Wws-T2: Fallgeschichten - Hanna wechselt bei kleinsten Schwierigkeiten den Job Stephanie Stahl - Wer wir sind: Wie wir wahrnehmen, fühlen und lieben. Alles, was Sie über Psychologie wissen sollten

Hanna wechselt bei kleinsten Schwierigkeiten den Job

Hanna, 39, aktuell Therapeutin in einer Suchtklinik, kündigt immer wieder ihren Job. Stets aus dem Gefühl heraus, von ihrer Kollegenschaft nicht wertgeschätzt zu werden. Sie wittert überall Feindschaft. Ohne Dinge zu klären oder Wichtiges zu verhandeln, kündigt sie – immer dann, wenn sie sich nicht mehr anerkannt sieht und unwohl fühlt. Sie fragt sich, ob dieses Verhalten auf ihr Verhältnis zu ihrer Mutter zurückzuführen ist. Sie möchte lernen, sich in ihrem Beruf mit anderen auf einer Augenhöhe zu fühlen und nicht mehr so konfliktscheu zu sein.

„Mein Problem würde ich Job- Hopping nennen. Ich bin Sozialarbeiterin und arbeite therapeutisch in einer Suchtklinik. In den letzten zehn Jahren habe ich meine Jobs sehr oft gewechselt. Es ist leider so, dass ich immer wieder kündige, wenn die Chemie nicht stimmt oder ich mich nicht wohlfühle. Ich gehe aber nicht in die Konfrontation oder kläre irgendetwas, sondern bin dann einfach weg.“

  • 1. Unter welchem Gefühl leidet Hanna vermutlich, wenn sie sagt, sie fühle sich nicht wohl bzw. die Chemie würde nicht stimmen?

„Oft fängt es schon beim Vorstellungsgespräch an. Ich nehme mir fest vor, selbstbewusst zu sein, meine Vorstellungen durchzusetzen, und kaum sitze ich da, schrumpfe ich zu einem kleinen Mädchen. Bin dann nur noch nett, setze nichts durch. Immer wenn eine Autoritätsperson vor mir sitzt, vergesse ich alles, was ich wollte. Häufig sind es ja Frauen, bei denen ich mich vorstelle. Und es sind tatsächlich weibliche Autoritäten, die mir das Gefühl geben, winzig zu sein. Egal, was ich mir vorgenommen habe, ich komme nicht auf Augenhöhe. Dann beginne ich den Job schon mit dem Frust, mich nicht wirklich positioniert zu haben und auch nicht genug zu verdienen.“

  • 2. Hier offenbart Hanna ihr Schattenkind, und man kann schön den Zusammenhang zwischen Introjektion und Projektion erkennen. Was hat sie introjiziert und was projiziert sie in weibliche Vorgesetzte?

Ich glaube, ich habe ein großes Problem mit meiner Mutter. Jetzt als Erwachsene nicht mehr so, aber in meiner Kindheit. Sie war unberechenbar, auch ungerecht, herrisch. Und dunkelhaarig. Deswegen: dunkelhaarige Frauen im Vorstellungsgespräch – ganz schlimm. Da habe ich sofort das Gefühl, ich werde bewertet, ich muss abliefern. Außer, die Person ist sehr herzlich zu mir. Sonst triggert das sofort etwas bei mir.“

Der Zusammenhang mit ihrer Mutter war natürlich zu erwarten.

