Fähigkeiten für die Bindung

Wie ich soeben erwähnt habe, lernt ein Kind, das von feinfühligen Eltern großgezogen wird, ganz automatisch, wie man sowohl Beziehungen herstellt als auch seine eigenen Interessen vertritt. Die entsprechenden Fähigkeiten erwirbt es nicht nur durch Regeln des sozialen Miteinanders, sondern insbesondere durch die unmittelbare Beziehung zu seinen Eltern: So bildet ein Kind von einfühlsamen Eltern mehr Spiegelneurone aus als ein Kind, das viel Vernachlässigung erfährt. Als Spiegelneurone bezeichnet man Nervenzellen im Gehirn, die durch das bloße Betrachten einer Situation genauso aktiviert werden wie durch das eigene Erleben: Sie spiegeln die Emotionen, die wir wahrnehmen. Sie ermöglichen es beispielsweise, dass man vor Traurigkeit und Mitleid vergeht, wenn man ein tragisches Schicksal im Film verfolgt.

Exkurs: Spiegelzellen

Wie schon Julia Meyer-Hermann feststellte (012): »Seit Neurologen Mitte der 1990er Jahre entdeckten, dass es diese »Spiegelzellen« im Gehirn gibt und sie das Erleben und die Emotionen von anderen widerspiegeln, wird diese Fähigkeit des Menschen von Medizinern, Biologen, Psychologen und Pädagogen erforscht. Wie funktioniert diese intuitive Verbindung zwischen Individuen? Natürlich gibt es relativ offensichtliche Gefühlsregungen wie Wut oder große Freude. Aber warum können wir auch weniger deutliche Emotionen wie Verlegenheit oder Mutlosigkeit bei Personen spüren, die wir nicht einmal kennen? Und vor allem: Wofür brauchen wir das überhaupt?

Neuropsychologen nehmen an, dass wir mit der Voraussetzung zur Empathie geboren werden, dass sie zu unserer genetischen Grundausstattung gehört.« Die Empathie ist neben unserer Liebesfähigkeit die wichtigste Voraussetzung, um Bindungen einzugehen.

Es ist erwiesen, dass sich umso mehr Spiegelneurone im Gehirn eines Kindes entwickeln, je mehr Mitgefühl es selbst erfährt. Die Spiegelneurone sind also sozusagen die Hardware im Gehirn für die Softskills, sich empathisch auf andere Menschen einzustellen.

Wenn ein Kind außerdem bei seinen Eltern die Erfahrung macht, dass seine Gefühle erlaubt sind und es auch einen eigenen Willen haben darf, dann erwirbt es dazu die Fähigkeit, sich für seine Interessen stark zu machen, was wiederum aufseiten der Autonomie elementar ist.

Ein Kind lernt dann mit der Zeit, sich sowohl anderen anzupassen und gute Beziehungen zu Familie, Freunden und (netten) Lehrern herzustellen, als auch sich selbst zu behaupten und für seine eigenen Interessen einzutreten. Letzteres kann seine Beziehungen natürlich kurzfristig belasten, aber das nimmt dieses Kind in Kauf, wenn es gelernt hat, in Beziehungen zu vertrauen. Ein Kon ikt löst in diesem Kind nicht automatisch Verlustangst aus. Es vertraut darauf, dass eine Beziehung auch eine Meinungsverschiedenheit oder einen Streit aushält und man sich danach wieder verträgt. Wie ich bereits unter »Bindung: Die Basis des Lebens« geschrieben habe, ist die Wiederherstellung der Harmonie nach einem Kon ikt der Vorgang, der unser Vertrauen in einen anderen Menschen besonders stärkt.

