Wws-T2: Fallgeschichten - Torsten kann sich nicht zwischen zwei Frauen entscheiden Stephanie Stahl - Wer wir sind: Wie wir wahrnehmen, fühlen und lieben. Alles, was Sie über Psychologie wissen sollten
Torsten kann sich nicht zwischen zwei Frauen entscheiden
Torsten, 53, ist seit zwei Jahrzehnten in einer festen Beziehung. Mit seiner Partnerin hat er zwei Söhne, sie bewohnen ein gemeinsames Haus und haben auch viele Jahre zusammengearbeitet. Bis vor kurzem war Torsten als Messebauer selbstständig tätig, inzwischen ist er Angestellter. Er kommt zu mir, weil er parallel zu seiner langjährigen Partnerschaft eine zweite Beziehung führt. Seit sechs Jahren hat er eine Freundin. Die beiden Frauen wissen voneinander und wollen, dass Torsten sich endlich zwischen ihnen entscheidet. Aber Torsten kommt bei seinem Entscheidungsprozess zu keinem Ergebnis. Er möchte wissen, woran das liegt.
„Mein Problem lässt sich eigentlich schnell zusammenfassen: Ich fühle mich zwischen zwei Beziehungen hin und her gerissen. Ich kann mich nicht zwischen meiner Freundin und meiner langjährigen Partnerin, der Mutter meiner Kinder, entscheiden. Wir sind jetzt schon im sechsten Jahr dieser Katastrophe. Das ist für alle sehr zermürbend.“
- 1. Hier deutet sich bereits das grundlegendere Thema von Torsten an – welches könnte das sein?
„Ich bin in meiner langjährigen Partnerschaft schon einmal fremdgegangen. Die erste Affäre war kurz vor der Geburt meines ersten Sohnes. Ich hatte kein sexuelles Interesse mehr an meiner Partnerin. Wir haben diese ganze Geschichte aber eigentlich ziemlich gut verarbeitet. Wir haben auch noch einen zweiten Sohn bekommen. Unsere Kinder sind jetzt zwölf und neun Jahre alt.“
- 2. Hier findet die Vermutung, dass Torsten unter Bindungsangst leidet, weitere Hinweise. Welche?
„Der Hintergrund meiner jetzigen Affäre ist anders: Meine Freundin war in meiner Jugend mal meine große Liebe. Wir haben uns nach etwas über 30 Jahren wiedergetroffen. Sie hatte mich übers Internet gesucht und hatte gefragt: »Sag mal, bist du das?« Dann haben wir uns getroffen, und es hat sofort gefunkt. Ich habe das meiner Partnerin gegenüber ziemlich schnell offengelegt. Im Grunde genommen verstehe ich auch nicht, warum keine der beiden Frauen mir inzwischen einen Arschtritt verpasst hat. Aber beide sagen, sie lieben mich.“
- 3. Hier bestätigt sich weiter die Vermutung, dass Torsten unter Bindungsangst leidet. Typisch ist die Flucht in Affären, wo dann die Leidenschaft und Sexualität ausgelebt werden, die in der Hauptbeziehung nicht stattfinden. Warum ist das so?
„Ich versuche jetzt dahinterzukommen, warum ich selbst mich eigentlich nicht entscheiden kann.“
- 4. Warum fällt es Torsten wohl so schwer, eine Entscheidung zu treffen?
„Meine langjährige Partnerin und ich haben in gewisser Weise eine ideale Beziehung. Wir sagen beide, dass wir zusammen alles bewältigen können. Wir haben auch schon einiges zusammen auf die Beine gestellt. Wir haben zwei tolle Söhne, die mir auch sehr viel bedeuten. Wir haben gemeinsam ein Haus gekauft. Das ist jetzt so ein Ankerpunkt für sie und die Kinder. Mir ist wichtig, dass die ein verlässliches Zuhause haben. Das managt meine Partnerin momentan eigentlich fast alleine. Das macht sie gut, ich kann mich auf sie verlassen.“
- 5. Eigentlich läuft die Beziehung ja ideal, nur die Sexualität verweigert Torsten und lebt sie woanders aus. Somit hat er sich nicht wirklich auf die Partnerschaft eingelassen. Liebe bedeutet auch immer, im gesunden Maße Verantwortung für den anderen zu übernehmen. Und ein gesundes Maß wäre hier, seine Partnerin nicht mit seiner Daueraffäre zu verletzen. Aber gerade die Übernahme von Verantwortung (zumindest im partnerschaftlichen Bereich) verweigern Bindungsängstliche. Warum ist das so?