„Eine Situation aus meiner Kindheit: Meine Mutter hatte eine Mütze, türkisblau. Die fand ich so schön, deshalb habe ich sie mir mal heimlich ausgeliehen. Als ich zurückkam, ist sie richtig ausgeflippt, hat mich auch ein bisschen geschlagen. Es war vielleicht nicht toll, die Mütze einfach so zu nehmen. Aber dass sie so harsch reagiert hat, hat mich sehr verletzt. Mein Vater war zu weich. Der hat mich nicht beschützt. Der war immer auf ihrer Seite. Sie hatte ihn auch in der Hand. Meine Mutter, der Drache, sage ich immer. Meine Großmutter, das war meine Wärmestelle. Die hat bei uns gewohnt. Die hat mich auch verteidigt. Aber mit meiner Mutter hatte ich immer ein unbehagliches Gefühl, null Vertrauen. Ich war froh, wenn sie alleine in Urlaub gefahren ist. Dann dachte ich, endlich ist sie weg. Mit meiner Großmutter und meinem Vater alleine, das war dann schön. Und meinem Bruder. Mein Bruder war auch noch da.“

Hannas Mutter scheint eine starke Bindungsstörung aufzuweisen. Hanna hatte Glück, dass sie die Großmutter auf ihrer Seite hatte, und anscheinend hatte sie auch eine gute Beziehung zu ihrem Bruder. Ihr Vater ist zwar nicht für sie eingetreten, scheint aber emotional warm gewesen zu sein. Insofern hatte sie noch ein paar protektive Faktoren auf ihrer Seite.

Ich war auch in der Schule immer die Klassenbeste, immer eine Eins. Das spielte für meine Mutter überhaupt keine Rolle: Egal, wie ich mich bemühte, ich bin nie gelobt worden. Ich habe mich auch nie getraut zu fragen, ob ich Freundinnen einladen darf, nicht mal: »Darf ich zum Geburtstag von XY gehen?« Ich hatte immer Angst vor ihrer Ablehnung.“

  • 3. Welche Selbstschutzstrategien hat Hanna entwickelt?

„Jetzt schwappt das noch so rüber in mein Leben. Ich glaube, genau dieses Gefühl projiziere ich jetzt immer auf meine Vorgesetzten: Ich muss lieb sein, bloß nichts sagen. Ich vermeide Ablehnung. In Freundschaften und Beziehungen mache ich das wahrscheinlich auch so, dass ich sie beende, ohne zu sagen, dass mich etwas gestört hat. Nur in meiner jetzigen Beziehung habe ich es geschafft, auf Augenhöhe zu sein. Da fühle ich mich sehr aufgehoben, und die hält ja auch schon 19 Jahre.“

Hier zeigt sich auch Hannas Vermeidungsmotiv, in einer übertriebenen Konfliktscheu zieht sie sich einfach aus Beziehungen zurück, wenn sie etwas stört. Dieses Störgefühl geht sicherlich auch häufig darauf zurück, dass sie sich schnell von anderen Menschen abgelehnt fühlt. Aus meiner Sicht ist es ein kleines psychologisches Wunder, dass sie offensichtlich beziehungsfähig ist. Dies könnte auf ihre Beziehung zu ihrem Vater zurückzuführen sein, den sie als schwach, also wenig bedrohlich, und emotional warm erlebt hat.

„Aber im Job ist immer eine große Wut in mir drin. Weil ich es ja schon von Anfang an nicht richtig schaffe, etwas zu sagen. Das steigert sich immer mehr. Ich gehe immer davon aus, dass die anderen mich ablehnen. Finde die Kollegen oft sehr überheblich. Vielleicht ist das eine sich-selbst-erfüllende
Prophezeiung. Ich denke, die anderen sind negativ und aggressiv, und am Ende kommt es auch so, weil ich es durch meine Brille sehe. Und dann muss ich kündigen.“

  • 4. Wie hängt Hannas Wut mit ihrer Angst vor Ablehnung zusammen?

