Wws-T1: Festhalten am geringen Selbstwert Stephanie Stahl - Wer wir sind: Wie wir wahrnehmen, fühlen und lieben. Alles, was Sie über Psychologie wissen sollten
Festhalten am geringen Selbstwert
Ein vielfach untersuchtes psychologisches Phänomen ist, dass viele Menschen den scheinbar unbewussten Drang haben, sich ihr negatives Selbstbild immer wieder zu bestätigen. Sie erwarten zu scheitern. Manchmal sabotieren sie sogar unbewusst einen möglichen Erfolg. Wenn sie dann einen Misserfolg erleiden, bestätigt dieser ihr Schattenkind, das ohnehin denkt, es genüge nicht. Sind sie erfolgreich, dann schreiben sie dies Faktoren wie »Glück« zu oder sie hegen die fast unerschütterliche Überzeugung, dass den anderen nur »noch nicht aufgefallen ist«, wie minderwertig sie tatsächlich sind. Es laufen Millionen hoch erfolgreicher Menschen durch die Welt, die insgeheim denken, dass sie nicht genügten. Dieses Festhalten an einem negativen Selbstbild steht im ausgeprägten Widerspruch zu unserem Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung.
Welchen Grund kann es geben, dass so viele Menschen offensichtlich dieses psychische Grundbedürfnis ignorieren und das Gegenteil praktizieren? Diesen scheinbaren Widerspruch – zwischen dem Wunsch nach Selbstwerterhöhung auf der einen und dem Festhalten an einem geringen Selbstwert auf der anderen Seite – erlebe ich auch häufig bei der Arbeit mit meinen Klientinnen und Klienten.
Nicht selten klagen meine Klienten und Seminarteilnehmerinnen, ihnen sei theoretisch klar, dass ihr Selbstbild durch ihre Eltern falsch geprägt worden sei und sie im Grunde genommen zufrieden mit sich sein könnten. Es gelinge ihnen aber trotzdem nicht, neue, positive Glaubenssätze in ihrem Gefühl zu verankern. Sie schaffen es nicht, den Anteil ihrer Persönlichkeit zu stärken, den ich als »Sonnenkind« bezeichne (siehe »Kleiner Exkurs: Inneres Kind, Schattenkind und Sonnenkind«). Dabei, so versichern mir viele, würden sie die Übungen zur Stärkung ihres Sonnenkindes fleißig praktizieren, aber es stelle sich leider kein nachhaltiger Erfolg ein.
Exkurs: Meine Arbeit mit dem Sonnenkind
Zur Erinnerung: Während es bei meiner therapeutischen Arbeit mit dem Schattenkind um die schwierigen Prägungen und negativen Glaubenssätze geht, konzentriert sich meine Arbeit mit dem Sonnenkind darauf, den intakten Anteil des Selbstwertgefühls zu stärken. Das Sonnenkind fokussiert nicht nur auf die positiven Erinnerungen, sondern ist in meiner Arbeit als Therapeutin auch ein Sinnbild für all das, was wir uns in unserem Erwachsenenleben selbst neu gestalten können. Das Sonnenkind ist sozusagen der Zielzustand. Konkret bedeutet dies, dass meine Klienten lernen, sich ihren Stärken zuzuwenden und diese zu nutzen. Zudem verkehren wir die alten, negativen Glaubenssätze in positive, die der heutigen Realität meiner Klientinnen viel angemessener sind.
Das können Überzeugungen sein wie »Ich bin klug«, »Ich darf meine Meinung haben« oder »Ich habe Glück verdient«. Wir suchen auch nach persönlichen Werten, die Sicherheit für neue Einstellungen vermitteln können. Werte geben uns Orientierung und Kraft, wie ich bereits am Anfang meines Buchs ausgeführt habe (siehe u. a. »Der Sinn des Lebens«). Ein Beispiel dazu: Wenn eine Klientin große Probleme damit hat, ihre Bedürfnisse und ihre Meinung zu äußern, suche ich mit ihr nach Werten, die ihr Rückendeckung geben können. Werte wie »Mut«, »Aufrichtigkeit« oder »Zivilcourage« können helfen, mehr aus sich herauszukommen und zu sich selbst zu stehen.
Wir suchen bei der Arbeit mit dem Sonnenkind nach alternativen Verhaltensweisen für bestimmte Schutzstrategien, etwa zum Perfektionismus oder zur Harmoniesucht. Es geht darum, Schatzstrategien zu etablieren, die eine Alternative zu den bisherigen Schutzstrategien darstellen.
Woran liegt es also, wenn diese Übungen keinen Effekt haben? Es scheint dann so etwas wie eine »innere Weigerung« in den Betroffenen zu existieren, welche die Annahme eines positiven Selbstbildes verhindert. Und dies, obwohl ihre Vernunft ihnen grünes Licht für die Etablierung ihres Sonnenkindes signalisiert. Sie können dennoch einfach keinen guten Draht zu ihrem Sonnenkind finden. Sie klagen: Ich schaffe das einfach nicht! Das Schattenkind ist so viel stärker! Ich kann das Sonnenkind nicht fühlen!
Dieser Unfähigkeit – wider alle Vernunft –, ein positives Selbstwertgefühl zu etablieren, liegt ein verdeckter psychischer Gewinn zugrunde. Diesen verdeckten Gewinn kann man als »psychologisches Naturgesetz« bezeichnen: Jedes Verhalten – und sei es scheinbar noch so destruktiv – verfolgt eine positive Absicht.
