Motivation und Gene

Ein Thema, das ich bislang nur am Rande gestreift habe, ist die Rolle, die unsere Gene für unsere psychische Verfassung spielen. Es ist wissenschaftlich belegt, dass unsere Disposition zu positiven beziehungsweise negativen Gefühlszuständen zu einem wesentlichen Teil angeboren ist. Verschiedene Gene sind daran beteiligt, ob wir schnell in negative Stimmungslagen und Vermeidungsverhalten verfallen oder ob wir eher zu positiven Emotionen und Annäherungsverhalten tendieren. Kurz: Das Temperament eines Menschen ist zum großen Teil genetisch bedingt.

Im Forschungsgebiet der Epigenetik wird darüber hinaus untersucht, welche Auswirkungen Schwangerschaft und Geburt auf die Gesundheit und Psyche eines Kindes haben. Dass sie Ein uss nehmen, steht außer Frage. Dass aber eine Formel wie »Gestresste Schwangere ergibt gestresstes Baby« nicht aufgeht, wissen wir inzwischen aufgrund zahlreicher Gegenbeispiele auch.

Wie schon Klaus Grawe feststellte (019): Neugeborene, die eine »Disposition zu negativen Emotionen« und Vermeidungsverhalten aufweisen, sind »insgesamt störanfälliger«. Sie fühlen sich schneller und nachhaltiger gestresst, wenn sie in ihren psychischen oder körperlichen Grundbedürfnissen frustriert werden. Wenn sie in diese gestressten Zustände geraten, ist ihr Explorationsverhalten gehemmt, das heißt, sie interessieren sich nicht mehr für ihre Umgebung (Vermeidung). Sie geraten durch ihre psychische »Dünnhäutigkeit« länger und öfter in Stresszustände, die sich auf der Verhaltensebene durch Schreien, Weinen, Quengeln oder Um-sich-Schlagen ausdrückt. Hierdurch kann es zu negativen Dynamiken mit ihren Eltern und anderen Pflegepersonen kommen, weil solche »schwierigen« Kinder bei diesen Frustration und Hilflosigkeit auslösen.

Ich möchte hier noch einmal an den Prozess des »gespiegelten Selbstwertempfindens« erinnern: Nicht nur die Kinder bekommen von ihren Eltern gespiegelt, ob sie »gut und wertvoll« sind, sondern auch die Eltern bekommen von ihren Kindern gespiegelt, ob sie »gute oder schlechte Eltern« sind. Ein andauernd schreiender Säugling hält den Eltern in diesem Sinne keinen guten Spiegel vor. Eltern von »schwierigen« Kindern entwickeln schneller als Eltern von pflegeleichten Kindern das Gefühl, nicht kompetent genug zu sein, oder auch den Eindruck, vom eigenen Kind abgelehnt zu werden. Sofern die Eltern eines »schwierigen« Kindes dessen Verhalten also persönlich nehmen, besteht eine nicht unerhebliche Gefahr, dass es ihnen schwerfällt, zu diesem Kind eine sichere Bindungsbeziehung herzustellen, was ihnen bei einem vergleichsweise pflegeleichten Kind gelungen wäre.

Es können sich also auf der Basis einer genetischen Disposition negative Prozesse aufschaukeln, die zu einer späteren Ausprägung von psychischen Störungen des betroffenen Kindes führen können. Tatsächlich hat man in psychologischen Studien herausgefunden, dass die Persönlichkeitseigenschaft Neurotizismus eine hohe genetische Vorbestimmung aufweist.

Exkurs: Was versteht man unter Neurotizismus?

Der britische Psychologe H. J. Eysenck definierte Mitte des vorigen Jahrhunderts den sogenannten Neurotizismus als eine Persönlichkeitseigenschaft. (020) Eyseneck ordnete Menschen auf einer Skala von stabil (also wenig ängstlich, ruhig, sicher) bis labil (also ängstlich, nervös, unsicher) ein.

Neurotische Menschen sind sozusagen stabil in ihrer Instabilität: Das limbische System im Gehirn der Betroffenen ist offenbar besonders reizbar und reagiert konstant überempfindlich. Entsprechend heftig reagieren neurotisch veranlagte Menschen auf alle Eindrücke. Sie werden von ihrer Umwelt daher oftmals als übertrieben in ihren Reaktionen wahrgenommen.