„Wir haben auch schon zusammengearbeitet, und auch das hat reibungslos funktioniert. Meine Partnerin ist ebenfalls im Messebau tätig gewesen. Sie ist gelernte Tischlerin. Ich hatte die Firma und habe sie dann tatsächlich angestellt. Ich habe sie dann auch mal auf Baustellen schicken können. Das hat ihr auch Spaß gemacht, unterwegs zu sein. In gewisser Weise haben wir gemeinsam die Firma aufgebaut, ich zwar als Chef, aber im Endeffekt miteinander. Es gibt also einiges, was uns verbindet. Das Einzige, was wir nicht zusammen geschafft haben, ist unsere Liebe und Leidenschaft. Das hat bei mir komplett nachgelassen. Wir können eigentlich alles miteinander machen, aber nicht ins Bett springen. Ihr fehlt das aber. Sie findet, dass das zu einer Beziehung dazugehört. Sie hat da viel Druck gemacht. Und dieses Gefühl von Verpflichtung hat dann eigentlich den letzten Funken Erotik bei mir gekillt.“
Hier bestätigt sich, dass Torsten bezüglich des Themas Sex mit seiner Partnerin viel Druck und Verpflichtung empfindet. Diese Gefühle sind durch ihre Forderungen sicherlich verstärkt worden. Dass seine Partnerin aber überhaupt in die Situation gekommen ist, ihre Bedürfnisse bei ihm einzufordern, wird daran gelegen haben, dass er sich vorher schon sexuell stark von ihr zurückgezogen hat, womit wir wieder bei seinem Thema mit Verpflichtungen wären.
„Mit meiner Freundin ist es genau umgekehrt. Die stellt eigentlich keine Ansprüche. Die nimmt mich, so wie ich bin. Natürlich wünscht sie sich, dass ich meinen Lebensmittelpunkt bei ihr habe. Aber sie drängt nicht. Ich habe theoretisch jede Freiheit. Sie ist einfach mit sehr wenig zufrieden und freut sich, wenn ich bei ihr bin.“
- 6. Aha, die Freundin stellt keine Ansprüche. Was wird bei Torsten hierdurch nicht getriggert? Wie lautet der Fachausdruck?
„Meine Freundin ist ein sehr gefühlsbetonter, sensibler Mensch. Mit 18 Jahren habe ich sie bei der Ausbildung kennengelernt, und wir waren sehr verliebt. Aber ich hatte damals das Gefühl, so einer Verpflichtung nicht nachkommen zu können und so einem zarten Wesen nicht gerecht werden zu können. Ich habe mich dann getrennt und ihr das Herz gebrochen. Das hat sie mir dann bei unserem Wiedersehen erzählt. Sie ist in eine Ehe geflohen, in der sie immer unglücklich war. Als wir uns 30 Jahre später wiedergesehen haben, war sie schon geschieden, ihre Kinder sind auch erwachsen. Sie hatte also keinen Ballast. Zwischen uns gibt es eine große Verliebtheit und sehr viel Leidenschaft.“
- 7. Hier schlägt das Psychologinnen-Herz höher. Was kann man aus diesem kleinen Absatz alles an psychologischen Beweggründen herauslesen?
„Natürlich frage ich mich, warum ich das vom Gefühl her so trenne: Einerseits die Verpflichtung der Familie und meiner Partnerin gegenüber, und andererseits die Leidenschaft und Liebe für meine Freundin. Eine Verpflichtung empfinde ich aber gegenüber beiden Frauen. Auch deshalb weiß ich eigentlich nicht, was ich machen soll. Es gibt in mir einen großen inneren Widerstand, schon wieder Verantwortung zu übernehmen und diese Entscheidung treffen zu müssen.“
Hier bestätigt sich, dass Torsten ein großes Thema mit Verantwortung und Verpflichtung hat.