„Es läuft immer derselbe Film ab: Ich nehme mir fest vor, in die nächste Situation ganz friedlich und entspannt hineinzugehen. Trotzdem habe ich sofort das Gefühl, die Kollegin ist herrisch, überheblich oder scheint über mich zu lachen. Und ich fühle mich augenblicklich komplett wertlos. Ich glaube aber, dass ich das nur hineininterpretiere. Auf jeden Fall werde ich so hintenrum wütend. Weil ich meine Kollegin als bedrohlich wahrnehme, obwohl sie das vielleicht gar nicht ist. Eigentlich gebe ich den anderen keine Chance. Ich weiß nicht, wie ich diesen Film auflösen könnte. Ich meditiere, versuche, in ein liebevolles Gefühl zu gehen, nichts. Ich hätte gerne einen neuen Blick, einen Erwachsenenblick, mit dem ich ganz ruhig und offen gucken kann, was ist da wirklich? Ohne zu werten, ohne zu interpretieren. Ich will meinen Job nicht ständig wechseln, meinen jetzigen mag ich sogar sehr. Ich müsste nur mein Gehalt nachverhandeln – ganz erwachsen: Ich hätte gerne den Mut zu erklären, warum ich mehr möchte. Ich glaube auch, ich bin so konfliktscheu, weil ich das superperfekt machen will, bloß keine Schwäche dabei zeigen. Diese Autobahn, die ich mir da gebaut habe, in Richtung »Ich bin nichts wert«, die ist leider sehr breit. Aber ich würde gerne einen ganz neuen Weg nehmen. Auf dem ich, wenn ich wieder das ängstliche Kind bin, umswitche und sagen kann, nein, ich schaue da jetzt anders drauf: Ist die Person mir gegenüber tatsächlich so feindselig? Dieses negative Bild möchte ich gerne loswerden, auch nicht mehr so misstrauisch sein. Und wenn ich eine andere, eine neutralere Perspektive einnehme, könnte ich mich vielleicht auch anders äußern. Ich will auch nicht mehr nichts sagen. Reden ist fairer als kündigen. Dann kann mein Gegenüber auch besser reagieren. Ich glaube natürlich, man muss das üben. Das ist bestimmt nicht so einfach. Ich bin neugierig, ob sich etwas verändert.“

Hannas Überlegungen sind goldrichtig.

Meine Überlegungen zu Hanna

  • 1. Ich vermute, dass Hanna immer dann die Flucht ergreift, wenn sie sich in irgendeiner Form abgelehnt fühlt.
  • 2. Hanna leidet unter einem sehr schlechten Selbstwertgefühl. Sie hat Gefühle massiver Unterlegenheit und Ohnmacht introjiziert, die sie geradezu »schockgefrieren« lassen, wenn sie es mit weiblichen Autoritätspersonen zu tun hat. Entsprechend projiziert sie eine ungeheure Überlegenheit, Dominanz und mithin auch Feindseligkeit in diese hinein.
  • 3. Hanna hat ihr Bestes gegeben (Perfektionsstreben), um die Zuwendung ihrer Mutter zu erhalten. Damit hat sie ganz viel Verantwortung für die Eltern-Kind-Beziehung übernommen, wie alle Kinder, deren Eltern nicht in der Lage sind, ihre Grundbedürfnisse nach Bindung zu erfüllen. Weil Hanna jedoch trotz aller Anstrengung keinerlei Einfluss auf das Verhalten ihrer Mutter nehmen konnte, hat sie ein starkes Vermeidungsmotiv entwickelt, das heißt, es ging ihr nur noch darum, Ablehnung durch ihre Mutter zu vermeiden. Mit anderen Worten ausgedrückt: Sie hat eine sehr niedrige internale Kontrollüberzeugung entwickelt, was sie auch in den Vorstellungsgesprächen so sprachlos macht.
  • 4. Hanna fühlt sich ständig unterlegen. Unterlegenheitsgefühle machen häufig aggressiv. Die Aggressivität resultiert aus dem Bedürfnis, die eigenen Grenzen, die man sehr schnell verletzt wähnt, zu verteidigen. Je wehrhafter und stärker man sich hingegen fühlt, desto gelassener kann man im Umgang mit seinen Mitmenschen bleiben, zumal man sich unter dieser Bedingung auch nicht so schnell angegriffen fühlt, da man sich auf Augenhöhe mit seinen Mitmenschen befindet.