Birgit leidet an Panikattacken

Als Birgit, 43 Jahre, zu mir kommt, leidet sie seit einem Jahr an Panikattacken. Die Angstschübe überfallen sie in scheinbar harmlosen Situationen und zwingen sie wortwörtlich in die Knie. Es ist ihr einige Male passiert, dass sie sich in einem Geschäft oder Café auf den Boden legen musste. Deswegen verlässt die Webdesignerin seit einigen Monaten ihr Haus nur noch selten. Ihren Job macht sie vom Homeoffice aus. Ihre Lebensgefährtin kümmert sich um die Organisation des Alltags, übernimmt alle Einkäufe und Erledigungen.

Die Situation ist zusehends eine Belastung für das Paar. Birgit möchte so nicht mehr weiterleben und sucht einen Ausstieg aus ihren Angstattacken. Der ist ihr vor einigen Jahren schon einmal gelungen.

„Vor 19 Jahren war ich schon einmal in dieser Situation. Ich war ein Häufchen Elend. Es fühlte sich an, als würde ich mein Leben auf einem wackligen Untergrund verbringen. Jederzeit hätte ich mein Gleichgewicht verlieren können. Mir wurde plötzlich schwindelig, ich bekam Herzrasen, Schweißausbrüche. Ich hatte Atemnot und Todesangst. Damals hing das mit der schwierigen Beziehung und Trennung von meinem früheren Lebensgefährten zusammen. Ich habe mich dann aber mit einer Therapie so stabilisiert, dass ich richtig aufgeblüht bin. In den letzten zehn Jahren war ich so selbstbewusst wie nie. Ich habe mich beruflich weiterentwickelt. Ich habe meine heutige Lebensgefährtin kennengelernt, und wir haben uns ein gemeinsames Zuhause geschaffen. Wir haben ein schönes Haus, zwei Hunde. Ich habe eigentlich das, was ich mir immer gewünscht habe.“

Birgits Problem sind starke Angstgefühle, die scheinbar gar nichts mit ihrem aktuellen Leben zu tun haben. Menschen, die unter Panikattacken leiden, können häufig keinen direkten Zusammenhang zwischen ihrer Angst und sich selbst herstellen.

„Deshalb hat es mich wie aus heiterem Himmel erwischt, als die Panikattacken zurückkamen. Ich fühle mich inzwischen wieder so, als wäre mir meine ganze  Kraft flöten gegangen. Ich habe große Verlustängste, ich habe Angst, den Halt zu verlieren. Und dadurch ist mein Alltag geprägt. Ich kann vieles nicht mehr machen, was für andere normal ist. Das stößt manchmal auf Unverständnis, auch in meinem engsten Umfeld. Wenn mein Vater vorschlägt, in eine Pizzeria zu gehen, muss ich ihm erst mal erklären: »Tut mir leid, wenn wir das machen, müssen wir damit rechnen, dass ich irgendwann auf dem Fußboden der Pizzeria liege und Schweißausbrüche bekomme.« Meine Panikattacken bestimmen, was möglich ist und was nicht.“

1. Es liegt auf der Hand, dass Birgits psychisches Grundbedürfnis, Unlustgefühle zu vermeiden, vollumfänglich betroffen ist, schließlich leidet sie massiv unter ihren Angstgefühlen. Aber welches weitere psychische Grundbedürfnis ist ebenfalls stark beeinträchtigt? Und welcher Lösungsversuch deutet sich hier an?

