Wws-T1: Bindung und Stressregulation Stephanie Stahl - Wer wir sind: Wie wir wahrnehmen, fühlen und lieben. Alles, was Sie über Psychologie wissen sollten
Bindung und Stressregulation
Ein zentraler Aspekt auf dem Weg zum Urvertrauen ist, dass das Gehirn des Kindes durch die liebevolle Zuwendung seiner Eltern lernt, seine Emotionen zu regulieren. Kindliche Gehirne können in den ersten zwei Lebensjahren keinen Stress regulieren. Stress stellt sich immer dann ein, wenn körperliche oder psychische Grundbedürfnisse nicht befriedigt werden und somit Inkonsistenz entsteht.
Die Aufgabe der Eltern ist es, dem Kind diesen Stress abzunehmen. Dies geschieht durch körperliche Zuwendung – nicht durch Reden. Wenn das Kind brüllt, weint oder um sich schlägt, weil es den Stress nicht regulieren kann, dann erfährt es eine große Beruhigung durch körperliche Zuwendung, auch wenn es erst einmal scheinbar nicht gehalten werden will. Durch den Körperkontakt werden das Bindungshormon Oxytocin und körpereigene Opiate (das sind Stoffe, die Schmerzempfindungen regulieren können) ausgeschüttet. Diese haben eine stark beruhigende Wirkung. Durch das wiederholte Erleben von Stress, dann Zuwendung und daraufhin der Ausschüttung von Oxytocin und Opiaten prägen sich Gedächtnisspuren und Reaktionsbereitschaften im Gehirn des Kindes ein. Durch diese wiederkehrende Erfahrung von Zuwendung erlernt das Kind allmählich eine gewisse Selbstregulation. Ab etwa zweieinhalb bis drei Jahren sind Kinder dann einigermaßen in der Lage, Stress zum Teil selbst zu regulieren. Diese Fähigkeit baut sich mit der weiteren Entwicklung immer weiter und differenzierter aus. Das Kind entwickelt »innere Arbeitsmodelle« dazu, welche emotionalen Reaktionsformen es gibt und wie es diese steuern kann.
Fehlt eine sichere Bindungsperson, dann wird diese Reaktionsbereitschaft und somit die gute Selbstregulation im Gehirn des Kindes nicht verankert. Kinder, die eine unsichere Bindung zu ihrer Hauptbezugsperson aufweisen, lassen sich viel schlechter beruhigen. Erhalten sie nicht genügend Beistand beim Durchleben intensiver Gefühle, kann daraus im späteren Leben eine Überaktivität der Alarmsysteme des emotionalen Gehirns entstehen. Diese Prägung besteht auch im Erwachsenenalter fort: Die Betroffenen geraten schneller unter Stress und haben Probleme, ihre negativen Emotionen zu regulieren. Etliche Studien zeigen, dass die Lebensqualität eines Menschen stark davon abhängt, ob in der Kindheit gute Stressregulationssysteme im Gehirn ausgebildet wurden oder nicht. Wer in der Kindheit wenig Sicherheit erfahren hat, fühlt sich auch als Erwachsener leichter angreifbar. Die Betroffenen hegen mehr Ängste und Sorgen, verlieren sich in Grübeleien und/oder in hektischer Aktivität. Die Grundeinstellung zum Leben ist eher pessimistisch, das Selbstwertgefühl gering.
Chemische Botenstoffe wie Oxytocin und körpereigene Opiate, die in einer sicheren Bindungsbeziehung regelmäßig ausgeschüttet werden, haben übrigens auch eine stark hemmende Wirkung auf aggressives Verhalten. Wer in der Kindheit viel Geborgenheit und Sicherheit erfahren hat, entwickelt sich in der Regel zu einem friedlichen Menschen ohne psychische Auffälligkeiten. Ganz anders derjenige, der im emotionalen Mangel groß wurde und nie gelernt hat, damit umzugehen. Die eigentliche Ursache vielen Unglücks wird also zu einer Zeit im Gehirn angebahnt, an die wir keine bewusste Erinnerung haben.
