Geringer Selbstwert und die Opferrolle

Kinder lieben immer ihre Eltern, und sie tun alles dafür, um von ihren Eltern zurückgeliebt zu werden. Wenn die Eltern überfordert damit sind, sich auf ihr Kind liebevoll und feinfühlig einzustellen, dann übernimmt das Kind die Verantwortung dafür, mit seinen Eltern gut auszukommen. Es passt sich dann übermäßig stark an die elterlichen Bedürfnisse an, damit diese es liebhaben oder zumindest nicht ablehnen. 

Die Tragik in dieser Konstellation besteht nicht nur darin, dass das Kind einen Teil seiner vitalen Authentizität opfern muss, um mit seinen Eltern klarzukommen, sondern auch darin, dass seine Bemühungen letztlich fruchtlos bleiben. 

Eine depressive Mutter beispielsweise bleibt antriebslos und vernachlässigend, egal wie sehr der kleine Junge sich bemüht, ihr Sonnenschein zu sein. Ein aggressiver Vater bleibt launenhaft und unberechenbar, egal wie lieb und artig seine kleine Tochter sich verhält. Die Kinder erleben also trotz hoher Anpassung eine geringe Kontrolle über ihre Umgebung. Somit erfahren sie viel Ohnmacht, die zwangsläufig die Ausbildung eines hohen Vermeidungsmotivs nach sich zieht. Sie lernen also, dass sie im besten Fall Verletzungen vermeiden können, aber es wenig bringt, aktiv etwas einzufordern. Mit diesem motivationalen Schema (vgl. auch die Ausführungen zur mentalen Landkarte im Abschnitt »Wir sind unsere Erinnerung«, sowie zum Schattenkind) wachsen sie auf und sind hierdurch als Erwachsene prädestiniert, die Opferrolle einzunehmen.

Exkurs: Kindliche Aggression als Reaktion auf schwierige Familienverhältnisse

Nicht allen Kindern gelingt es, sich in einem dysfunktionalen Familiensystem anzupassen. Sie reagieren auf die Überforderung ihrer Eltern nicht mit Unterwerfung, sondern mit Rebellion. Vor allem Jungen, manchmal aber auch Mädchen, entwickeln dann sehr unangepasste, aggressive Verhaltensweisen in Reaktion auf das elterliche Verhalten. Sie handeln sich also bei ihren Eltern und anderen Bezugspersonen noch mehr Ärger und Ablehnung ein, anstatt diese durch ein möglichst angepasstes Verhalten zu reduzieren. Dies hat damit zu tun, dass es nicht allen Kindern gelingt, ihre Frustration beiseitezuschieben und ihre Wut zu regulieren. Kinder kommen mit unterschiedlichen Temperamenten auf die Welt. Gehirne verfügen – auch genetisch bedingt – über unterschiedliche Fähigkeiten der Impulskontrolle. Hyperaktive Kinder weisen beispielsweise aufgrund gehirnorganischer Besonderheiten eine geringe Impulskontrolle auf. Entgegen immer noch bestehender Vorurteile gilt es inzwischen als erwiesen, dass Hyperaktivität beziehungsweise die sogenannte Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS ) GENETISCH UND NICHT ERZIEHUNGSBEDINGT IST. ABER AUCH WESENSVERANLAGUNGEN, DIE NICHT IM ZUSAMMENHANG MIT ADHS STEHEN, WIE BEISPIELSWEISE EIN SEHR ROBUSTES, KÄMPFERISCHES TEMPERAMENT, KÖNNEN DAZU BEITRAGEN, DASS DIE KINDER DEN STRESS, DEN SIE BEI IHREN ELTERN ERLEBEN, IN FORM AGGRESSIVER VERHALTENSWEISEN AUSDRÜCKEN. MAN KÖNNTE SIE ALS KÄMPFERNATUREN BEZEICHNEN, DIE SCHON IN JUNGEN JAHREN NICHT »KLEIN BEIGEBEN«. SIE WERDEN SOZUSAGEN NICHT MÜDE, AUF DIE UNGERECHTIGKEIT UND DYSFUNKTIONALITÄT IN DER FAMILIE AUFMERKSAM ZU MACHEN.

