Fähigkeiten für die Autonomie und Kontrolle

Damit ich für mich eintreten und meine Interessen behaupten kann, benötige ich Fähigkeiten, die jenen aufseiten der Bindung entgegenstehen. Ich benötige eine gewisse Kampfbereitschaft, die im ersten Schritt voraussetzt, dass ich überhaupt weiß, was ich will. Während es bei der Bindung immer um die Frage geht »Was haben wir gemeinsam?«, geht es bei der Autonomie um die Frage »Was unterscheidet uns?«

Es geht also um meine individuellen Bedürfnisse und Ziele, die mich von einem anderen Menschen oder der Gemeinschaft trennen. Fähigkeiten, die für die Autonomie notwendig sind:

  • Eigene Gefühle und Bedürfnisse spüren
  • Entscheidungen treffen,
  • sich Ziele setzen
  • Argumentieren und kämpfen können.
  • Sich trennen können.

Während es für die Bindung wichtig ist, dass wir unsere eigenen Bedürfnisse ab und zu nach hinten schieben, damit wir uns besser anpassen können, so benötigen wir für die Autonomie einen guten Draht zu unseren Gefühlen.

Ansonsten fällt es uns schwer, eine Entscheidung zu treffen. Gefühle verleihen dem, was ich tue, und dem, was mir widerfährt, eine Bedeutung. Gefühle zeigen die Richtung an, in die ich gehen möchte. Sie signalisieren, dass ich mich annähern kann, wenn sich etwas gut anfühlt; sie warnen mich, dass ich etwas vermeiden sollte, wenn es sich schlecht anfühlt. Auch Entscheidungen, die ich scheinbar aus reiner Vernunft treffe, haben eine gefühlsbasierte Komponente. Denn auch bei einer rationalen Entscheidung gibt letztlich ein gutes Gefühl den Ausschlag. Wer hingegen einen schlechten Draht zu seinen Gefühlen hat, dem gelingt es häufig nicht, eine vermeintlich rationale Entscheidung zu treffen. Zumindest dann nicht, wenn es sich um eine persönliche Entscheidung handelt, wie beispielsweise die Frage, ob man eine Beziehung aufrechterhalten möchte oder sie doch lieber aufgibt. Pros und Kontras werden gegeneinander abgewogen, und die Betroffenen drehen sich im Kreis, weil es sie gefühlsmäßig weder klar in die eine noch in die andere Richtung zieht. Ein guter Kontakt zu den eigenen Gefühlen ist also eine wichtige Voraussetzung, um Entscheidungen zu treffen.

Auch wenn ich weiß, was ich will und wohin die Reise gehen soll, heißt das aber noch lange nicht, dass meine Wünsche mit denjenigen meiner Umgebung konform gehen. Ständig stoßen unterschiedliche Interessen
aufeinander. Ein paar Beispiele: Der eine Partner schläft gern sonntags aus und lässt den Tag auf sich zukommen, den anderen treibt es frühmorgens zu Aktivitäten wie sonntäglichen Ausflügen. Die Mutter will, dass das Kind ins Bett geht, das Kind will aber noch spielen. Das Unternehmen führt eine Umstrukturierung durch, die den Mitarbeitern gar nicht gefällt. Häufig stehen wir also vor der Frage: Passe ich mich an oder setze ich mich durch?

Für ein selbstbestimmtes Leben brauche ich außer eigenen Zielen also auch eine gewisse Durchsetzungskraft. Die Natur hat uns sehr viele Gefühle mitgegeben, damit wir uns an andere Menschen binden. Für die Durchsetzung unserer autonomen Interessen hat sie uns hingegen nur ein Gefühl reserviert, nämlich die Aggression. Ohne ein gewisses Maß an gesunder Aggression bin ich nicht in der Lage, für mich einzutreten.

Aggression und Wut haben gesellschaftlich betrachtet keinen guten Ruf. Der Grund ist, dass Wut Menschen – zumindest vorübergehend – voneinander trennt. Das drückt sich in dem Wort aus-einander-setzen aus. Wenn ein Mensch wütend ist, verbreitet er schlechte Stimmung, und keiner bekommt gern die Wut eines anderen ab. Zudem kann Wut in Hass und Gewalt gipfeln, was natürlich auch nicht zum guten Image dieser Emotion beiträgt.

