Lustgewinn und Unlustvermeidung

Wenden wir uns nun dem vierten und letzten psychischen Grundbedürfnis zu: Der Wunsch, möglichst angenehme Zustände wie Freude, Inspiration, Lust oder Liebe zu verspüren und unangenehme wie Trauer, Angst oder Scham zu vermeiden, gehört zu den offensichtlichsten der psychologischen Grundbedürfnisse. Dieses Bedürfnis ist nämlich unserer Selbstbeobachtung am besten zugänglich. Im gleichnamigen Abschnitt am Anfang dieses Buches hatte ich bereits ausgeführt, dass gute Gefühle unsere Lebensdroge sind beziehungsweise, dass wir unseren Lebenswillen verlieren, wenn wir gar nichts mehr fühlen können. Unsere Gefühle sind die Basis unserer Motivation und Lebensgestaltung. Unsere Gefühle sagen uns, wie wir das, was wir erleben, zu bewerten haben. Ohne diese Einschätzung würden wir orientierungs- und lustlos durch unser Leben stolpern.

Unsere Bewertungsdimension unterteilt sich in gut oder schlecht. Dabei gibt es natürlich Abstufungen wie mittelgut, supergut oder entsetzlich. Aber im Kern läuft es auf »Daumen hoch« oder »Daumen runter« hinaus. Geht also bildlich gesprochen der Daumen hoch, dann nähere ich mich der entsprechenden Situation an. Geht der Daumen runter, vermeide ich die Situation lieber. Diese gefühlsmäßige Gut-schlecht-Beurteilung hängt natürlich auch mit unseren anderen drei psychischen Grundbedürfnissen zusammen.

So ruft der Verlust einer wichtigen Bindung Trauer hervor, der Verlust von Kontrolle erzeugt Angst, und wenn unser Selbstwert betroffen ist, verspüren wir im positiven Fall Freude und im negativen Fall fühlen wir uns gekränkt und/oder beschämt. Gefühlszustände sind der Kern unserer Motivation. Auch hier jedoch ist die Sachlage nicht ganz eindeutig. So habe ich bereits ausgeführt, warum einige Menschen an ihrem geringen Selbstwert festhalten, obwohl es ihnen auf den ersten Blick nur Nachteile einzubringen scheint. Aber auch viele andere Dinge, die Menschen tun oder auch nicht tun, lassen sich nicht allein mit dem Lust-Unlust-Prinzip erklären. Wir tun häufig Dinge, die uns Unlust bereiten: Wir tun das aus Pflichtgefühl beziehungsweise um höheren Werten zu dienen. Wenn die Freiheitskämpferin beispielsweise Folter oder gar den Tod in Kauf nimmt, um für ihre Ideale einzustehen, dann wäre es ziemlich an den Haaren herbeigezogen zu sagen, dass ihr dieses Verhalten unterm Strich mehr Lust- als Unlustgefühle verschaffen würde. Der Mensch hat ein angeborenes Bedürfnis nach Sinnhaftigkeit, das dem reinen Streben nach Lustgefühlen beziehungsweise der Vermeidung von Unlustgefühlen entgegenstehen kann.

Zwar kann man auch argumentieren, dass Handeln, das nach höheren Werten wie beispielsweise Nächstenliebe, Toleranz oder Zivilcourage ausgerichtet ist, dem Betreffenden letztlich angenehmere Gefühle beschert, als wenn er sein Leben nur nach dem Lustprinzip ausrichten würde, aber ich denke, dass man mit dieser reduktionistischen Sichtweise dem Dasein des Menschen nicht ganz gerecht würde.

Im Kapitel »Der Sinn des Lebens« bin ich bereits darauf eingegangen: Unsere Beziehungen sind ein gutes Beispiel dafür, dass wir Sinnhaftigkeit oftmals stärker priorisieren als die direkte Befriedigung unserer Lustgefühle. Wir nehmen in Freundschaften und Liebesbeziehungen sehr wohl Momente der Unlust hin – etwa bei einer Meinungsverschiedenheit oder unterschiedlichen Bedürfnissen – und beenden deshalb nicht die Verbindung. Der Sinn unseres In-Beziehung-Seins wird höher bewertet als die Vermeidung von Unlust.