„Mein Verhältnis zu meiner Mutter hat sich durch die Angstattacken allerdings stark verbessert. Sie kommt oft vorbei und geht mit mir und den Hunden spazieren. Sie weiß, dass ich mittags manchmal Angst habe, allein vor die Tür zu gehen. Da ist sie zur Stelle und fängt mich auf. Eigentlich kümmert sie sich jetzt erstmals um mich. Wir haben auch richtig viel Spaß miteinander. Im Grunde genommen habe ich jetzt zum ersten Mal die Mutter, die ich mir immer gewünscht habe.“

2. Welches psychische Grundbedürfnis kommt hier zur Sprache? Und welchen sogenannten Krankheitsgewinn formuliert Birgit?

„Meine Mutter hatte immer ein Problem mit ihrem Alkoholkonsum. Sie ist in gewisser Weise alkoholabhängig, das ist aber nie so ausgeartet, dass sie in eine Entzugsklinik gekommen wäre. Seit es mir so schlecht geht, trinkt sie viel weniger. Sie hat das derzeit offenbar unter Kontrolle.“

Hier zeigt sich ein weiterer Krankheitsgewinn: Die Mutter trinkt weniger unter der Bedingung, dass Birgit ihre Hilfe benötigt. Indirekt übernimmt Birgit hier anscheinend die Verantwortung für das Alkoholproblem ihrer Mutter.

„In meiner Kindheit und Jugend war ich aber oft gefordert, für sie da zu sein und mich um sie zu sorgen. Meine Eltern haben sich getrennt, als ich noch in der Grundschule war. Die Trennung war unschön. Es gab viele laute Streits.

Meine Eltern haben schlimm übereinander geredet – und zwar mit mir. Mir wurde damals auch einige Male gesagt, dass ich schuld an der Trennung sei. Es ging meiner Mutter damals ziemlich schlecht, und ich habe versucht, sie aufzuheitern und zu beschützen.“

3. Hier zeigt sich, dass Birgits Bindungsbedürfnis in der Kindheit verletzt wurde. Sie hat sehr viel Verantwortung für ihre Mutter übernommen. Mit anderen Worten: Sie musste zu früh zu autonom sein. Welche Glaubenssätze dürfte sie entwickelt haben?

„Wenn sie zu viel getrunken hatte, habe ich mich auch um meine kleine Schwester gekümmert. Aus heutiger Perspektive weiß ich, dass eigentlich ich den Halt und Schutz gebraucht hätte und nicht meine Eltern.

Jetzt bekomme ich diesen Halt und diese Aufmerksamkeit: von meiner Mutter, von meiner Lebensgefährtin und auch von Außenstehenden, die sofort Mitleid mit mir haben. Ich dachte nicht, dass ich da so bedürftig bin. Aber offensichtlich bekomme ich durch die Panikattacken genau das, was ich als Kind gebraucht hätte.

Die Attacken rauben mir auch meine Unabhängigkeit und Stärke. Ich bin seit Beginn der Angstzustände vollkommen abhängig von anderen. Das gefällt mir nicht.“

Hier zeigt sich noch einmal, wie sehr Birgit sich Zuwendung wünscht. Dieser Wunsch steht allerdings im Konflikt mit ihrem Bedürfnis nach Autonomie und Unabhängigkeit.

„Aber die Panikattacken erfüllen offensichtlich auch eine Funktion. Das muss ich mir eingestehen. Und vielleicht habe ich sie deshalb auch bekommen. Sie geben mir die Möglichkeit, meinen Alltag und meine Mitmenschen zu kontrollieren. Ich habe so viel Kontrolle wie noch nie zuvor in meinem Leben. Manchmal – auch das muss ich mir eingestehen – möchte ich die Panikattacken deshalb sogar behalten. Sie beschützen mich irgendwie.“

Das ist interessant: Einerseits ist Birgits Kontrollbedürfnis durch die Panikattacken stark verletzt, und gleichzeitig verspürt sie hierdurch sehr viel Kontrolle. Die Panikattacken schützen ihren Bindungswunsch.