„Wenn ich mir meinen Lebenslauf ansehe, deutet aber eigentlich nichts darauf hin, dass ich nicht gerne Verantwortung übernehme oder mich davonstehle. Ich brauche viel Freiheit, das stimmt. Aber ich komme meinen Verpflichtungen nach. Ich bin auch kein Mann, der ständig wechselnde Beziehungen hatte. Ich brauche nur meinen Freiraum. So bin ich einfach.“
- 8. Warum legen Bindungsängstliche so viel Wert auf ihre Freiheit, ihren Freiraum? Und was meinen sie damit überhaupt?
„Das habe ich auch kurz nach der Ausbildung gemerkt. Ich war im öffentlichen Dienst und schon verbeamtet auf Lebenszeit. Da habe ich beschlossen: Das Büroleben ist nichts für mich. Dann habe ich mich ein wenig in der Weltgeschichte herumgetan und mich dann für den Messebau entschieden. Und da war ich dann wirklich ständig unterwegs. Die Festlegung mit Haus und Kindern war auch deshalb nicht so schlimm für mich, weil ich als Firmenchef viel unterwegs und gar nicht so viel zu Hause war.“
Torstens Bindungsangst hat, wie bei vielen seiner Leidensgenossen, auch seine Berufswahl motiviert. Der Messebau bietet ihm viel Freiheit – auch die Freiheit, nicht oft zu Hause zu sein. Es ist übrigens ja auch nicht überraschend, dass Torsten nie geheiratet hat.
„Ich konnte abends im Hotelzimmer sitzen und einfach nur Fernsehen gucken und abschalten. Ich musste mich nicht großartig kümmern um etwas. Ich habe mich daran gewöhnt, diese Verantwortung abzugeben an meine Partnerin. Das war gut für mich. Im Job musste ich ja permanent verantwortungsbewusst sein.“
Im Job gelingt das meistens leichter mit der Verantwortungsübernahme, vor allem in der Selbstständigkeit. Im Angestelltendasein kann es hingegen leicht passieren, dass das bindungsängstliche Schattenkind seine Themen auf den Chef oder die Chefin projiziert und es deswegen zu Konflikten kommt.
„So bin ich auch erzogen worden: Einer Verantwortung, die man angenommen hat, kommt man nach. Das ist einer der Werte aus meiner Kindheit. Ich habe wenig konkrete Erinnerungen an meine Kindheit, aber ich habe sie als schön in Erinnerung. Meinen Eltern, die beide inzwischen verstorben sind, habe ich auch gesagt: »Wenn ich noch mal zur Welt käme, würde ich euch gerne wieder als Eltern nehmen.« Das kam wirklich von Herzen.
Mein Vater war zielgerichtet, er hat zugesehen, dass er uns auch gut versorgen kann. Er hatte insgesamt, glaube ich, 14 verschiedene Berufe, vom gelernten Hufschmied bis zum Schluss Angestellten bei der Stadt. Er hat wirklich viel gearbeitet, das Arbeitsethos habe ich von ihm.
Er hatte allerdings das Problem, dass er sich in jüngeren Jahren im Bergbau ein Lungenemphysem eingefangen hatte. Das hatte zur Folge, dass die Lungenbläschen bei ihm nach und nach aufgaben. Es war klar, dass er an dieser Krankheit auch sterben würde. Mit diesem Bewusstsein bin ich aufgewachsen. Mein Vater hat deutlich gemacht, dass das eigentlich jederzeit passieren kann. Deswegen bin ich durch meine Eltern, also hauptsächlich durch meinen alten Herrn, sehr früh zur Selbstständigkeit erzogen worden.
Also die »schöne Kindheit« wird vielleicht dadurch eingeschränkt, dass ich immer das Bewusstsein hatte, dass mein alter Herr eigentlich jederzeit sterben kann. Aber meine Eltern haben sich liebevoll um mich gekümmert.
Wenn ich an meine Eltern denke und meine Kindheit, dann könnte ich sofort weinen. Ich vermisse meine Eltern einfach so sehr. Meine Mama war eine Seele von Mensch. Ich habe auch nie wirklich einen Streit zwischen meinen Eltern erlebt. Das weiß ich. Meine Mutter ist Streit aus dem Weg gegangen. Die Vorgabe zu Hause war auch, dass wir meinen Vater nicht noch mit zusätzlichem Ärger belasten. Ich bin selbst also ein wenig konfliktscheu aufgewachsen und bin es noch. Ich habe ein großes Harmoniebedürfnis. Ärger und Differenzen versuche ich, aus dem Weg zu gehen. Ich habe in frühen Jahren Kampfsport gemacht, Krafttraining, und habe auch im Bereich Sicherheit gearbeitet. Aber ich konnte alle Konflikte friedlich lösen. Im Umgang mit meiner Partnerin gehe ich Ärger auch aus dem Weg.“
- 9. In den letzten Absätzen haben wir erfahren, was Torstens Schattenkind geprägt hat. Wodurch ist seine Bindungsangst entstanden?