Im Alltag zeigt sich eine neurotische Persönlichkeit gerne durch ihren Hang zu ausgeprägten Gefühlsschwankungen und zu schlechter Laune. Neurotische Persönlichkeiten haben auch häufiger Beziehungsprobleme als emotional stabilere Charaktere.

Wichtig ist, dass Neurotizismus nicht gleichzusetzen ist mit einer Neurose: Neurotizismus bezeichnet wie gesagt eine Persönlichkeitseigenschaft. Eine Neurose ist dagegen ein psychoanalytischer Krankheitszustand. Eysenck ging allerdings davon aus, dass neurotische Menschen auch häufiger unter Neurosen und Depressionen leiden.

Die genetische Disposition zu Neurotizismus ist jedoch kein unabwendbares Schicksal für die betroffenen Kinder. Wenn ein Kind mit dieser Veranlagung auf besonders liebevolle und kompetente Eltern stößt, so kann diese Veranlagung in eine andere Richtung gelenkt werden. In einer, schon von Grawe (021) genannten, drolligen Studie mit kleinen Rhesusaffen konnte man feststellen, dass kleine Äffchen mit dieser Disposition sich zu ganz besonders widerstandsfähigen und psychisch ausgeglichenen Affen entwickelten, wenn sie von einer besonders liebevollen und warmherzigen Affenmutter großgezogen wurden. Die anfänglich neurotische Veranlagung verwandelte sich also in ihr Gegenteil.

Was macht man nun aber, wenn der Zug schon abgefahren ist? Wenn man also bereits erwachsen ist und zu jenen Menschen gehört, die nicht besonders stressresistent sind, die sich schnell ängstigen und emotional leicht aus dem Lot geraten? Auch dies ist aus meiner psychotherapeutischen Erfahrung kein unabwendbares Schicksal. Im Kern geht immer darum, wie ich die Ereignisse da draußen interpretiere und wie gut ich mich von äußeren (vermeintlichen) Störungen abgrenzen kann. Für Menschen, die bereits anlagebedingt eine Neigung zu Neurotizismus aufweisen, gelten die gleichen psychologischen Gesetze wie für alle anderen. Ihr Gehirn hat eine bestimmte Prägung erfahren, die sie geneigt macht, die Welt auf eine bestimmte Weise zu interpretieren. Ein neurotisch-gestresstes Gehirn neigt zwar schneller zu negativen Interpretationen als ein Gehirn im entspannten Zustand, aber es handelt sich dennoch um eine Reiz-Interpretation-Reaktions-Verknüpfung. Schließlich sind auch Menschen mit neurotischen Veranlagungen nicht dauergestresst, sondern erleben auch ihre guten und entspannten Momente. Um diese Momente öfter herzustellen, müssen sie, wie alle anderen auch, trainieren, ihre Interpretation der Wirklichkeit von den Tatsachen zu unterscheiden. Im nächsten Abschnitt und in Teil III dieses Buches gehe ich näher darauf ein, wie dies gelingen kann.

Exkurs: Extraversion und Introversion

Extra- und Introversion sind vorwiegend genetisch bedingte Persönlichkeitsdimensionen, die einen so weitreichenden Einfluss auf unsere Persönlichkeit und Lebensgestaltung haben, dass ich an dieser Stelle gesondert auf sie eingehen möchte.

Es war der Schweizer Arzt und Psychoanalytiker Carl Gustav Jung, der beobachtete, dass es zwei unterschiedliche Quellen gibt, aus denen Menschen ihre Energie schöpfen: aus dem Kontakt zur Außenwelt und aus dem Kontakt zur Innenwelt. Es handelt sich also bei der Extra- und Introversion um ein energetisches Konzept. Extravertierte tanken Energie aus dem Kontakt mit der Außenwelt und mit Menschen. Introvertierte erholen sich hingegen, indem sie Zeit für sich allein haben. Mit diesen unterschiedlichen Grundeinstellungen geht ein ganzes Set von Persönlichkeitseigenschaften und Verhaltensweisen einher.