„Sie schützen in gewisser Weise auch die Beziehung zu meiner Lebensgefährtin. Mir fehlen in dieser Partnerschaft einige Dinge, die normalerweise zu einer Liebesbeziehung dazugehören. Ich bin eigentlich nie in meine Lebensgefährtin verliebt gewesen. Ich interessiere mich sexuell nicht für Frauen, ich bin nicht lesbisch. Meine Partnerin und ich sind Freundinnen, wir haben ein familiäres Miteinander. Wir unterstützen uns. Wir haben es schön zusammen, wir kuscheln. Aber ich habe überhaupt kein sexuelles Interesse an meiner Partnerin. Wir knutschen nicht mal. Sie weiß auch, dass ich sexuell an Männern interessiert bin, und ich habe von ihr einen Freifahrtschein, meine erotischen Bedürfnisse mit Männern auszuleben.

Manchmal mache ich das. Ich suche mir aber nicht einfach irgendwelche One-Night-Stands. Es gibt einen Mann in meinem Bekanntenkreis, mit dem ich immer wieder ins Bett gehe. Der Sex ist toll. Ich weiß auch, dass dieser Mann mich vergöttert und sich mehr vorstellen könnte.“

4. Welches psychologische Motiv könnte Birgit haben, mit einer Frau eine Beziehung einzugehen, obwohl sie gar nicht auf Frauen steht?

Ich kann mir aber nicht vorstellen, meine Partnerin zu verlassen und alles aufzugeben, was wir uns erarbeitet haben. Meine Partnerin ahnt das auch. Sie sagt manchmal: »Du würdest mich nie verlassen. Du brauchst mich doch viel zu sehr. Du kannst doch ohne mich gar nicht so gut leben und so kochen, waschen, putzen.« Manchmal denke ich mir dann: »Doch, ich kann auch alleine einen Haushalt führen und mit dem Leben klarkommen.« Der Gedanke löst aber auch Angst aus, Verlustangst. Meine Panikattacken bewahren mich dann davor, diesen Gedanken weiterzuverfolgen. In der jetzigen Situation kann ich mir nicht vorstellen, meine Lebensgefährtin zu verlassen. Diese Angstattacken unterbinden also alle Überlegungen, ob ich mich vielleicht lieber trennen sollte.“

Hier bringt Birgit noch einmal krass auf den Punkt, wie sehr ihre mangelnde Autonomie, die sie durch die Panikattacken erlebt, ihre Beziehung beschützt. Die Beziehung beschützt sie wiederum vor autonomen Entscheidungen und vor ihrer Verlustangst, und zwar nicht nur in Bezug auf ihre Partnerin, sondern auch in Bezug auf ihre Bindungsangst, wie ich es bei meiner Einschätzung zu Frage 4 bereitsausgeführt habe.

Ich stecke sozusagen fest. Meine Panikattacken verschaffen mir einerseits den Halt und den Schutz, den ich als Kind gerne gehabt hätte. Sie schenken mir die Nähe zu meiner Mutter, die ich mir wünsche. Sie hindern mich aber auch daran, das Leben anzugehen, das ich mir auch wünsche. Dazu gehört vermutlich eine Beziehung zu einem Mann, den ich sexuell anziehend finde.

Ich müsste mir also bewusst machen, dass ich nicht haltlos und ungeschützt bin, wenn ich meine Muster ändere. Ich kann meiner Mutter sagen, dass ich sie brauche und sehen möchte, wenn ich nicht als psychisch labil gelte. Ich kann einfach sagen: » Können wir mehr Zeit miteinander verbringen, auch wenn ich keine Panikattacken habe?«

Ich muss mir klarmachen, dass ich meine Beziehung nur weiterführen sollte, wenn ich das will – und nicht, weil ich so große Angst davor habe, Neuland zu betreten. Ich muss irgendwie verinnerlichen, dass ich es schaffen kann, neu anzufangen. Wenn ich mich trennen muss, dann ist das eben so. Aber nur wegen der Angst gar nichts zu machen, kann nicht die Lösung sein.“

Diese Überlegungen Birgits gehen haargenau in die richtige Richtung.

