Wws-T2: Fallgeschichten - Charlotte ist superwütend auf ihre Mutter Stephanie Stahl - Wer wir sind: Wie wir wahrnehmen, fühlen und lieben. Alles, was Sie über Psychologie wissen sollten

Charlotte ist superwütend auf ihre Mutter

Charlotte, 33, hadert mit der Beziehung zu ihrer Mutter. Sie wünscht sich von ihrer Mutter Nähe und Anerkennung, wozu diese nicht in der Lage ist. Ständig enden die Begegnungen der beiden in heftigem Streit. Trotzdem gibt Charlotte die Hoffnung nicht auf, endlich von ihrer Mutter wahrgenommen zu werden. Im Gespräch mit mir geht es darum, ihre Erwartungen an die Mutter zu verändern und mit milderem Blick und größerer Distanz auf die verfahrene Situation zu schauen. Charlotte möchte sich aus der Rolle des nicht wertgeschätzten, wütenden Kindes befreien.

„Das Thema ist meine Mutter. Niemand triggert mich so krass wie sie. Wenn wir uns sehen, eskaliert es extrem schnell: Nur 20 Minuten, und schon ist ein Riesenstreit da. Das ist so anstrengend, und ich kriege es nicht gelöst. Ich fühle ganz oft nur krassen Ärger. Ich hätte gerne, dass meine Gefühle weniger hoch ausschlagen, aber das ist wirklich schwierig. Ich bin viele Jahre auf Distanz gegangen, aber ich mag den Rest meiner Familie, und deshalb sehen wir uns einmal pro Woche.“

1. Charlotte scheint etwas von ihrer Mutter zu erwarten, was sie nicht bekommt, sie leidet also unter einer Inkonsistenz. Das löst eine ungeheure Wut in ihr aus. Welche psychischen Grundbedürfnisse Charlottes sind hier betroffen?

„Meine Mutter und ich sind komplett verschieden. Meine Mutter plant überhaupt nicht, sondern ist total spontan. Ich plane sehr viel. Sie ist sehr emotional, ich bin eher detached, gucke mir alles erst mal von außen an. Meine Mutter ist sehr widersprüchlich. Ich sage ganz oft: »Mama, ich verstehe dich nicht.« Ich habe das Gefühl, sie ist völlig realitätsfern. Deshalb clashen wir auch so oft miteinander. Zum Beispiel helfe ich ihr, den Keller auszuräumen. Ich frage sie: »Hey, kann das weg?« – Und sie: »Ja, kann weg.« Dann bereite ich alles vor, sortiere aus. Und sie sagt plötzlich: »Nee, das können wir doch nicht wegschmeißen.« Das macht mich total wütend, und es sind dauernd solche Sachen.“

2. Hier bestätigt sich, dass Charlotte der Kontrollverlust, den sie bei ihrer Mutter immer wieder verspürt, so wütend macht. Sie dringt irgendwie nicht zu ihrer Mutter durch, und das macht sie hilflos. Welches Defizit könnte bei ihrer Mutter vorliegen?

„Meine Mutter hat mir beigebracht: Alle Männer sind schrecklich. Das ist so ein Glaubenssatz von mir. Deshalb habe ich auch Probleme, mit Männern eine längere Beziehung einzugehen. Sie denkt sehr, sehr negativ. Ich habe das leider ein bisschen übernommen. Ich mache sie für meine Eigenschaften verantwortlich, die mir an mir nicht gefallen.“

Charlotte glaubt, dass sie die negative Einstellung ihrer Mutter zu Männern übernommen hat, was sie ihr zusätzlich verübelt. Sie ist – trotz ihrer Wut – noch stark mit der Meinung ihrer Mutter identifiziert. Bislang übernimmt sie nicht die Verantwortung für ihr Schattenkind.

