Wws-T1: Zusammenfassung: Bindung und Autonomie als dynamisches System Stephanie Stahl - Wer wir sind: Wie wir wahrnehmen, fühlen und lieben. Alles, was Sie über Psychologie wissen sollten

Zusammenfassung: Bindung und Autonomie als dynamisches
System

In jedem Menschen sind mit dem Wunsch nach Bindung einerseits und dem Willen zur Autonomie andererseits zwei psychische Grundbedürfnisse angelegt, die sich zu widersprechen scheinen. In dem Moment, in dem ich mich an andere Menschen binde und deshalb an sie anpasse, kann ich mich nicht gleichzeitig selbst behaupten. Beide Grundbedürfnisse sind allerdings elementar für uns. Für ein erfülltes Leben ist es wichtig, die richtige Balance zwischen unserem Unabhängigkeits-Streben und unserem Bedürfnis nach Nähe und Geborgenheit zu finden.

Den grundsätzlichen Konflikt zwischen Abhängigkeit und Autonomie, der sich daraus manchmal ergibt, muss jeder Mensch für sich lösen. Dieser Konflikt wird übrigens in der psychologischen Fachsprache Abhängigkeits-Autonomie-Konflikt genannt.

Die Bindungs- und Autonomieerfahrungen, die wir in unseren ersten Lebensjahren mit unseren Eltern machen, prägen unseren späteren Umgang mit diesem Grundkonflikt. Diese Erfahrungen haben einen nachhaltigen Einfluss auf unsere Persönlichkeit. Sie formen unsere mentale Landkarte: Darauf abgebildet sind unsere tief eingeprägten Vorstellungen, was ich von mir und anderen Menschen zu halten habe, und was ich tun muss, um
angenommen, gemocht und geliebt zu werden. Unsere kindlichen Erfahrungen und Vorstellungen von Bindung und Autonomie sind sozusagen dauerhaft wie Ortschaften auf dieser mentalen Landkarte verzeichnet.

Damit wird die Basis unseres Lebens in jungen Jahren bereits stark geformt: Mit der Bindung zu unserer Mutter fängt alles an, unser Bindungsbedürfnis ist die Grundlage unserer Existenz. Der Mensch braucht andere Menschen, nicht nur für sein Seelenwohl, sondern schlichtweg, um sein Überleben zu sichern. Deshalb verfügen Babys von Geburt an über die Fähigkeit, auf sich aufmerksam zu machen.

Ob wir das sogenannte Urvertrauen ausbilden oder eher ein Urmisstrauen entwickeln, hängt davon ab, wie einfühlsam und liebevoll unsere Eltern mit uns umgehen. Diese ersten Lebenserfahrungen bestimmen, womit man
später Bindung und emotionale Abhängigkeit assoziiert: Wer als kleines Kind die Erfahrung gemacht hat, dass er in seiner Abhängigkeit nicht übersehen, sondern umsorgt wird, hat später nicht ganz generell Angst, in einer Beziehung verletzt zu werden. Er hegt dann auch kein grundsätzliches Misstrauen gegenüber Liebe oder Verliebtheit, sondern verbindet diese Gefühle mit Geborgenheit und Vertrauen.

Solch ein Mensch entwickelt einen sogenannten sicheren Bindungsstil: Er hat verinnerlicht, dass Beziehungen etwas Positives sind, das man selbst mitgestalten kann. Er hat auch die Überzeugung, innerhalb einer Beziehung autonom genug zu sein, um seine Bedürfnisse befriedigen zu können. Das Gegenteil davon ist der unsichere Bindungsstil: Menschen mit einer unsicheren Bindung haben die frühkindliche Erfahrung verinnerlicht, dass man sich auf andere nicht verlassen kann. Sie haben demzufolge Schwierigkeiten, anderen zu vertrauen. Sie haben die Überzeugung, dass sie in Beziehungen nicht zu ihrem Recht kommen und ihnen ohnmächtig ausgeliefert sind.

An dieser Stelle wird deutlich, wie eng das Bindungs- und das Autonomiebedürfnis miteinander verwoben sind: Sie bedingen einander sogar. Wer das Gefühl hat, um seiner selbst willen geliebt zu werden, hat auch das Gefühl, für seine Rechte eintreten zu dürfen und seinen eigenen, individuellen Lebensweg beschreiten zu können. Unsere Entwicklung ist darauf angelegt, dass wir unabhängig und selbstständig von der Fürsorge unserer Eltern werden, wobei hier laut Hilmar Benecke (013) ein klarer zeitlicher Ablauf besteht. »Entwicklungspsychologisch betrachtet folgt die Ausbildung unseres Autonomiestrebens auf die Phase, in der unser Bindungsverhalten geprägt wird. So wie das Kind im ersten Lebensjahr die Verbundenheit mit der Mutter als überlebensnotwendig erfährt, so erforscht es danach seine Umgebung auf Basis der erworbenen Bindungssicherheit.« Wer in dieser Lebensphase erfährt, dass sein Bedürfnis nach Bindung und gleichzeitig nach Eigenständigkeit und Kontrolle berücksichtigt wird, gewinnt eine sogenannte hohe internale Kontrollüberzeugung. Wer eine hohe internale Kontrollüberzeugung hat, hat einen stabilen Selbstwert und ist davon überzeugt, den Herausforderungen des Lebens gewachsen zu sein.
Wurden die kindlichen Bedürfnisse nach Bindung und Kontrolle hingegen häufig enttäuscht, resultiert daraus oft eine niedrige internale Kontrollüberzeugung, die wiederum Einfluss auf die spätere Lebensgestaltung hat.

Wenn es Eltern also hinreichend gelingt, beide Bedürfnisse zu befriedigen, lernt ein Kind zum einen, ein gesundes Bindungsverhalten zu entwickeln. Es erwirbt auch die Fähigkeiten, die es braucht, um eigene Gefühle zu spüren
und für seine Ziele und Wünsche einzutreten.