Ein geringer Selbstwert zum Schutz der Elternbindung

Menschen, die unbewusst an einem negativen Selbstwert festhalten und ein positives Selbstbild sogar blockieren, tun dies oft, um wichtige Beziehungen zu schützen (s. auch »Festhalten am geringen Selbstwert«). 

Dieses psychologische Phänomen wurde mir selbst noch einmal richtig bewusst in einem Psychotherapiegespräch mit einem Klienten. Auch dieser steckte in seinem sogenannten Schattenkind fest und vermochte sich nicht von seinen negativen Glaubenssätzen zu lösen. Deswegen stellte ich ihm ebenfalls die Frage: »Welchen positiven Nutzen könnte es haben, dass Sie an Ihrem negativen Selbstbild festhalten?« Er ging kurz in sich, und plötzlich erklärte er: »Wenn ich daran glauben würde, dass ich grundsätzlich okay und wertvoll bin, dann müsste ich mir eingestehen, wie furchtbar es wirklich mit meiner alkoholkranken Mutter gewesen ist!«

Der Klient war zu diesem Zeitpunkt Mitte 40, und seine Mutter war längst verstorben. Zudem hatte er seit seiner Jugend keinen Kontakt zu ihr gehabt. Er hatte sich also – scheinbar – längst von ihr gelöst. Umso erstaunlicher war es, dass er sie immer noch in seinem tiefsten Inneren beschützen wollte. Er war bis zu diesem Zeitpunkt eher bereit, die Schuld auf sich zu nehmen und an seinem Schattenkind festzuhalten, als sich einzugestehen, wie sehr seine Mutter in ihrer Mutterrolle versagt hatte. Hinzu kommt, dass solche tiefen Erkenntnisse auch mit großem psychischem Schmerz einhergehen, um den die meisten Menschen gern einen Bogen machen.

Ich werde nicht müde zu betonen, dass kleine Kinder die Schuld auf sich nehmen, wenn ihre Eltern wenig einfühlsam sind. Aus ihrer Abhängigkeit und Liebe erwächst eine tiefe Loyalität zu ihren Eltern, die oftmals ein Leben lang bestehen bleibt. Deswegen tun sich auch viele Menschen schwer damit, einen kritischen Abstand zu ihren Eltern einzunehmen. Sie möchten sich nicht mit deren Erziehungsschwächen auseinandersetzen, und wenn sie es doch tun, nehmen sie ihre Eltern oftmals in Schutz, indem sie sich gleichzeitig vor Augen halten, dass die eigenen Eltern es selbst auch nicht leicht hatten. Das ist sicherlich auch richtig und hilft, eine versöhnliche Haltung zu den Eltern einzunehmen. Gleichwohl enthebt man die Eltern mit dieser Überlegung ein Stück weit ihrer Verantwortung. Hierdurch kann es passieren, dass man – wieder einmal – selbst die Verantwortung übernimmt, die Beziehung zu den Eltern möglichst harmonisch zu gestalten, indem man eben diese Entschuldigung für sie anführt. Schöner wäre es natürlich, wenn die Eltern – sofern sie dazu gesundheitlich noch in der Lage sind – selbst die Verantwortung für ihre Fehler übernehmen würden und sich bei ihren Kindern entschuldigten.

Der Satz »Es tut mir leid. Heute würde ich vieles anders machen« hat für Kinder und Eltern etwas sehr Heilsames. Nicht wenige Kinder (und auch Eltern) fühlen sich dadurch geradezu erlöst. Indem Eltern die Verantwortung für ihre Fehler übernehmen, kann aufseiten der Kinder auch ein echtes Verzeihen stattfinden, das eine andere emotionale Qualität aufweist als die Überlegung »Meine Eltern hatten es ja auch nicht leicht«. Und natürlich hilft eine solche Entschuldigung den Kindern auch dabei, ihre alten Glaubenssätze loszulassen. Sie können diese jetzt mit einem guten Gefühl bei ihren Eltern belassen.

Wenn die Eltern, aus welchen Gründen auch immer, nicht in der Lage sind, die Verantwortung für frühere Fehler zu übernehmen, dann muss man für sich selbst zu einer klaren Haltung kommen. In jedem Fall ist eine gesunde Ablösung von den Eltern notwendig, damit man seine eigene Identität in Form eines angemessenen Selbstbildes und Selbstwerts findet.

Ablösung heißt nicht notwendigerweise, dass man sich von seinen Eltern emotional distanziert, sondern dass man ihnen die Verantwortung zurückgibt für Situationen, die in der Kindheit nicht optimal gelaufen sind. Solange das nämlich nicht gelingt, wirken Glaubenssätze im Sinne von: »Ich genüge nicht! Ich bin nicht liebenswert! Ich muss lieb und artig sein!« Wie tief und nachhaltig solche Schuldkomplexe sitzen können, hat auch das Beispiel meines Klienten gezeigt.

Ich erinnere an den Zusammenhang von Introjektion und Projektion, den ich unter dem Abschnitt »Unser Selbstbild bestimmt, was wir wahrnehmen« erläutert habe. Kurz wiederholt: Introjektion bedeutet, dass ich etwas verinnerliche, was ursprünglich nicht zu mir gehört. Projektion bedeutet, dass ich in anderen Menschen etwas wahrnehme, was nicht zu diesen, sondern zu mir gehört. Dieser psychologische Mechanismus wirkt auch dann, wenn ich nicht nur die Beziehung zu meinen Eltern beschütze, indem ich meinen Selbstwert (unbewusst) kleinhalte, sondern auch, wenn ich an Beziehungen festhalte, die meine Autonomie ungesund einschränken.