Wws-T1: Unsichere Bindungsstile Stephanie Stahl - Wer wir sind: Wie wir wahrnehmen, fühlen und lieben. Alles, was Sie über Psychologie wissen sollten
Unsichere Bindungsstile
Bei den unsicheren Bindungsstilen unterscheidet man zwischen der unsicher-vermeidenden und der unsicher-anklammernden Bindung. Diese beiden Bindungsstile haben zwar die gleiche zugrunde liegende Ursache, äußern sich aber unterschiedlich. Ich möchte im Folgenden deshalb näher auf die Ausprägungen der kindlichen Bindungserfahrungen und das daraus resultierende Beziehungsverhalten eingehen.
Die unsicher-vermeidende Bindung: »Ich muss mich auf mich selbst verlassen«
Die mentale Landkarte eines Kindes mit einer unsicher-vermeidenden Bindung ist geprägt durch die Annahme: Ich bin nicht wichtig. Andere Menschen sind nicht vertrauenswürdig. Ich kann wenig Ein uss darauf nehmen, ob meine Bedürfnisse befriedigt werden. Was ich bekomme, kann schnell wieder verloren gehen. Nähe ist nicht sicher. Ich muss mich auf mich selbst verlassen.
Diese Kinder haben die Erfahrung gemacht, dass man sich wenig um ihre Bedürfnisse kümmert. Nicht selten werden Essens- und Schlafenszeiten nach einem rigiden Zeitplan organisiert. Insgesamt ist wenig Raum für eine liebevolle, emotionale Zuwendung. Das Kind empfindet sich als Last, die der Mutter zu viel ist. Aber auch, wenn die Atmosphäre im Elternhaus streitbeladen und sehr unruhig ist, kann sich ein vermeidender Bindungsstil entwickeln, weil das Kind spürt, dass es den überforderten Eltern nicht auch noch zur Last fallen darf. Es lernt also früh, seine eigenen Bedürfnisse zurückzunehmen und sich stattdessen auf die Bedürfnisse seiner Eltern einzustellen.
Letztlich können auch Mütter/Eltern, die mit Gefühlen von Traurigkeit und Wut nicht umgehen können, einen vermeidenden Bindungsstil bei ihren Kindern etablieren. Trauer und Wut sind die Emotionen, mit denen ein Baby ausdrückt, dass es ihm an irgendetwas fehlt. Wenn die Mutter hiermit schlecht umgehen kann, weil es in ihr zum Beispiel ein Gefühl triggert wie »Ich genüge meinem Kind nicht, ich bin eine schlechte Mutter«, dann lernt das Kind früh, diese wichtigen Gefühle zu unterdrücken. Es lernt, dass es mit diesen Gefühlen nicht erwünscht und von der Mutter abgelehnt wird. Schlimmstenfalls zieht sich das Kind in sich selbst zurück und verarmt emotional.
Der vermeidende Bindungsstil unterteilt sich noch in die Kategorien
- ängstlich-vermeidend und
- gleichgültig-vermeidend.
In den ersten Lebensjahren machen Menschen mit diesen Bindungsstilen recht ähnliche Erfahrungen mit ihren Eltern. Ob ein Kind sich dann eher zum ängstlich-oder gleichgültig-vermeidenden Typ entwickelt, hängt zum einen von seinem angeborenen Temperament ab und zum anderen von seinen weiteren Lebenserfahrungen.
Ängstliche Vermeider kommen häufig mit einem sensiblen und harmoniebedürftigen Gemüt auf die Welt, das sie anfällig macht für Zurückweisung und Kritik. Die späteren gleichgültigen Vermeider sind hingegen etwas robuster – mit einer gewissen Veranlagung zur Autonomie ausgestattet, wenn sie das Licht der Welt erblicken.
Zudem weisen die Gleichgültigen häufig anlagebedingt eine weit überdurchschnittliche Intelligenz auf. Wenn ihre zwar gefühlsarmen Eltern ziemlich leistungsbezogen sind, dann kann es diesen Kindern doch noch gelingen, deren Ansprüche zu erfüllen. Durch ihre guten Fähigkeiten erlangen sie jedoch nicht nur die Anerkennung ihrer Eltern, sondern später auch ihrer Lehrerinnen und anderer Kinder. Den mangelnden Zuspruch an elterlicher Wärme, der zu einem geringen Selbstwertgefühl führt, können sie hierdurch ein gutes Stück kompensieren. Sie machen die Erfahrung, dass sie sich zwar nicht auf andere Menschen verlassen können, dafür aber auf sich selbst.
Erwachsene, die einen gleichgültig-vermeidenden Bindungsstil aufweisen, weichen vor nahen Liebesbeziehungen zurück, was nicht zwangsläufig bedeutet, dass sie sich nicht binden, sondern dass sie immer eine gewisse Distanz, einen sogenannten Sicherheitsabstand zu ihrem Partner, ihrer Partnerin bewahren. Sie haben sich sozusagen auf die autonome Seite geschlagen, was dazu führt, dass sie sowohl in privaten als auch in beruflichen Beziehungen recht stur ihr eigenes Ding machen.
Beru ich sind sie aufgrund ihrer Fähigkeiten häufig sehr erfolgreich. Die Arbeit bietet ihnen auch eine gute Fluchtmöglichkeit, um die Nähe zu ihrem Partner, sofern sie in einer festen Partnerschaft leben, in Grenzen zu halten.