„Ein schönes Beispiel ist unsere gemeinsame Arbeit in einem Büroraum. Wenn meine Partnerin am Computer sitzt und schimpft, dann denke ich: »Meine Fresse. Muss das jetzt sein?« Ich sage aber nichts. Ich stehe dann auf und gehe. Am liebsten würde ich aber so rausplatzen: »Nun halt doch einfach mal den Mund. Dein Computer kann nichts dafür.« Ich bin eigentlich irgendwie jähzornig, klar, aber ich kann das kontrollieren. Ich gehe solchen Sachen aus dem Weg, damit ich nicht überreagiere. Ich flüchte. Oft flüchte ich mich in die Arbeit. Arbeiten kann ich. Ich bin von morgens bis zum späten Nachmittag unterwegs als Taxifahrer für die Rollifahrer, um die kümmere ich mich, das macht mir Spaß. Im Alltag ist es manchmal so: Ich bin dann mal kurz da, wo ich zurzeit wohne, nämlich bei meiner Freundin. Dann muss ich abends um neun noch mal kurz los, um Gabelstapler zu fahren.“
- 10. In diesem Absatz zeigt sich wunderbar, wozu Torstens Überangepasstheit im Alltag führt: Anstatt zu reden und sich auseinanderzusetzen, flüchtet er. Welches Gefühl gegenüber seiner Lebensgefährtin spielt hier eine wichtige Rolle?
„Ich merke auch, wenn ich von irgendwo nach Hause komme und das ankündige, dann bleibe ich gerne noch mal eine Viertelstunde einfach im Auto sitzen. Weil ich da meine Ruhe habe. Ich mag mich dann noch nicht unterhalten müssen. Und nett sein müssen. All das will ich nicht. Ich habe im Moment tatsächlich keine Lust auf Verantwortung. Ich weiß, dass das falsch ist. Und obwohl ich mich wie ein Arschloch fühle, mag ich im Moment einfach nicht. Ich mag nicht Verantwortung übernehmen.“
Hier zeigt sich noch einmal die kalte Wut, die Torsten in sich trägt, und wie unfrei er sich in seiner Beziehung fühlt. Sein Gefängnis ist sein Schattenkind und dessen Projektion.
„Ich würde diese Situation gerne bereinigen und versuche das auch immer mal wieder, aber ich stoße dann immer wieder an eine innere Mauer. Ich wüsste gerne, woher das kommt, dass ich diese Entscheidungen nicht treffen möchte. Ich habe auch schon überlegt, ob es vielleicht einfach sinnvoller ist, wenn ich einfach für mich bin. Ich würde mich dann zwar um die Familie kümmern, weil ich diese Verantwortung natürlich nicht abgäbe. Ich möchte, dass es den Jungs gut geht, dass das Haus besteht, dass die ihren Fixpunkt haben, bis sie selbstständig sind. Das sind Gedanken, die ich habe. Vielleicht wäre es der bessere Weg, wenn ich für mich bin.“
Das sind alles kopfgesteuerte Überlegungen, die Torsten nicht weiterbringen werden.
„Ich möchte gerne eigenständige, unabhängige Entscheidungen treffen können. Mit Außenwirkung. Und mit Innenwirkung! Aber dafür müsste ich erst mal fühlen können, was richtig ist.“
Das ist der entscheidende Satz: Erst mal fühlen können, was richtig ist! Torsten müsste seinen Gefühlen viel stärkere Beachtung schenken. Wie das gelingen kann, beschreibe ich im dritten Teil dieses Buches.
Meine Überlegungen zu Torsten
- 1. Wenn man sich über einen längeren Zeitraum nicht zwischen zwei Partnern entscheiden kann, dann hat das häufig mit Bindungsangst der Betroffenen zu tun.
