm an irgendetwas fehlt. Wenn die Mutter hiermit schlecht umgehen kann, weil es in ihr zum Beispiel ein Gefühl triggert wie »Ich genüge meinem Kind nicht, ich bin eine schlechte Mutter«, dann lernt das Kind früh, diese wichtigen Gefühle zu unterdrücken. Es lernt, dass es mit diesen Gefühlen nicht erwünscht und von der Mutter abgelehnt wird. Schlimmstenfalls zieht sich das Kind in sich selbst zurück und verarmt emotional.

Der vermeidende Bindungsstil unterteilt sich noch in die Kategorien

  • ängstlich-vermeidend und
  • gleichgültig-vermeidend.

In den ersten Lebensjahren machen Menschen mit diesen Bindungsstilen recht ähnliche Erfahrungen mit ihren Eltern. Ob ein Kind sich dann eher zum ängstlich-oder gleichgültig-vermeidenden Typ entwickelt, hängt zum einen von seinem angeborenen Temperament ab und zum anderen von seinen weiteren Lebenserfahrungen. 

Ängstliche Vermeider kommen häufig mit einem sensiblen und harmoniebedürftigen Gemüt auf die Welt, das sie anfällig macht für Zurückweisung und Kritik. Die späteren gleichgültigen Vermeider sind hingegen etwas robuster – mit einer gewissen Veranlagung zur Autonomie ausgestattet, wenn sie das Licht der Welt erblicken.

Zudem weisen die Gleichgültigen häufig anlagebedingt eine weit überdurchschnittliche Intelligenz auf. Wenn ihre zwar gefühlsarmen Eltern ziemlich leistungsbezogen sind, dann kann es diesen Kindern doch noch gelingen, deren Ansprüche zu erfüllen. Durch ihre guten Fähigkeiten erlangen sie jedoch nicht nur die Anerkennung ihrer Eltern, sondern später auch ihrer Lehrerinnen und anderer Kinder. Den mangelnden Zuspruch an elterlicher Wärme, der zu einem geringen Selbstwertgefühl führt, können sie hierdurch ein gutes Stück kompensieren. Sie machen die Erfahrung, dass sie sich zwar nicht auf andere Menschen verlassen können, dafür aber auf sich selbst.

Erwachsene, die einen gleichgültig-vermeidenden Bindungsstil aufweisen, weichen vor nahen Liebesbeziehungen zurück, was nicht zwangsläufig bedeutet, dass sie sich nicht binden, sondern dass sie immer eine gewisse Distanz, einen sogenannten Sicherheitsabstand zu ihrem Partner, ihrer Partnerin bewahren. Sie haben sich sozusagen auf die autonome Seite geschlagen, was dazu führt, dass sie sowohl in privaten als auch in beruflichen Beziehungen recht stur ihr eigenes Ding machen.

Beru ich sind sie aufgrund ihrer Fähigkeiten häufig sehr erfolgreich. Die Arbeit bietet ihnen auch eine gute Fluchtmöglichkeit, um die Nähe zu ihrem Partner, sofern sie in einer festen Partnerschaft leben, in Grenzen zu halten.

Im Gegensatz dazu tragen die ängstlichen Vermeider eine große, unerlöste Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit in sich. Da sie jedoch überzeugt sind, dass sie früher oder später verlassen werden, schrecken sie vor einer festen Partnerschaft zurück. Gleichzeitig können sie jedoch die Hoffnung auf ein Happy End nicht aufgeben. Sie tänzeln vor und zurück, innerlich zerrissen zwischen ihrer Liebessehnsucht und ihrer Verlustangst. Die Motivation der Ängstlichen für ihre Ausweichmanöver ist, ihr geringes Selbstwertgefühl zu schützen. Die antizipierte Kränkung, sollten sie verlassen werden, ist für sie nahezu unerträglich. Die ängstlichen Vermeider verspüren – vermittelt durch ihre Verlustangst – die Angst vor einer festen Bindung intensiv, während bei den Gleichgültigen der Wunsch nach Freiheit im Vordergrund ihres Gefühlslebens steht.

Im Abschnitt »Verlustangst und Bindungsangst« werde ich auf das Beziehungsverhalten dieser Bindungstypen noch näher eingehen.

Exkurs: Der desorganisierte Bindungsstil

Es gibt außerdem noch einen vermeidenden Bindungsstil, der als desorganisiert bezeichnet wird. Dieser tritt selten auf. Kinder, die diesen Bindungsstil erworben haben, haben, wie Klaus Grawe schreibt (011), schwere Verletzungen ihres Bindungsbedürfnisses und missbräuchliche Beziehungen erlebt. Plötzlich auf sich allein gestellt, zeigen sie ein betont auffälliges, oft sogar widersprüchliches Verhalten und wiederholen dies ständig, indem sie einerseits Nähe einfordern und sie andererseits sofort wieder ablehnen. Im Erwachsenenalter resultieren aus diesen desolaten Kindheiten oft schwere Bindungs- und Verhaltensstörungen. Viele der Betroffenen können sich als Erwachsene gar nicht auf nahe Liebesbeziehungen einlassen. Manche lassen sich ein, üben jedoch eine extreme Kontrolle über ihre Partner aus als Reaktion auf ihre frühkindlichen Erfahrungen von Ohnmacht und Ausgeliefertsein.

  • (011) Grawe: Neuropsychotherapie, S. 104