Verlustangst und Bindungsangst

Der Beginn einer Liebesbeziehung ist oft von einer gewissen Unsicherheit auf beiden Seiten gekennzeichnet. Am Anfang ist man meistens von dem Wunsch besessen, das begehrte Zielobjekt sicher an die Angel zu bekommen. Unser Kontrollbedürfnis ist also sehr aktiv. Ebenso aktiv ist unser Bindungswunsch, der wiederum eng mit dem Selbstwert verknüpft ist. Eine Zurückweisung in Liebesdingen kränkt den Selbstwert, während eine Eroberung ihn stärkt. Und natürlich ist unser Bedürfnis nach Lustgewinn (Freude, sexuelle Leidenschaft, Anerkennung) beziehungsweise Unlustvermeidung (Enttäuschung, Kränkung, Einsamkeit) auch maximal angespornt, wenn wir frisch verliebt sind. Kein Wunder also, dass wir so viel tun, um ein begehrtes Liebesobjekt von uns zu überzeugen.

Solange sich die Beziehung noch nicht ganz sicher anfühlt, ist die Angst, dass der andere sich nicht auf die Verbindung einlassen oder nach einiger Zeit wieder von Bord gehen könnte, recht groß. Frisch Verliebte leiden oft unter Verlustängsten, weil die gefühlte Kontrolle gering ist. Ein großes Gefühl der Sicherheit wiederum kann die Leidenschaft ersticken. Ist die Verlustangst hingegen sehr groß, wie es bei Menschen mit einem unsicheren Bindungsstil der Fall sein kann, dann kann sie in den Verliebten geradezu Panik auslösen. Robbie Williams hat in seinem Hit Feel gesungen: »Before I fall in love I’m preparing to leave her«, was das Problem ganz gut auf den Punkt bringt. Verlustangst und Leidenschaft gehen blöderweise Hand in Hand. Die Verlustangst befeuert die Leidenschaft und die Leidenschaft befeuert die Verlustangst, denn gerade die Gefühle der Leidenschaft und Hingabe bewirken, dass man »wenig Boden unter den Füßen« verspürt, also wenig Kontrolle innehat, was wiederum die Verlustangst steigert. Im Zweifelsfall siegt bei einigen Betroffenen, so wie früher auch bei Robbie (heute ist er ja seit Langem glücklich verheiratet), die Verlustangst, frei nach dem Motto: Was ich nicht habe, kann ich auch nicht verlieren! Dies trifft vor allem auf Menschen mit einem ängstlich-vermeidenden Bindungsstil zu.

Allerdings geht das meistens nicht mit einer klaren Entscheidung gegen eine Beziehung einher, sondern mit starken Vor- und Rückwärtsbewegungen. Die Betroffenen sind zerrissen zwischen ihrem Wunsch nach Liebe und Beziehung und ihrer Angst vor Zurückweisung, sie leiden also unter einem massiven Annäherungs-Vermeidungs-Konflikt. Sie tänzeln vor und zurück, sehnen sich nach einem Happy End bei gleichzeitiger Hoffnungslosigkeit, dass es ein solches für sie geben könnte.

Etwas anders gestaltet sich die Sachlage bei Menschen, die einen gleichgültig-vermeidenden Bindungsstil aufweisen. Solange sich die Beziehung noch nicht ganz verbindlich für sie anfühlt, können sie durchaus verliebt sein und eine gewisse Sehnsucht nach ihrer Zielperson verspüren. In dem Moment aber, wo sie sich des anderen sicher sind, ist ihr Bindungswunsch zunächst einmal befriedigt und ihr Selbstwert bestätigt. Die Situation ist unter Kontrolle, sie können aufatmen.

Nun erwacht jedoch ihr Autonomiebedürfnis auf besondere Art und Weise: Sobald die andere Person sich zu ihnen und der Beziehung bekennt, verspüren sie plötzlich einen gewissen Erwartungsdruck. Als Kinder haben sie gelernt, dass sie sich an die Erwartungen ihrer Eltern anpassen mussten, um Ablehnung zu vermeiden. Dieses alte Programm wird getriggert, sobald die Beziehung eng und verbindlich wird. Jetzt hat der Partner offenbar klare Vorstellungen und Erwartungen, die es zu erfüllen gilt – zumindest ist das die Schattenkind-Wahrnehmung der gleichgültigen Bindungsvermeider. Während sie in der Eroberungsphase also vorwiegend damit beschäftigt waren, den anderen von sich zu überzeugen, sehen sie sich in der verbindlichen Phase genötigt, die Versprechen, die sie anfänglich gegeben haben, nun auch einhalten zu müssen. Womöglich sehen sie sich auch genötigt, Erwartungen zu erfüllen, die gar nicht in der Realität, sondern nur in ihrer Vorstellung existieren.

Plötzlich fühlen sie sich also unwohl und eingeengt. Ihre kindliche Prägung, dass sie Beziehungen nicht aktiv mitgestalten können, sondern lediglich durch Überanpassung an die elterlichen Erwartungen über sich ergehen lassen müssen, ist nun voll aktiviert. Sie sind schlecht darin, ihre persönlichen Bedürfnisse in einer Beziehung angemessen zu behaupten, das haben sie als Kinder nicht gelernt. Durch ihre mangelnde Abgrenzungsfähigkeit innerhalb der Beziehung setzen sie recht harte Grenzen im Außen. Sie schützen ihren persönlichen Freiraum also nicht durch eine angemessene Form der Selbstbehauptung, sondern indem sie aus der Beziehung flüchten. Sie begrenzen die gemeinsame Zeit, gehen emotional auf Distanz, verweigern eine gemeinsame Wohnung oder eine Heirat. Sie flüchten sich in die Arbeit, aufwendige Hobbys oder Affären. Sie verlieren das sexuelle Interesse an ihrem Partner und weichen überall da aus, wo es darum geht, sich für das Glück des anderen zu verantworten.

Durch die Ansprüche, die der Partner an sie stellt, mutiert dieser in ihren Schattenkind-Augen immer mehr zum Feind und Invasor ihrer persönlichen Freiräume. Ihre Gefühle erkalten, und meistens sehen sie früher oder später keinen anderen Ausweg, als Schluss zu machen. Nach der Trennung stellt sich erst einmal Erleichterung ein – es gibt keinen Feind mehr, ihr Autonomiebedürfnis ist wieder gesichert. Nach einiger Zeit stellen einige von ihnen jedoch fest, dass sie ihren Ex-Partner vermissen. Da ihr Autonomiebedürfnis keinen Alarm mehr schlägt, kann ihr Bindungswunsch mithin wieder an Raum gewinnen. Sie nähern sich ihrem Ex also wieder an, und das Spiel kann von vorne beginnen. Fast alle On-Off-Beziehungen weisen mindestens einen bindungsängstlichen Protagonisten auf. Wer sich übrigens von diesem Abschnitt sehr angesprochen fühlt, dem empfehle ich zur Vertiefung mein Buch »Jeder ist beziehungsfähig«.