Psychologisch betrachtet, ist Wut jedoch ein überlebenswichtiges und unbedingt notwendiges Gefühl. Es ermöglicht uns, unsere Grenzen und Interessen zu schützen. Wer einen guten Umgang mit seiner Wut erlernt hat,
ist vital und durchsetzungsfähig. Wut verleiht uns Stärke und Lebendigkeit. Menschen, die aggressionsgehemmt sind, können sich nicht nur schlecht selbst behaupten, sondern wirken auch ein bisschen energielos.

In der Psychologie unterscheidet man die passive von der aktiven Aggression. Die aktive Aggression ist als solche gut erkennbar: Klar argumentieren, laut werden, streiten oder auch zuschlagen sind aktiv-aggressive Verhaltensweisen. Die passive Aggression ist hingegen verdeckter, deswegen spricht man synonym auch vom passiven Widerstand. Zielt die aktive Aggression auf den Angriff, so ist das Wesen der passiven Aggression
die Verweigerung. Den anderen auflaufen lassen, mauern, dichtmachen, trödeln oder auch zu spät kommen, sind Spielarten der passiven Aggression.

Jeder Mensch agiert hin und wieder sowohl passiv als auch aktiv aggressiv. Manchmal machen wir einfach dicht, ein anderes Mal hauen wir auf den Putz. Das hängt – wie so oft im Leben – von der Berechnung unserer persönlichen Chancen ab. Bei einem stärkeren Gegenüber zieht man sich vielleicht zurück und übt sich im passiven Widerstand. Befindet sich das Gegenüber hingegen auf Augenhöhe oder wähnen wir uns sogar überlegen, dann wagen wir den Angriff.

Einige Menschen setzen ihre Ziele vorwiegend passiv-aggressiv durch, andere üben zu viel aktive Aggression aus. Menschen, die häufig passiv-aggressiv agieren, könnte man mit den Attributen stur, störrisch oder dickschädelig beschreiben. Will heißen, sie sind wenig kompromissbereit.

Neben einer wesensbedingten Veranlagung haben sie sich in ihrer Kindheit eine Anpassungsallergie zugezogen, die sie zu der (unbewussten) Entscheidung geführt hat, fortan Widerstand zu leisten. Ein Kompromiss triggert ihr altes Kindergefühl, sich um des lieben Friedens willen verbiegen zu müssen. Passiv-Aggressive ziehen gern ihr Ding durch – ohne Mitsprache weiterer Beteiligter. Die Mitsprache anderer erscheint ihrem Schattenkind nämlich wie Einmischung. Klärungsgesprächen stehen sie ablehnend gegenüber, auch diese sind bereits ein Angriff auf ihre Autonomie. Lieber machen sie dicht und mauern. Oder sie machen Zusagen, die sie dann allerdings nicht umsetzen, oder so quälend langsam umsetzen, dass es die andere Person schier in den Wahnsinn treibt. Die passive Aggression ist auf ihre leise Art sehr destruktiv, weil der Angreifer sich nicht klar zu erkennen gibt, sondern aus dem Hinterhalt agiert.

Wer seine autonomen Bedürfnisse hingegen gesund behaupten möchte, sollte sich im Argumentieren üben. Mit Hilfe von Argumenten kann man im ersten Schritt selbst Standpunktsicherheit gewinnen und im zweiten
Schritt andere überzeugen. Dabei sollte man im Hinterkopf haben, dass es nicht ums Rechthaben oder Gewinnen geht, sondern darum, in der Sache voranzukommen. Gerade Menschen mit einem geringen Selbstwertgefühl erleben es oft als persönliche Niederlage, wenn sie sich argumentativ unterlegen fühlen. Dabei drückt der Satz »Da hast du recht!« Souveränität und Gelassenheit aus. Überangepasste sind normalerweise wenig trainiert im Argumentieren und geraten hierdurch leicht ins Schlingern. Wohl wissend, dass ihnen schnell die Worte ausgehen, treten sie deswegen oft auch gar nicht erst in den Ring. Mit dem Gedanken »Das bringt doch sowieso nichts« legen sie ihre Motivation schon lahm, bevor es losgehen könnte. Mit diesem Verhalten negieren sie die Verantwortung für sich und ihre Wünsche und begeben sich kamp os in die Opferrolle. Das führt allerdings zu weiterer Frustration und Ärger.