„Als Kind hatte ich manchmal das Gefühl, meine Mutter ist nicht so auf meiner Seite. In der Grundschule habe ich mich drei, vier Jahre sehr gemobbt gefühlt, und mir ging’s ziemlich schlecht. Meine Mutter hat das nie mitgekriegt. Ich dachte oft, warum hilfst du mir nicht? Aber ich habe mich nicht getraut, Sachen zu erzählen, unter denen ich gelitten habe. Auch als sich mein Körper verändert hat in der Pubertät: Ich wollte das alles nicht, es war mir total peinlich. Ein Riesenproblem für mich, und trotzdem habe ich nie mit ihr darüber gesprochen. Sie hat mir nur ein Aufklärungsbuch mit Hasen geschenkt, und das war’s.“

3. Was bewirkt das mütterliche Defizit bei Charlotte?

„Meine Mutter hat früher sehr viel gearbeitet, weil sie Angst hatte, dass sie die Miete nicht bezahlen kann. Sie wollte aber immer, dass es mir gut geht, hat mir sehr viele Geschenke gemacht. Haufenweise Geschenke. Ich hatte alles, aber ich wollte nie irgendwas. Sie meinte immer, ich bin das Allerwichtigste für sie, dass sie mich über alles liebt. Aber emotional war sie abwesend. Das habe ich als Kind nicht gemerkt. Das war alles sehr materiell. Sie hat mich auch immer gelobt, aber da ging es um Äußerlichkeiten: Es hieß dann, du bist ja so hübsch. Aber es war nie auf einer tieferen Ebene. Die emotionale Nähe fehlte. Ab und zu habe ich mal eine auf den Mund bekommen, weil sie die ganze Zeit meinte, ich bin so frech.“

4. Die emotionale Abwesenheit, die Charlotte bei ihrer Mutter beklagt, verdichtet die Vermutung, dass ihre Mutter vermutlich ein Trauma aufweist und ihre Gefühle abgespalten hat. Was dürfte das Verhalten ihrer Mutter für Charlottes Selbstwertgefühl bzw. ihr Schattenkind bewirkt haben?

„Im Nachhinein hätte ich mir ein Vorbild gewünscht, eine starke Frau, die auch mal Nein sagen kann, die für sich einsteht und weiß, was sie will. Sie hat mir aber keinen Halt gegeben, ich musste alles immer alleine machen. Meine Eltern haben sich sehr früh scheiden lassen. Da war ich fünf. Meinen Vater habe ich so einmal im Jahr gesehen, zu Weihnachten. Mit dem verstehe ich mich jetzt sehr gut. Mit meinem Stiefvater war es immer schwierig. Als ich in die Pubertät kam, hat der immer Kommentare zu meinem Äußeren abgegeben. Wie: »Uh, jetzt hat die ja einen großen Pickel auf der Nase.« Oder: »Guck mal, die Brüste wachsen.« Da stellen sich bei mir die Nackenhaare auf, wenn ich daran denke. Ganz furchtbar. Und meine Mutter ist nicht für mich eingetreten. Ich glaube, sie ist sehr dissoziiert, emotional nicht da. Obwohl sie immer ihr Bestes versucht. Macht immer Essen. Backt immer Kuchen. Verbal oder oberflächlich vermittelt sie mir das Gefühl, dass ich total wichtig bin. Aber darunter stimmt das gar nicht.“

In diesem Absatz zeigt sich, dass Charlotte früh auf sich allein gestellt war. Selbst die  Grenzüberschreitungen ihres Stiefvaters wurden von der Mutter nicht unterbunden.

Ich wünsche mir, dass sie mir richtig zuhört, mich wahrnimmt, mich versteht. Aber das bringt überhaupt nichts. Ich stelle sie mir wie einen Hamster in einem Hamsterrad vor, der ganz schnell rennt, und ich stehe draußen, winke und rufe: »Hallo, kannst du mal aufhören zu rennen?« Aber da passiert nichts. Eigentlich macht deshalb auch meine Wut gar nicht richtig Sinn. Ich bin wie ein Duracell-Hase, der immer weiterlaufen muss, aber ich müsste die Batterien rausmachen.“

5. Charlotte gibt die Hoffnung nicht auf, dass ihre Mutter sich ihr zuwendet und sie wahrnimmt. Hier formuliert sie jedoch, dass ihre Wut eigentlich keinen Sinn macht. Was müsste Charlotte verändern, um aus diesem »Hamsterrad« auszusteigen?