Fähigkeiten, die für eine gute Bindung notwendig sind:

  • Anderen gefallen (äußere Attraktivität und sympathisches Verhalten)
  • Zuhören können, sich entsprechend einstellen, empathisch sein
  • Kooperieren und Kompromisse finden können
  • Sich anpassen und nachgeben können
  • Vertrauen können

Es gibt einige Menschen, die Dinge behaupten wie »Ich muss nur mir selbst gefallen«. Dahinter steckt meistens ein übergroßes Autonomiebedürfnis (aus Unsicherheit, nicht gut anzukommen). Auch wenn wir uns natürlich selbst gefallen sollten, müssen wir dennoch anderen gefallen. Wenn wir keinem gefallen, dann bindet sich niemand an uns. Deswegen haben wir in der Regel so ein ausgeprägtes Interesse daran, einen guten Eindruck zu hinterlassen. Wir wollen möglichst gut aussehen und auf keinen Fall schlecht riechen. Wir passen uns an, nden Kompromisse und geben nach, damit wir Anschluss an die Gruppe behalten. Ganze Wirtschaftszweige würden zusammenbrechen, wenn wir nicht so gern anderen gefallen würden. Es gibt unheimlich viele Produkte, die ganz wesentlich unseren Wunsch bedienen, bei anderen Menschen einen guten Eindruck zu machen.

Um überhaupt erahnen zu können, wie wir einen guten Eindruck machen können beziehungsweise was unserem Gegenüber gefällt, brauchen wir unser Einfühlungsvermögen. Die Empathie ist die Brücke vom Ich zum Du. Ohne Einfühlungsvermögen können wir nicht verstehen, was in anderen Menschen vorgeht. Einfühlung vermittelt Nähe, Wärme und somit Sicherheit. Um mich in einen anderen Menschen einfühlen zu können, benötige ich einen guten Kontakt zu meinen eigenen Gefühlen. Daher kommt auch der Ausdruck »Mitgefühl«. Wenn mir jemand beispielsweise erzählt, er sei durch die Führerscheinprüfung gefallen, dann benötige ich die Vorstellung davon, wie sich ein Misserfolg anfühlt, ansonsten kann ich nicht richtig verstehen, was in dem anderen vorgeht. Wenn ein Kind bei seinen Eltern erlebt, dass es alle seine Gefühle fühlen darf und die Eltern diese Zustände (meistens) empathisch begleiten, dann ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass es sich selbst zu einem mitfühlenden Menschen entwickelt.

Exkurs: Erziehungsmethoden von Jungen

»Sei kein Weichei!« oder »Ein Junge weint nicht!« sind Sprüche, die glücklicherweise nicht mehr bei der Erziehung von Jungen verwendet werden. Es ist aber noch nicht allzu lange her, dass Jungen nach einem falsch verstandenen Ideal von Stärke erzogen wurden. Sogenannte »schwache« Gefühle wie Trauer, Hilflosigkeit oder Angst galten als unmännlich. Nur »starke« Gefühle wie Freude und Wut waren auch für Jungen zulässig. Dies hat dazu geführt, dass etliche Generationen von Männern einen schlechten Zugang zu diesen »schwachen« Gefühlen erworben haben. Als Folge davon spüren sie diese Gefühle kaum beziehungsweise versuchen, sie zu unterdrücken, sobald sie auftauchen. Dies ist der Grund, warum viele Männer überfordert waren oder sind, wenn sie mit solchen Gefühlen konfrontiert werden. Wenn die Frau ihrem Mann beispielsweise ihr Herz ausschüttet, weil sie sich hilflos und traurig bei einem Konflikt mit ihrer besten Freundin fühlt, dann kann das einen Mann der »alten Schule« schnell in Bedrängnis bringen. Um mit seiner Frau mitzuschwingen, müsste er nämlich kurz in sich gehen und einen Kontakt zu seinen eigenen Gefühlen von Trauer und Hilflosigkeit aufnehmen. Weil er jedoch nicht gelernt hat, mit diesen umzugehen, sucht er nach einer schnellen Lösung für das Problem. Die Frau wiederum will keinen Lösungsvorschlag, den findet sie nämlich schon selbst, sondern in erster Linie Verständnis für ihre Situation. Sie reagiert dann verärgert und frustriert, weil sie sich – mal wieder – von ihrem Mann abgefertigt fühlt. Wollte der Mann die Gefühle seiner Frau besser verstehen, müsste er zunächst seine eigenen Gefühle besser verstehen und lernen, mit ihnen umzugehen. Es ist also ein großes Glück für alle, dass die Erziehungsmethoden für Jungen sich in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten deutlich verbessert haben. Junge Männer haben im Schnitt einen deutlich besseren Zugang zu ihren Gefühlen, und viele von ihnen vermögen – im Vergleich zu früheren Generationen – auch offen und frei über diese zu reden. Hierdurch haben sich nicht nur die empathischen Fähigkeiten von Männern sehr verbessert, sondern auch ihre Fähigkeit, gute Lösungen für zwischenmenschliche Probleme zu finden.