Exkurs: Unser Gedächtnis
Das sogenannte explizite Gedächtnis umfasst alle bewussten Erinnerungen. Diese können aber nur in Form von Sprache abgespeichert werden. Weil wir jedoch erst ab dem zweiten Lebensjahr Sprache erwerben, unterliegen alle früheren Erfahrungen der sogenannten frühkindlichen Amnesie. Das implizite Gedächtnis bezieht sich auf Erfahrungen, die unbewusst bleiben, wie zum Beispiel in der Lebenszeit vor dem Spracherwerb. Diese brennen sich im Gehirn als Gefühls- und Reaktionsbereitschaften (mentale Landkarte) ein.
Unsere frühen Lebenserfahrungen sind somit in unserem impliziten Gedächtnis abgespeichert und haben deshalb so ungeheuer weitreichende Folgen auf unser psychisches Erleben und Verhalten. Wären sie bewusst, also explizit, dann könnte man sie leichter erkennen und verändern. Die im impliziten Gedächtnis abgespeicherten Inhalte sind eine wesentliche Grundlage unserer Persönlichkeit und der Art und Weise, wie wir Beziehungen gestalten. Unser Urvertrauen oder unser Urmisstrauen ist tief im impliziten Gedächtnis verankert. Wer Urvertrauen erworben hat, fühlt sich mit anderen Menschen verbunden und weist das grundsätzliche Gefühl auf, etwas wert zu sein.
Menschen, die in ihrer Kindheit das nötige Urvertrauen vermittelt bekommen haben, fällt es logischerweise in ihrem Erwachsenenleben deutlich leichter, ein positives Selbstwertgefühl zu entwickeln und auch bei Schwierigkeiten aufrechtzuerhalten.
Allerdings differenziert sich das Selbstwerterleben erst in späteren Entwicklungsjahren richtig aus. Es ist nämlich an den Spracherwerb gebunden und stellt somit einen Teil unseres expliziten Gedächtnisses dar. So ist der Selbstwert verknüpft mit unserem Selbstbild, und dieses kann sich erst entwickeln, wenn ich ein stabiles Gefühl für mein Selbst habe und mich mit anderen vergleichen kann. Hierauf gehe ich noch unter dem Abschnitt »Der Selbstwert – das Epizentrum unserer Psyche« näher ein.
Die dafür wichtige Sicherheit kann im ersten Lebensjahr vor allem die Mutter ihrem Kind spenden. Mir ist bewusst, dass das ein heikles Thema ist, aber aus entwicklungspsychologischer Sicht ist das ein Fakt. Die Mutter ist dem Säugling durch die Schwangerschaft sehr vertraut. Er ist ihre Stimme, ihren Herzschlag, ihren Geruch gewöhnt. In den ersten, frühen Entwicklungsjahren ist deshalb die Mutter automatisch die Sicherheitsbasis. Das Kind muss im ersten Lebensjahr sozusagen noch »nachbebrütet« werden. Sachlich betrachtet ist der Mensch – im Vergleich zu anderen Säugetieren – bei seiner Geburt ein Mängelwesen: Er kann nicht laufen, nicht richtig sehen, er kann seine Temperatur nicht selbstständig regulieren.
Um die Fitness eines Affenbabys zu erreichen, müsste er eigentlich 16 Monate im Mutterleib bleiben. Der Stoffwechsel der Frau gibt diesen langen Reifungsprozess aber nicht her, bei einer länger dauernden Schwangerschaft könnte die werdende Mutter ihr Kind nicht mehr mit ausreichend Energie versorgen. Deswegen wurde die Geburt sozusagen vorverlegt, die kleinen Menschenkinder kommen extrem hil os und unfertig auf die Welt und benötigen sehr viel P ege und Zuwendung, um zu gedeihen.