„Vielleicht sollte ich lernen, in diesem Film Nebendarstellerin zu werden. Es würde sich besser anfühlen, wenn ich eine distanzierte Haltung zu meiner Mutter einnehmen könnte. Wenn ich nicht mehr das kleine Mädchen wäre, das sich von seiner Mutter etwas wünscht, was sie gar nicht geben kann. Sie hatte es auf jeden Fall nicht einfach im Leben. Sie hätte sich gerne mehr geliebt gefühlt von ihren Eltern. Da war sehr viel Kälte, keine Nähe. Was mir total leidtut: Ich habe eine große Empathielosigkeit gegenüber meiner Mutter. Das merkt sie natürlich. Sie ist ja sehr emotional, und ich bin ihr gegenüber ultrakalt.“

Hier reflektiert Charlotte sehr schön, wie sie zu einer liebevolleren Haltung zu ihrer Mutter gelangen kann, indem sie Empathie für deren Situation aufbringt.

„Ich überlege trotzdem oft, vielleicht sollte ich ein besseres Verhältnis zu ihr haben. Denke dann, ich muss lieb sein, so wie früher vielleicht. Ich habe einen großen Wunsch nach Nähe, was ich gar nicht verstehe, weil mein Ärger so krass ist. Der kommt sofort hoch, obwohl ich es eigentlich immer recht machen will.

Aber ich werde nicht müde, darauf zu hoffen, dass wir eine tiefere Verbindung haben können. Es macht mich immer wieder so wütend, weil ich es nicht bekomme. Ich denke immer noch: »Mama, ich will doch ein gutes Verhältnis mit dir haben.« Meine Haltung müsste vielleicht eher so sein: Das ist ein Mensch, der mir sehr nahe sein will und nur das Beste für mich will, aber aus bestimmten Gründen geht es nicht. Ich werde diese Bestätigung, diese Anerkennung von ihr nicht bekommen, weil sie es nicht kann. Ich würde gerne Verantwortung für mich selber übernehmen, also dass die große Charlotte die kleine Charlotte an die Hand nimmt. Ich glaube, dann könnte ein großer Raum von Freiheit und von Leichtigkeit entstehen. Ich möchte, dass dieser Ärger nicht mehr da ist. Ich würde ihn gerne loslassen. Und ich wünsche mir, dass ich meiner Mutter gegenüber milder sein kann.“

Diese Überlegungen gehen genau in die richtige Richtung, damit Charlotte ihren Frieden mit ihrer Mutter machen kann.

Meine Überlegungen zu Charlotte

1. Da es um ihre Beziehung zu ihrer Mutter geht, ist auf jeden Fall Charlottes Bedürfnis nach Bindung frustriert. Außerdem ist ihr Bedürfnis, Unlustgefühle zu vermeiden, betroffen, weil sie sich so sehr über ihre Mutter aufregt. Dass sie so superwütend ist, dürfte jedoch wesentlich dem Umstand geschuldet sein, dass sie keinerlei Kontrolle über die Situation herstellen kann: Ihre Mutter bleibt, wie sie ist. Charlottes Erwartungen an ihre Mutter werden immer wieder frustriert. Letztlich ist natürlich auch ihr Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung tangiert, darauf gehe ich weiter unten noch ein.

2. Charlottes Mutter scheint ein Defizit an elterlichem Einfühlungsvermögen zu haben. Dies sowie die Schilderungen Charlottes, dass sie ihre Mutter als schwer erreichbar erlebe, deuten darauf hin, dass ihre Mutter ziemlich abgespalten von ihren eigenen Gefühlen ist. Wahrscheinlich weist sie ein Trauma auf. (Etwas später im Text erfahren wir auch, dass die Mutter andauernd mit Aktivitäten zur Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse beschäftigt ist, die in der sogenannten Bedürfnispyramide ganz unten stehen: ein Dach über dem Kopf (Miete), Nahrung (immer kochen und backen) sowie materielle Geschenke, die es in schlechten Zeiten nicht gibt. Die Mutter läuft ständig auf Hochtouren, wie im Hamsterrad, so als herrsche im Leben ein chronischer Notfall, bei dem es besser ist, seine Gefühle im Griff zu haben. Da gibt es keine Zeit zur Selbstreflexion.

Höhere Bedürfnisse, wie das einfühlsame Eingehen auf ihre Tochter und deren individuelle Förderung, kommen da zu kurz. Das ist typisch für den »Dauerausnahmezustand«, in dem Traumatisierte sich psychisch befinden.)

3. Der Mangel an Verständnis und Einfühlungsvermögen, den Charlottes Mutter aufzuweisen scheint, hat bei Charlotte bewirkt, dass sie kein Vertrauen in ihre Mutter entwickelt hat. Sie erwartet folglich nicht, bei dieser auf Verständnis und Anteilnahme zu stoßen, sondern rechnet eher mit Unverständnis und Zurückweisung.