Es ist also sinnvoll, sich im Argumentieren zu üben. In meiner Arbeit als Psychotherapeutin habe ich sehr gute Erfolge damit erzielen können, die eigene Vorstellungswelt als Trainingsfeld fürs Argumentieren zu verwenden:
Das funktioniert sowohl im Rückblick auf vergangene Situationen, bei denen man überlegt, welche Argumente hilfreich gewesen wären, als auch bei Situationen, auf die man sich für die Zukunft vorbereitet. Diese gedankliche Beschäftigung mit guten Argumenten in verschiedenen Konfliktsituationen kann man ganz nebenbei vollziehen, beispielsweise auf längeren Autofahrten oder beim Spazierengehen. Je öfter man in Gedanken seine Kompetenz im Argumentieren trainiert, desto besser gelingt es dann auch im wirklichen Leben. In meinem Buch »So stärken Sie Ihr Selbstwertgefühl« befasse ich mich eingehend mit dem Thema, wie man sich verbal gut zur Wehr setzen kann.

Aggressionen haben also ein Doppelgesicht. Sie haben nicht nur eine zerstörerische, verletzende Seite. Sie können auch als Energie eingesetzt werden, um Probleme zu lösen oder uns aus heiklen Situationen zu retten. Dann bringen sie uns weiter.

Beide Seiten dieser Emotion spielen bei der Entwicklung eines Kindes mit. Bevor das Kind sich verbal wehren kann, setzt es oft seine Zähne ein, um sich anderen gegenüber zu behaupten. Das ist keine bewusste Form der Aggression. Das Kind setzt durch das Beißen anderer seine Grenzen. Das Verhalten verschwindet meist, wenn sich das Kind mit Worten wehren kann.

Eine Spezialform der kindlichen Wut ist die sogenannte Trennungsaggression. Dieser Begriff kommt ursprünglich aus der Entwicklungspsychologie und bezeichnet die Wut, die kleine Kinder benötigen, um wichtige Schritte ihrer autonomen Entwicklung zu bewältigen. Ein Höhepunkt der kindlichen Autonomieentwicklung ist die sogenannte Trotzphase. »Hau ab, blöde Mama!« brüllt das Kind dann beispielsweise laut heraus. Wenn es den Eltern einigermaßen gelingt, mit dieser kindlichen Wut umzugehen, dann lernt das Kind im Laufe seines Heranwachsens, seinen Willen und seine Wut angemessener zu artikulieren.

Ein weiterer Höhepunkt der autonomen Entwicklung ist die Pubertät – auch hier tragen Eltern und Kinder häufig Machtkämpfe miteinander aus. In der Pubertät erprobt der junge Mensch sich in seiner Autonomie und Individualität. Dies erfordert eine Ablösung von den Eltern: Die Jugendlichen entwickeln eigene Wertmaßstäbe von richtig und falsch, die wie Leitplanken für autonome Lebensentscheidungen fungieren. Gelingt es den Kindern und Jugendlichen, diese Entwicklungsschritte gut zu bewältigen, dann entwickeln sie gleichsam einen konstruktiven Umgang mit Wutgefühlen.

Es ist sinnvoll für ihr späteres Leben, wenn junge Menschen das Doppelgesicht ihrer Aggression frühzeitig kennenlernen: Wer weiß und akzeptiert, dass er generell zu zerstörerischen Handlungen fähig ist, kann bewusster damit umgehen. Auch im Erwachsenenleben gibt es Situationen, in denen wir Trennungsaggression benötigen – zum Beispiel, um uns aus einer ungesunden Beziehung zu lösen. Wir brauchen sie, um gegebenenfalls die Reißleine zu ziehen: »Jetzt reicht’s! Bis hierhin und nicht weiter! Das war’s! Basta, Schluss, aus!« sind die verbalisierten Beschlüsse, die einer längst überfälligen Trennung in der Regel vorausgehen. Es überrascht wenig,
dass Menschen mit einem anklammernden Bindungsstil über zu wenig Trennungsaggression verfügen und deswegen gefährdet sind, in toxischen – also dysfunktionalen und psychisch ungesunden – Beziehungen stecken zu bleiben.