Schöne Eigenschaften der Extravertierten sind: Geselligkeit, Redelaune, Tatendrang, Risikobereitschaft, Spontaneität und Konfliktfähigkeit. Die Introvertierten hingegen tauchen gern ein in die Welt ihrer Gedanken und ihres vielschichtigen Innenlebens. Positive Eigenschaften von ihnen sind: Besonnenheit, Konzentration, Unabhängigkeit, Ruhe, analytisches Denken, Einfühlungsvermögen und die Fähigkeit, gut zuzuhören.

Auf neuropsychologischer Ebene verhält es sich so, dass die Gehirne von Extras und Intros unterschiedlich funktionieren. Der Sympathikus und der Parasympathikus sind die zwei großen Gegenspieler des vegetativen Nervensystems. Der Sympathikus sorgt für Aktivität, während der Parasympathikus für die Ruhe zuständig ist. Das vegetative Nervensystem arbeitet autonom und ist deswegen mit Willenskraft nur bedingt zu beeinflussen.

Extravertierte werden vorrangig vom Sympathikus bestimmt, ihre Gehirne verlangen nach »Action«. Das Gehirn von Introvertierten wird hingegen vom Parasympathikus dominiert, weswegen sie nach Ruhe und Beständigkeit streben. Der Botenstoff des Sympathikus ist Dopamin, und entsprechend haben Extravertierte ein größeres Verlangen nach Dopamin. Sie benötigen einen hohen Input aus der Außenwelt, damit sie sich stimuliert fühlen, was sie leider auch anfälliger für Süchte macht: gutes Essen, Alkohol, Sex, Gewinne, Erfolg, Glücksspiele setzen das ersehnte Dopamin frei.

Der Botenstoff für den Parasympathikus ist hingegen Acetylcholin – ist der Spiegel zu niedrig, entsteht Stress im Intro-Gehirn. Sie reagieren überfordert und gereizt, wenn sie zu vielen Reizen in der Außenwelt ausgesetzt sind, vor allem in Form sozialer Kontakte. Sie sind auch ängstlicher als die robusten Extras. Die Vermeidung von Angst und das Erlangen von Sicherheit motivieren sie stärker als die Aussicht auf Belohnung.

Dopaminbedingt neigen Extravertierte zu mehr Euphorie und Optimismus als Introvertierte. Sie sind im Durchschnitt auch besser gelaunt. Die Schattenseite ist, dass sie auch impulsiver sind als die kontrollierten Intros, wenn sie unter Stress stehen. Diese Impulsivität kann auch in Aggressivität ausarten. Mögliche negative Eigenschaften von Extras sind: Ungeduld, Aggressivität, Oberflächlichkeit, Selbstinszenierung, Selbstvermeidung und Leichtsinn.

Ist der Intro hingegen unter Stress oder grundsätzlich nicht gut in seiner Mitte verankert, dann neigt er zu übertriebenen Ängsten, Kleinlichkeit, Passivität, Rückzug, Selbstverleugnung, Kontaktvermeidung und zur Fixierung auf starre Gewohnheiten.

Man kann davon ausgehen, dass die Evolution diese beiden Typen hervorgebracht und gefördert hat. So brauchen wir sowohl die handlungsbereiten und spontanen Extras wie auch die besonnenen und fokussierten Intros, um als Gesellschaft gut zu funktionieren. Dies könnte auch ein Grund dafür sein, dass diese Persönlichkeitseigenschaft weltweit normalverteilt ist, will heißen, in allen Gesellschaften gibt es circa gleich viele Extra- wie Introvertierte. Dies gilt auch etwa für die USA, wo es doch nach dem Dafürhalten vieler Menschen viel mehr Extravertierte als Introvertierte zu geben scheint, oder für Japan, wo man oft davon ausgeht, dass die Menschen viel introvertierter seien als anderswo. Zugleich spielen natürlich auch hier wieder äußere kulturelle Faktoren eine Rolle, die nichts mit dem angeborenen extra- oder introvertierten Kern der Persönlichkeit eines Menschen zu tun haben.