Umgekehrt kann man sagen, dass Menschen, die ihr Leben nur nach dem Lustprinzip gestalten, unglücklich sind. Wie auch Klaus Grawe sinngemäß feststellte (016): Wer nämlich nur nach Lust strebt, wird in Unlust enden. Wer von morgens bis abends Essen und lustbringende Drogen in sich hineinstopft, wird kein glückliches und erfülltes Leben führen. Wie ich bereits unter dem Abschnitt »Festhalten am geringen Selbstwert« geschildert habe, kann man die menschliche Motivationslage nur verstehen, wenn man alle vier Grundbedürfnisse im Auge behält. Kurzfristig angenehme Gefühlszustände können mittel- und langfristig negative Konsequenzen nach sich ziehen, die man vorausberechnen kann.

So möchte man beispielsweise vermeiden, dass man dick wird und hierdurch ein gutes Stück Kontrolle über seine körperliche Fitness und Gesundheit aufgibt. Schlanksein entspricht zudem unserem Schönheitsideal, und wir erhoffen uns mit einer schlanken Figur mehr Zuspruch und Anerkennung, was wiederum unserem Bindungsbedürfnis dient. Zudem kann ein ungeliebtes Körpergefühl auch an sich starke Unlustgefühle hervorrufen.

Was wir als lustvoll und angenehm empfinden, hängt jedoch, laut Grawe (017), nicht allein vom Reiz und seinen »objektiven Merkmalen« ab, sondern maßgeblich von unseren Lernerfahrungen und dem »momentanen Zustand«, in dem wir uns gerade befinden. Bei kalten Temperaturen wird eine wärmende Jacke als angenehm empfunden, bei Hitze ein kühlender Luftzug. Der Genuss eines Glases Wein gefällt Erwachsenen. Kinder mögen oft nicht mal den Geruch. Wein zu genießen ist auch eine Lernerfahrung.

Und so verhält es sich mit vielen anderen kulturspezifischen Lebensmitteln. Viele lustvolle Genüsse werden über Gewohnheiten und über soziale Bindungen gelernt. Zigaretten zu rauchen galt früher als schick und cool. Wer zu den Coolen gehören wollte, »musste« rauchen. Die ersten Zigaretten schmecken normalerweise nicht. Aber mit der Zeit – über die soziale Zugehörigkeit und Bindung – gewöhnt sich das Gehirn an den Geschmack, und es kann sich daraus eine Abhängigkeit und Sucht entwickeln. Nur am Rande sei hier erwähnt, dass Letzteres davon abhängt, ob das Gehirn des Rauchers eines ist, das langsam oder schnell Nikotin verstoffwechselt. Menschen, deren Gehirn Nikotin schnell verstoffwechselt, werden schnell süchtig nach Zigaretten. Langsamverstoffwechsler können hingegen ihr Leben lang mühelos Gelegenheitsraucher bleiben.

Wichtig ist, dass es so etwas wie einen objektiven, echten Genuss gar nicht gibt und viele Vergnügen und Lüste über Bindung gelernt werden. Die Vorbilder der Eltern und anderer wichtiger Bezugspersonen spielen hierbei eine maßgebliche Rolle. Wir können unser Gehirn so konditionieren, dass wir eine positive Haltung zu an sich unangenehmen Dingen und Vorgängen entwickeln können. Diesem sogenannten Geschmacksumlernen liegen komplexe Vorgänge zugrunde, welche die Wünsche nach Zugehörigkeit, Kompetenz und Selbstwert bedienen. So wird der an sich abstoßende Rauch einer Zigarette über das Erleben von Zugehörigkeit und Selbstwert (»Coolness«) vom Gehirn neu bewertet. Mit weiteren Wiederholungen dieses Vorgangs, in gewisser Weise also Lernvorgängen, schmeckt die Zigarette dann früher oder später – auch losgelöst von der ursprünglichen Motivation, ein Teil der Gemeinschaft zu sein.

Lernvorgängen unterliegen aber nicht nur körperliche, sondern auch geistige Empfindungen. So etwa hängen Musik- und Kunstgenuss maßgeblich von der Kenntnis und der Erfahrung der Rezipienten ab. Eine einfache, vorhersehbare Melodie wie »Alle meine Entchen« gefällt kleinen Kindern, aber bestimmt keiner Jazzliebhaberin. Zwölftonmusik können Menschen genießen, die ein klassisch geschultes Gehör haben, für Freunde der Hit-Rotation im Radio klingt diese Musik eher wie Katzenjammer.