„Ich glaube, dass ich die Panikattacken erst dann überwinden und aufgeben kann, wenn mir klar wird, dass ich sie nicht wirklich brauche. Was ich eigentlich brauche, sind Entscheidungen.“

Meine Überlegungen zu Birgit

1. Birgit erleidet einen massiven Kontrollverlust, es ist also ihr psychisches Grundbedürfnis von Kontrolle und Autonomie betroffen. Da sie offensichtlich nicht mit ihrem Vater in die Pizzeria gehen wollte, können wir annehmen, dass sie – wie praktisch alle Angstpatienten – Situationen vermeidet, in denen eine Panikattacke auftreten könnte. Durch die Vermeidung gibt sie ihrem Gehirn jedoch wiederholt die Botschaft, dass die vermiedenen Situationen tatsächlich gefährlich seien, und sie verhindert die Erfahrung, dass sie diese bewältigen kann. Deswegen trägt die Vermeidung wesentlich zur Aufrechterhaltung und auch zur Verstärkung der Symptomatik bei.

2. Hier formuliert Birgit deutlich ihren Bindungswunsch an ihre Mutter. Sie sagt, dass sie zum ersten Mal die Mutter habe, die sie sich immer gewünscht habe. Dies dürfte ein Krankheitsgewinn ihrer Angststörung sein.

3. Birgits Glaubenssätze könnten lauten: Ich bin allein. Ich muss für dich sorgen. Ich genüge nicht. Ihr Kernglaubenssatz dürfte jedoch lauten: Ich bin schuld! Dies haben ihr ihre Eltern sogar wörtlich gesagt.

4. Ich würde vermuten, dass Birgit unter Bindungsangst leidet. Der Dauerstreit ihrer Eltern, die Scheidung, die hohe Verantwortung, die sie für ihre Mutter übernommen hat, sind psychologische Wegbereiter, um ein negatives motivationales Schema über Beziehungen im Allgemeinen und Liebesbeziehungen im Besonderen zu entwickeln. Indem sie sich an eine »ungefährliche« Person bindet, geht sie echter Nähe und Intimität, in der sie verletzt werden könnte, aus dem Weg und kann sich trotzdem ihr Bedürfnis nach Nähe und Geborgenheit erfüllen. Die erotische Nähe lebt sie mit einer anderen Person aus. Die Abspaltung von Sexualität innerhalb einer festen Beziehung ist ein typisches Merkmal bindungsängstlicher Beziehungen. Viele Bindungsängstliche verspüren keinerlei sexuelles Interesse an ihren Partnern, auch unter der Bedingung, dass sie in einer Partnerschaft ihrer sexuellen Ausrichtung leben. Ein Grund ist, dass sexuelle Leidenschaft einen stark an die andere Person bindet.

Diese Person hat dann die Macht und die Reichweite, einen zu verletzen, was vermieden werden soll. Ein weiteres Motiv für sexuelle Unlust ist häufig passive Aggression. Bindungsängstliche fühlen sich in ihrer Autonomie bedroht, wenn sie die Erwartungen ihrer Partner erfüllen, deswegen stellt sich bei ihnen eine starke Verweigerungshaltung ein, die sich vor allem auch im sexuellen Bereich niederschlägt.

Übrigens gibt es praktisch immer einen Zusammenhang zwischen Angst- und Panikstörungen und einer gestörten autonomen Entwicklung der Betroffenen. Im Kern geht es in der Psychotherapie immer darum, die Autonomie der Klientinnen und Klienten zu stärken. Wie auch bei Birgit geht mit der verminderten Autonomie der Betroffenen auch immer ein verletztes Bindungsbedürfnis einher. Angststörungen liegt häufig ein unbewusstes Motiv der Betroffenen zugrunde, sich ihre Wünsche nach Nähe und Versorgtsein zu erfüllen (siehe auch Abschnitt »Angst: ein wichtiges und ungeliebtes Gefühl«).