- 2. Der Verlust an sexuellem Interesse an der Partnerin/dem Partner ist eines der Kernmerkmale bindungsängstlicher Beziehungen. Dass dies im Zeitraum der Geburt des ersten Kindes passierte, dürfte auf den Umstand zurückzuführen sein, dass die Geburt des Kindes ein weiterer Schritt zu mehr Festlegung und Verbindlichkeit gewesen ist. Bindungsängste brechen immer dann aus beziehungsweise werden stärker, wenn die nächste Phase der Verbindlichkeit in einer Beziehung eintritt, wie beispielsweise die Geburt eines Kindes.
- 3. Bindungsängstliche sind in der Regel überangepasst. Ihr Schattenkind hat abgespeichert, dass sie die Erwartungen ihrer Partner erfüllen müssen, um nicht zurückgewiesen zu werden. Dieser Erwartungsdruck, den sie verspüren, schlägt sich auf ihre Libido nieder. Ich vermute, dass Torsten sich gegenüber seiner langjährigen Partnerin geradezu verpflichtet fühlt, Sex mit ihr zu haben. Das löst passiven Widerstand in ihm aus. Die feste Partnerschaft bedroht seine Autonomie. Die Affäre fühlt sich hingegen freiwillig und verboten an. Also das Gegenteil von Verpflichtung, hier kann bei Torsten wieder Raum für Lust und Leidenschaft entstehen.
- 4. Der Grund dürfte Torstens Überangepasstheit sein. Deswegen kann er nicht klar fühlen, was er möchte und wohin es ihn zieht. Überangepasste haben Schwierigkeiten, ihre eigenen Gefühle von den Wünschen und Bedürfnissen ihrer Partner zu unterscheiden. Es ist höchstwahrscheinlich, dass Torsten sich als Kind zu stark den Erwartungen seiner Eltern unterordnen musste und daraus einen schlechten Kontakt zu seinen Gefühlen mitgenommen hat.
- 5. Weil Bindungsängstliche als Kinder die Verantwortung dafür übernommen haben, dass ihre Beziehung zu ihren Eltern gelingt, fühlen sie keine innere Freiheit in ihren Beziehungen. Sie haben das Gefühl, sich anpassen zu müssen. Aufgrund dieser gefühlten Unfreiwilligkeit entziehen sie sich der Verantwortung für ihre Partner. Unbewusst wird Torsten in seine Partnerin seine Eltern projizieren, hierdurch ist sie in seinen Augen die Stärkere. Diese verzerrte Wahrnehmungsperspektive, nämlich, dass er sich unbewusst als potenzielles Opfer seiner Partnerin wahrnimmt, vermindert sein empathisches Einfühlungsvermögen. Er verspürt kein Mitgefühl für ihre Situation. Er verspürt nur den Druck, sich entscheiden zu müssen.
- 6. Durch die Anspruchslosigkeit der Freundin wird Torstens Schattenkind (motivationales Schema, motivationale Landkarte, Mindmap, inneres Kind) nicht getriggert. Er gelangt also nicht in die Wahrnehmung seines Schattenkindes, nämlich, dass der kleine Torsten sich seinen Eltern anpassen muss.
- 7. Hier zeigt sich, dass Torstens Bindungsangst auch schon im ersten Anlauf mit seiner damaligen großen Liebe durchgebrochen ist. Auch damals hat er sich schon verp ichtet gefühlt und gemeint, die Erwartung seiner Freundin nicht erfüllen zu können. Letztlich verbirgt sich dahinter ein labiles Selbstwertgefühl, nämlich: nicht zu genügen. Dahinter verbirgt sich wiederum Verlustangst. Denn wenn Torsten nicht genügt, dann wird er seiner Freundin nicht gerecht und sie wird ihn irgendwann verlassen. Um dies zu vermeiden, verlässt er sie lieber selbst, dann hat er wenigstens Kontrolle über die Trennung. Durch die Trennung hat er also paradoxerweise seinen Bindungswunsch beschützt (er wird nicht verlassen), sein Selbstwertgefühl stabilisiert und sein Kontrollbedürfnis gestärkt. Hierdurch ist die sogenannte Täter-Opfer- Perversion eingetreten: Torsten, der sich als das potenzielle Opfer einer Trennung wähnte, hat sich, um diesen Schicksalsschlag abzuwehren, in die Täterrolle begeben und seine Freundin verlassen. Er hat ihr also den Schmerz zugefügt, den er bei sich selbst vermeiden wollte.