4. Charlottes Schattenkind wird durch die Empfindung geprägt sein, dass sie nicht geliebt wird. Obwohl ihre Mutter sie materiell so sehr beschenkt und sie ihrer Liebe mit Worten versichert hat, scheint diese Botschaft bei Charlotte nicht angekommen zu sein. Die kleine Charlotte hat gespürt, dass ihre Mutter emotional nicht anwesend ist.

Ich erinnere daran, dass kleine Kinder sich selbst die Schuld für das Fehlverhalten oder die mangelnde Liebe ihrer Eltern geben. Folglich wird Charlotte für sich Glaubenssätze abgespeichert haben wie: Ich bin nicht liebenswert! Ich genüge nicht! Diese tiefe Konditionierung ist ihr Schattenkind. So gesehen erfährt sie von ihrer Mutter jedes Mal wieder eine Selbstwertkränkung, wenn diese nicht auf sie eingeht.

Charlotte gibt jedoch die Hoffnung nicht auf, dass sie irgendwann doch noch die Bestätigung und Liebe erhält, nach der sie sich so sehnt. Der psychologische Prozess, der hier wirkt, ist das gespiegelte Selbstwertempfinden. Charlotte gibt sich für die Unfähigkeit ihrer Mutter selbst die Schuld (»Ich bin nicht liebenswert«; »Ich genüge nicht«) und kränkt sich mit dieser Deutung quasi selbst. Diese Glaubenssätze dürften einhergehen mit Gefühlen von tiefer Kränkung und Verlassenheit. Für Charlottes Heilungsprozess wäre es wichtig, diese Gefühle anzunehmen und in einen liebevollen Kontakt mit ihrem Schattenkind zu gehen. Wie dies geschehen kann, beschreibe ich im dritten Teil dieses Buches unter »Zweiter Schritt: Zugang zu den Gefühlen schaffen«.

5. Wenn sie aus dem Hamsterrad aussteigen wollte, müsste Charlotte im ersten Schritt die Hoffnung aufgeben, dass sie ihre Mutter verändern kann. Im zweiten Schritt müsste sie die Anteile, die zu ihrer Mutter gehören, bei dieser belassen. Konkret bedeutet dies, dass Charlotte sich klarmacht, dass ihre Mutter (sehr wahrscheinlich, weil sie ein Trauma aufweist) nicht in der Lage ist, ihr die Aufmerksamkeit und Empathie zu geben, die sie sich so dringlich wünscht. Ganz wichtig ist hierbei, dass Charlotte dies nicht auf ihren persönlichen Wert als Mensch oder Tochter bezieht, sondern diese Schwäche bei ihrer Mutter belässt. Umgekehrt kann sie sich natürlich auch fragen, wie es ihrer Mutter mit ihr als Tochter geht. Wenn man sich empathisch in die Mutter hineinversetzt, dürfte diese traurig sein, weil ihre Tochter immer so wütend auf sie ist. Das Mitfühlen mit ihrer Mutter könnte Charlotte nicht nur innerlich versöhnen, sondern auch eine positive Dynamik zwischen beiden anstoßen. Dies setzte jedoch aufseiten Charlottes einen wichtigen Zwischenschritt voraus, nämlich die Versöhnung und Heilung mit ihrem inneren Schattenkind, wie ich es unter Punkt 4 bereits geschrieben habe. Wenn sie ihre innere Verletzung nämlich übergehen würde und diese unverarbeitet bliebe, dann übernähme sie lediglich die Verantwortung für die Probleme ihrer Mutter. Es passiert übrigens häufig, dass erwachsene Kinder ihre Eltern in Schutz nehmen und für deren Defizite Verständnis aufbringen, ohne dass die Eltern selbst hierfür die Verantwortung übernehmen und ohne dass aufseiten des erwachsenen Kindes eine Heilung stattgefunden hat. Dies ist eine ungesunde Fortsetzung des Themas: Ich übernehme die Verantwortung dafür, dass meine Beziehung zu den Eltern gelingt. Fortsetzung insofern, als diese Kinder durch Überanpassung an die Bedürfnisse ihrer Eltern bereits sehr früh die Verantwortung für die Eltern-Kind-Beziehung übernommen haben.