Im Gegensatz dazu tragen die ängstlichen Vermeider eine große, unerlöste Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit in sich. Da sie jedoch überzeugt sind, dass sie früher oder später verlassen werden, schrecken sie vor einer festen Partnerschaft zurück. Gleichzeitig können sie jedoch die Hoffnung auf ein Happy End nicht aufgeben. Sie tänzeln vor und zurück, innerlich zerrissen zwischen ihrer Liebessehnsucht und ihrer Verlustangst. Die Motivation der Ängstlichen für ihre Ausweichmanöver ist, ihr geringes Selbstwertgefühl zu schützen. Die antizipierte Kränkung, sollten sie verlassen werden, ist für sie nahezu unerträglich. Die ängstlichen Vermeider verspüren – vermittelt durch ihre Verlustangst – die Angst vor einer festen Bindung intensiv, während bei den Gleichgültigen der Wunsch nach Freiheit im Vordergrund ihres Gefühlslebens steht.
Im Abschnitt »Verlustangst und Bindungsangst« werde ich auf das Beziehungsverhalten dieser Bindungstypen noch näher eingehen.
Exkurs: Der desorganisierte Bindungsstil
Es gibt außerdem noch einen vermeidenden Bindungsstil, der als desorganisiert bezeichnet wird. Dieser tritt selten auf. Kinder, die diesen Bindungsstil erworben haben, haben, wie Klaus Grawe schreibt (011), schwere Verletzungen ihres Bindungsbedürfnisses und missbräuchliche Beziehungen erlebt. Plötzlich auf sich allein gestellt, zeigen sie ein betont auffälliges, oft sogar widersprüchliches Verhalten und wiederholen dies ständig, indem sie einerseits Nähe einfordern und sie andererseits sofort wieder ablehnen. Im Erwachsenenalter resultieren aus diesen desolaten Kindheiten oft schwere Bindungs- und Verhaltensstörungen. Viele der Betroffenen können sich als Erwachsene gar nicht auf nahe Liebesbeziehungen einlassen. Manche lassen sich ein, üben jedoch eine extreme Kontrolle über ihre Partner aus als Reaktion auf ihre frühkindlichen Erfahrungen von Ohnmacht und Ausgeliefertsein.
Die unsicher-anklammernde Bindung: »Ich muss für Zuwendung kämpfen«
Die mentale Landkarte dieser Kinder lautet: Ich bin nicht okay. Andere sind okay und besser als ich. Ich muss für Zuwendung kämpfen, und wenn ich sie erhalte, geht sie schnell wieder verloren. Mein Einfluss auf andere Menschen ist gering.
Dieser Bindungsstil kann sich entwickeln, wenn das elterliche Verhalten wenig vorhersehbar ist. Mal sind Mutter und Vater zugewandt und liebevoll, dann auch wieder nicht. Das Kind ist den Launen und Stimmungen seiner Eltern ausgesetzt. Die Liebe der Eltern ist an Bedingungen geknüpft, das Kind hat also die Funktion, die Bedürfnisse seiner Eltern zu erfüllen. Die Mutter unterbricht beispielsweise das Spiel ihres Kindes, weil sie gerade einen Kontaktwunsch verspürt. Sucht das Kind jedoch die Nähe seiner Mutter und diese fühlt sich dadurch in ihrer eigenen Tätigkeit gestört, dann weist sie das Kind zurück. Das Kind kann sich das widersprüchliche Verhalten seiner Mutter nicht erklären und fühlt und denkt deshalb: »Ich
bin schuld. Ich bin nicht okay.« Es kämpft um die Zuneigung seiner Mutter und reagiert sehr verzweifelt und ängstlich auf Zurückweisungen und Trennungen.
Erwachsene mit diesem Bindungsstil fühlen sich abhängig von der Zuwendung anderer Menschen. Sie sind überangepasst und sehr bindungsbedürftig. Sie tun viel dafür, um anerkannt und angenommen zu
werden, indem sie sich aktiv um die Zuneigung bemühen. Anders also als die unsicher-vermeidend Gebundenen, die sich am liebsten nur auf sich selbst verlassen, suchen die anklammernd Gebundenen Halt in ihren Beziehungen. Bindung vermittelt ihnen ein Gefühl von Sicherheit, während Alleinsein ein tiefes Gefühl von Verlassenheit in ihnen hervorrufen kann.
In Liebesbeziehungen neigen sie zum Klammern und starker Eifersucht. Verlassen zu werden ist eine Katastrophe für sie, bestätigt es doch ihre tiefverwurzelte Überzeugung, nicht okay zu sein. Es braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass unsicher-anklammernd Gebundene die stärkste Neigung aufweisen, in Beziehungen festzustecken, die ihnen nicht guttun. Das Verhalten ihres lieblosen Partners wird gewohnheitsmäßig auf das eigene Versagen zurückgeführt. Ihr in der frühen Kindheit erworbener
Glaubenssatz »Ich bin schuld!« wird getriggert, und wenn sie an einen manipulativen Partner geraten sind, auch noch verstärkt. Indem sie sich selbst die Schuld geben, nähren sie jedoch die fast unerschütterliche Hoffnung, dass sie die Partnerschaft irgendwie zum Guten wenden könnten, wenn sie an sich selbst arbeiten. Dieser Kampf gilt nicht in erster Linie ihrem Partner; dieser stellt nämlich letztlich nur eine Projektions äche für ihr angeschlagenes Selbstwertgefühl dar. Dies ist jedoch den wenigsten
bewusst. Gefühlt ist der Partner die große Liebe, und seine Zuneigung muss unbedingt erkämpft und unter Kontrolle gebracht werden.
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