Für gute Beziehungen müssen wir aber auch vertrauen können. Vertrauen ist das Gegenteil von Kontrolle. Es ist schlicht unmöglich, alles zu kontrollieren, was eine andere Person über uns denkt oder wozu sie imstande ist. Vertrauen ist die Essenz tragfähiger Beziehungen. Vertrauen stärkt die Beziehung, weil es ein Gefühl von Harmonie und Verbundenheit schaft. Vertrauen kann enttäuscht werden – je enger die Beziehung zum anderen, desto größer kann die Enttäuschung sein. Gerade wenn eine Bindung unheimlich wichtig ist, kann die Enttäuschung entsetzlich groß sein. Dieser Gefahr sind wir uns zwar bewusst; wenn unser Vertrauen in uns selbst aber groß genug ist, dann nehmen wir dieses Risiko in Kauf. Wenn wir über genügend Selbstvertrauen verfügen, dann spüren wir tief in uns drin, dass wir eine Enttäuschung überleben werden. Menschen, die nicht vertrauen können, fehlt dieses Selbstvertrauen, sie haben das Gefühl, eine Enttäuschung nicht zu überleben.

Ich habe schon mehrfach erwähnt, dass es für das Miteinander mit anderen und die erforderliche Anpassung nötig ist, eigene Wünsche und Bedürfnisse in den Hintergrund zu stellen. Menschen, die in einer guten Balance zwischen Bindung und Autonomie sind, verfügen über gute Anpassungsfähigkeiten. Wenn sie einen Kompromiss eingehen, haben sie dabei nicht das Gefühl, sich zu verbiegen. Sie wissen um ihre innere Freiheit (es sei denn, sie sind Sachzwängen unterworfen), Ja oder Nein zu sagen. Diese Freiheit resultiert aus ihrer Kindheitserfahrung, auch dann geliebt zu werden, wenn sie einen eigenen Willen zeigen, der konträr zur Haltung ihrer Eltern steht. Gerade weil sie sich frei fühlen, auch Nein sagen zu dürfen, wenn sie Nein meinen, müssen sie nicht notorisch gegen die Erwartungen anderer Menschen rebellieren. Ihre innere Freiheit führt also dazu, dass sie sich auch mit einem guten Gefühl auf die Wünsche anderer Menschen einstellen können. Nicht selten schlagen sich nämlich Menschen, die als Kinder viel Anpassungsdruck verspürten, auf die Seite der Rebellion. Sie haben sich sozusagen eine Anpassungsallergie zugezogen und kämpfen als Erwachsene um ihre Freiheit. Sie fühlen sich schnell von den Erwartungen ihrer Mitmenschen unter Druck gesetzt und reagieren hierauf mit Widerstand, indem sie häu g genau das nicht tun, was von ihnen erwartet wird. Ihre innere Balance ist also zugunsten der Autonomie aus dem Gleichgewicht. Es sind häu g die unsicher-vermeidend Gebundenen, die ihre autonomen Grenzen mit Vehemenz verteidigen.

Die unsicher-anklammernd gebundenen Menschen hingegen, die sich ebenfalls als Kinder zu stark an die Bedürfnisse ihrer Eltern anpassen mussten, bleiben zumeist in der Überanpassung verhaftet. Ihre innere Balance ist deswegen zugunsten der Bindung aus dem Gleichgewicht – sie tun also sehr viel dafür, um von anderen Menschen angenommen zu werden.

Entsprechend ist ihr Bedürfnis nach Anerkennung sehr hoch, und sie opfern viel Zeit für ihr gutes Aussehen und außergewöhnliche Leistungen. Viele streben sogar nach absoluter Perfektion, um sich möglichst kugelsicher gegen Angriffe zu schützen. Weil sie keinen guten Zugang zu ihren Gefühlen haben, merken sie häufig zu spät, wenn sie verletzt werden oder über ihre eigenen Kräfte hinausgehen. Mit anderen Worten: Ihre autonomen Fähigkeiten kommen zu kurz.