Klientinnen und Klienten, die beklagen, auf der Stelle zu treten, stelle ich deswegen gern die folgende Frage: »Welchen Vorteil könnten Sie davon haben, an Ihrem negativen Selbstbild festzuhalten?« Die Antwort, die ich sinngemäß und in unterschiedlichen Varianten erhalte, lautet zusammengefasst: »Ich schütze mich davor, verletzt zu werden!« Das klingt auf den ersten Blick verwirrend, wenn nicht unlogisch. Warum sollte uns Selbstsabotage vor Verletzungen schützen?
Wie schon Klaus Grawe erkannte und sinngemäß formulierte (015): Man kann menschliches Verhalten nicht verstehen, wenn man nicht alle psychischen Grundbedürfnisse im Auge behält. Das Festhalten an einem negativen Selbstbild und damit einhergehend einem geringen Selbstwerterleben bedient das Bedürfnis nach Sicherheit und Kontrolle, weil es vertraute Strukturen bedient. Dieses Verharren in einem an sich unangenehmen Zustand bedient, vereinfacht gesagt, die Erwartungen des Betroffenen. Es beschützt dadurch paradoxerweise zudem vor Unlustgefühlen wie beispielsweise Enttäuschung. Ich erinnere daran, dass Selbstunsichere ihr Leben häufig in der Vermeidung gestalten. Indem sie ein stärkeres Selbstwertgefühl unbewusst boykottieren, vermeiden sie, dass sie mit diesem auf Ablehnung in ihrer Umgebung stoßen könnten. Sie bewahren sich somit vor einem möglichen Scheitern ihrer »Sonnenkind-Ambitionen«, sie vermeiden beispielsweise, dass ein Glaubenssatz wie »Hochmut kommt vor dem Fall!« sich erfüllt.
Das Festhalten an der Schattenkind-Matrix hat zwar seinen Preis, aber es bietet einen lang bewährten Selbstschutz in Form von Enttäuschungsprophylaxe. Eine Klientin – nennen wir sie Alexa – hat mir dieses Phänomen einmal anschaulich erklärt: »Weder meine Mutter noch mein Stiefvater konnten damit umgehen, wenn ich stark und stolz auf mich war. Sie deckelten mich dann mit Sprüchen, wie ›Komm mal runter von deinem hohen Ross‹ oder ›Du fühlst dich wohl als etwas Besseres‹. Auch als Erwachsene ist es mir schon mehrmals passiert, dass Freunde eine
verletzende Bemerkung gemacht haben, wenn ich mich beispielsweise über einen beruflichen Erfolg gefreut habe. Meine Freunde haben ebenfalls kein gutes Selbstwertgefühl – wenn ich dazugehören will, darf ich nicht zu stark werden.«
Wir werden Alexa später wieder begegnen. Ihre Geschichte ist eine Variante von vielen rund um das Thema »Ich habe Angst vor den Konsequenzen, die ein positives Selbstwertgefühl nach sich ziehen könnte!«. Bevor ich sie fragte, war Alexa nicht bewusst, dass sie ihre Angst vor Ablehnung kontrolliert, indem sie am Schattenkind festhält. Es gibt noch einen weiteren Aspekt: Indem Alexa Kontrolle über eine etwaige Ablehnung herstellt, beschützt sie ihr Bindungsbedürfnis, in ihrem Fall konkret: ihren Freundeskreis. Dieses Beispiel demonstriert ganz wunderbar, wie stark die Grundbedürfnisse miteinander interagieren.
Menschen mit einem geringen Selbstwertgefühl haben in ihrer Kindheit häufig die Erfahrung gemacht, dass sie mit ihren Bemühungen, Anerkennung zu erhalten, ins Leere gelaufen sind. Zurückweisungen von Bindungswünschen tun immer weh und sind darüber hinaus ein erheblicher Dämpfer für unser Bedürfnis nach Kontrolle und Autonomie (siehe u. a. »Es geht immer um Kontrolle«). Manchmal reicht im Leben auch nur ein einziges starkes Beschämungserlebnis, um alle weiteren Versuche einzustellen. Man kann sich also leicht vorstellen, dass Kinder, deren Wünsche nach Anerkennung und Bindung wiederholt frustriert werden, es sich alsbald abgewöhnen, aktiv nach Zuwendung in ihrer Umgebung zu suchen (Annäherung). Stattdessen sind sie motiviert, sich keine »Abfuhr« einzuhandeln, indem sie ihr Leben vorwiegend in der Vermeidung gestalten. Mit der Vermeidung befriedigen sie ihr Kontrollbedürfnis, das negative Gefühle von Scham und Enttäuschung abwehren soll. Sie schützen auch ihr Bindungsbedürfnis: erstens durch die Vermeidung einer Zurückweisung und zweitens durch den Erhalt einer oder mehrerer wichtiger Beziehungen. Meine Klientin Alexa, die nicht von ihrem »Freundeskreis« verstoßen werden wollte, ist dafür ein Beispiel. Es passiert häufiger, als man denkt, dass Menschen motiviert sind, ihr Selbstwertgefühl kleinzuhalten, um hierdurch ihre Beziehungen zu Partnern, Freunden und Eltern zu schützen. Hierauf werde ich im übernächsten Abschnitt näher eingehen.
Zusammenfassend können also dem psychischen Grundbedürfnis nach Selbstwerterhöhung alle drei weiteren Grundbedürfnisse entgegenstehen. Dann steht es gegebenenfalls 3 : 1 fürs Schattenkind. Kein Wunder, dass es – zumindest bis zur entsprechenden Selbsterkenntnis – oft den Sieg davonträgt.
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