Aber auch aufseiten der Freundin kann man einiges vermuten: Für sie war die Trennung ein großer Schock. Vermutlich kam sie, wie so oft in bindungsängstlichen Beziehungen, aus heiterem Himmel. Sie hat also einen großen Bindungsverlust und eine starke Selbstwertkränkung erfahren. Wir dürfen vermuten, dass diese Wunde der Zurückweisung in ihr nie ganz verheilt ist. Anstatt also in einer anderen Beziehung mit einem beziehungsfähigen Mann glücklich zu werden, hängt sie Torsten nach und startet einen zweiten Versuch. Sie verhält sich dabei so anspruchslos und überangepasst (sie stellt ja laut Torsten keine Forderungen), damit sie ihn bloß kein zweites Mal verliert. Hierfür nimmt sie auch über Jahre in Kauf, dass er mit einer anderen Frau zusammenlebt, und auch, dass es dieser Frau deswegen schlecht geht (gäbe es mehr Solidarität unter den beiden Frauen, dann käme Torsten so auch nicht durch).
8. Freiheit bedeutet für Bindungsängstliche, dass kein Mensch etwas von ihnen erwartet. Sie haben sich in ihrer Kindheit sozusagen eine »Anpassungsallergie« zugezogen und benötigen deswegen das Gefühl, sich jederzeit frei entscheiden zu können, was allerdings nicht eintritt, solange sie ihre Projektionen nicht auflösen, oder anders ausgedrückt: ihr Schattenkind heilen.
9. Torstens Kindheit war sehr liebevoll, aber von der chronischen Angst geprägt, dass der Vater versterben könnte. Das war eine große psychische Belastung für den kleinen Torsten, und man darf annehmen, dass er sicherlich lieb und artig gewesen sein wird, um seinem Vater keinen weiteren Kummer zu bereiten. Durch die tödliche Erkrankung seines Vaters konnte der kleine Torsten nicht frei agieren und sich seinen Eltern mit seinen Wünschen und Bedürfnissen zumuten. Normale, kindliche Wutgefühle hat er vermutlich unterdrückt. Hinzu kommt, dass es in seinem Elternhaus keine Konfliktkultur gab. Torsten hat also nicht gelernt, wie man eigene Wünsche innerhalb einer Beziehung behauptet. Er hat noch nicht einmal gelernt, diese überhaupt zu äußern. Entsprechend verbleibt ihm in Beziehungen nur die Anpassung oder die Flucht in die Freiheit. Torsten macht beides: Er passt sich an und flüchtet in seine Freiräume, vor allem in die Arbeit, aber auch in seine Daueraffäre.
10. Weil Torsten seine Bedürfnisse in der Beziehung unterdrückt, entsteht eine Menge Wut auf seine Partnerin. Diese Wut unterdrückt er dann auch, so dass es sich um kalte Wut, also passive Aggression handelt. Passive Aggressionen spielen in bindungsängstlichen Beziehungen immer eine wichtige Rolle. Passive Aggression entsteht häufig da, wo die aktive Aggression, also ein Konflikt, eine Auseinandersetzung vermieden wird. Passive Aggression führt zum Rückzug von der Person, auf die sich die passive Aggression richtet. Torsten schildert auch anschaulich, wie er sich, wo es nur geht, rarmacht in der Beziehung. Die sexuelle Verweigerung Torstens gegenüber seiner Partnerin ist übrigens auch eine Form der Aggression. Er verweigert hierdurch passiv-aggressiv ihre Erwartungen nach Sexualität, die er in seiner Schattenkind-Matrix als Verpflichtung und Freiheitsberaubung wahrnimmt. Übrigens haben Überangepasste, die passiv-aggressiv unterwegs sind, einen schlechten Kontakt zu ihren Gefühlen, außer eben jenem, dass sie »dagegen« sind. Trotz und Wut ist ihr Leitgefühl, andere Gefühle wie Trauer, Liebe oder Freude können sie nicht so klar fühlen. Das ist auch ein wesentlicher Grund, warum es ihnen schwerfällt, Entscheidungen zu treffen. Ohne klare Gefühlsausschläge drehen sie sich wie ein Schiff ohne Kompass im Kreis.