Was für Schlussfolgerungen lassen sich daraus für die angemessene und auch »artgerechte« Betreuung von Kindern ziehen? Generell lässt sich sagen: Je häufiger und zuverlässiger ein Kind in den ersten Jahren erlebt, dass seine engsten Bezugspersonen für es da sind und es beruhigen, umso besser lernt es auch, sich selbst zu beruhigen, mit Stress umzugehen und sich an seine Umgebung anzupassen. Wann ist demzufolge der richtige Zeitpunkt, ab dem ein Kind in eine Kita gehen sollte? Nun hat bei dieser Entscheidung nicht jede Familie die freie Wahl, häufig sind die Eltern auf das Einkommen angewiesen, das trifft besonders Alleinerziehende. Beantwortet man diese Frage aber ausschließlich aus neurologischer und entwicklungspsychologischer Sicht, kann man im Grunde nur davon abraten, ein Kind vor seinem zweiten, besser noch dritten Geburtstag in eine Kita zu geben. Ein Ein- oder Zweijähriges ist noch nicht in der Lage, die Anpassungen zu leisten, die in einer Kita-Betreuung von ihm gefordert werden. Es kann Stress noch nicht abbauen, indem es sich selbst beruhigt. Ihm fehlt seine primäre Bindungsperson, mit der es so vertraut ist und die genau weiß, was dieses Kind braucht und was zu tun ist. Vor dem dritten Geburtstag sind Kinder eigentlich noch nicht reif genug, um sich in einer Gruppe aufzuhalten, in der sie keine Sonderbehandlung durch ihre Bindungsperson erhalten. Darf ein Kind in den ersten beiden Jahren abhängig sein und sein Bedürfnis nach einer sicheren Bindung befriedigen, wird es seinen Lebensraum umso selbstbewusster und interessierter Schritt für Schritt erweitern und neue Beziehungen eingehen.
Mit dieser Einschätzung aus neuropsychologischer Sicht möchte ich keinesfalls die Eltern verurteilen oder beunruhigen, die ihr Kind schon früher in die Krippe geben. Es gibt auch für diese Entscheidung gute Gründe, die immer im Gesamtzusammenhang abgewogen werden müssen. Es kann aber helfen, das Bewusstsein für die emotionalen Bedürfnisse eines Kleinstkindes zu haben. Wer sich für eine frühe Betreuung entscheidet, kann bestimmte Kriterien beachten: Wie groß ist die Einrichtung? Wie ist der Betreuungsschlüssel? Wie viel Zeit hat man für die Eingewöhnung? All das sind Kriterien, die einem Kleinkind dabei helfen können, auch in der Krippe eine enge Bezugsperson zu finden.
Darüber hinaus kann auch die gemeinsame Zeit mit den Eltern einen Ausgleich bringen: Der Krippenalltag ist für ein Kleinkind so anstrengend wie für uns ein herausfordernder Arbeitstag. Es hilft dann, wenn der Stress zu Hause nicht weitergeht und es dort viel Zeit für gemeinsame Erlebnisse und Ruhezeiten gibt. Kinder, die früh in der Kita waren, fallen in späteren Lebensjahren manchmal in ihren Beziehungswünschen auf frühere Entwicklungsstufen zurück. In der Fachsprache wird dieser Vorgang als Regression bezeichnet. So beispielsweise, wenn der Achtjährige die Schuhe zugebunden bekommen oder die Zwölfjährige noch einmal im Bett bei der Mama schlafen will. Das Kind will damit nicht seine Eltern zusätzlich beanspruchen oder gar stressen, sondern etwas von der verpassten Zeit nachholen. In Empathie-Sprache übersetzt bedeuten diese Wünsche: »Liebe Mama, lieber Papa, ich musste früh viele Anpassungsleistungen vollbringen, und deswegen brauche ich jetzt noch einmal ganz besonders viel Zuwendung von euch!«
Es kann also durchaus sinnvoll sein, wenn man seinen Kindern diese Wünsche erfüllt.
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