DIE MEISTEN AGGRESSIVEN VERHALTENSWEISEN MANIFESTIEREN SICH ALLERDINGS IN PUBERTÄT UND JUGEND – ALSO IN EINEM ENTWICKLUNGSABSCHNITT, IN DEM DIE EMOTIONALE ABHÄNGIGKEIT VON DEN ELTERN WEITAUS GERINGER ALS IN DER FRÜHEN KINDHEIT IST. DER JUGENDLICHE VERFÜGT BEREITS ÜBER SEHR VIEL AUTONOMIE UND IST DESWEGEN AUF EIN GUTES VERHÄLTNIS ZU SEINEN ELTERN LÄNGST NICHT MEHR SO STARK ANGEWIESEN WIE DAS KLEINKIND.

Übermäßig aggressiven Verhaltensweisen bei Kindern können sehr unterschiedliche Ursachen zugrunde liegen, die auch in medizinischer Hinsicht abgeklärt werden sollten. So kann beispielsweise auch eine verzögerte Sprachentwicklung aggressives Verhalten begünstigen, weil die Kinder sich aus einer gewissen Hilflosigkeit heraus nicht anders zu wehren wissen. Wird die hohe Aggressionsbereitschaft mit in das Erwachsenenalter übernommen, dann besteht die Gefahr, dass diese Erwachsenen eher die Täter- als die Opferrolle einnehmen. Dies trifft zumindest in der Auswirkung ihres aggressiven Verhaltens zu, subjektiv nehmen sie sich nach wie vor als Opfer wahr.

Nicht selten wird mit einer gewissen Verärgerung oder auch Herablassung moniert, jemand nehme eine Opferrolle ein und weigere sich, selbst die Verantwortung für sein Verhalten zu übernehmen. Dieser Verdruss stellt sich nicht selten bei jenen Personen ein, die erfolglos bemüht sind, einer anderen Person zu helfen. Die andere Person verweigert sich sinnvollen Einsichten und Anregungen oder verweigert die Umsetzung derselben. Mit dieser Verweigerung boykottiert sie – zumindest in den Augen des Helfenden – ein konstruktives Miteinander und/oder eine notwendige persönliche Weiterentwicklung. Es spielt hierbei oft keine Rolle, ob die Helfenden in einer privaten Beziehung zum »Entwicklungsverweigerer« stehen oder in einer professionellen Beziehung. In beiden Fällen kann sich nämlich eine gewisse Hilflosigkeit und mithin ein Versagensgefühl beim Helfer einstellen, das er gern abschütteln und dem »Opfer« vor die Tür stellen möchte.

Auch in meiner Funktion als Psychotherapeutin erlebe ich immer wieder, dass Klientinnen und Klienten verweigern, Veränderungsprozesse aktiv mitzugestalten, und stattdessen passiv auf Erlösung hoffen. Früher hatte ich auch eine etwas strengere Meinung zu dieser »Opferrolle«, heute sehe ich das etwas anders: Inzwischen habe ich verstanden, dass sich häufig keine Faulheit oder passive Aggression hinter dieser Verweigerungshaltung verbirgt, sondern die bereits beschriebene tiefe Konditionierung eines stark ausgeprägten Vermeidungsmotivs. Aufgrund ihrer Kindheitsprägungen fehlt den Betroffenen die Erfahrung und somit der Glaube daran, dass sie tatsächlich imstande wären, an ihrer Situation etwas zu verändern. Zu häufig haben sie sich als Kinder als wirkungslos erlebt, ihre internale Kontrollüberzeugung ist zu niedrig. Ihnen fehlt die Vorstellungskraft, dass sie Einfluss auf ihr Leben hätten. Ihre Angst zu scheitern ist größer als die Verheißung eines besseren Lebens.