Christoph will Harmonie um jeden Preis

Christoph, 53 Jahre, ist Senior Manager in einer PR-AGENTUR. ER IST EIN SEHR KOMMUNIKATIVER UND REDEGEWANDTER MANN. UMSO MEHR ÜBERRASCHT ES, DASS ER VON SICH SELBST SAGT, ER KÖNNE NICHT GUT SEINE INTERESSEN UND SEINE MEINUNG VERTRETEN. ABSAGEN UND KRITIK FALLEN IHM SEHR SCHWER. OFTMALS VERHEDDERT ER SICH DESHALB IN SEINER ZEITLICHEN PLANUNG. DAS ÄRGERT AUCH SEINE FREUNDIN, MIT DER ER SEIT EIN PAAR JAHREN ZUSAMMENLEBT.

„In meinem Leben habe ich tatsächlich ein paar Beziehungen aufgegeben, weil ich nicht in der Lage war, einen Konflikt zu klären. Manchmal ging es dabei gar nicht um einen heftigen Streit oder eine größere Verletzung, meist ging es um Meinungsverschiedenheiten oder unterschiedliche Vorstellungen. Dieses Problem hatte ich in Berufsbeziehungen und auch in engen Freundschaften. An einem bestimmten Punkt habe ich einfach einen Abgang gemacht. Ich habe dann gedacht: »Mach einfach einen Strich drunter, dann ist da Ruhe an der Stelle.«“

1. Unter welcher Inkonsistenz leidet Christoph? Und zu welcher Selbstschutzstrategie greift er?

„Seit einiger Zeit überlege ich aber, woher das eigentlich kommt. An welchem Punkt komme ich in solche Sackgassen? Und warum? Ich muss mir wohl eingestehen, dass ich beinahe krankhaft harmoniesüchtig bin. Ich habe in meiner Kindheit nie streiten gelernt. Meine Eltern haben sich nie gestritten. Bei uns zu Hause gab es absolut keine Auseinandersetzungen! Und ich bin zu einem erwachsenen Mann geworden, der – nur um den Moment zu retten – auch einfach irgendwas sagt, damit bloß nichts Unangenehmes passiert. Das klingt erst mal nett, bringt mich aber manchmal ganz schön in die Klemme.“

2. Welche Glaubenssätze könnte Christoph entwickelt haben?

„Ich versuche zwar, dabei nicht zu lügen, aber manchmal biege ich die Realität so ein bisschen positiv zurecht. Und irgendwann kommt natürlich der Moment der Wahrheit, wo man die Hose runterlassen muss.“

Christoph redet sich die Dinge schön, um einen potenziellen Konflikt zu vermeiden, bis ihn die Realität einholt und er hierdurch wieder in die Klemme (Inkonsistenz) gerät.

„Ein ganz typisches Beispiel ist meine Terminplanung. Ich muss ab und an beruflich in andere Städte fahren, um Kunden zu treffen. Wenn ich dann also von Berlin nach Stuttgart reise, kann es sein, dass der Agenturleiter mich fragt, ob ich bei der Gelegenheit nicht noch zwei, drei andere Termine wahrnehmen möchte. Und dann wird aus einem Tag, wo ich morgens anreisen und abends zurückfahren wollte, ganz plötzlich eine halbe Woche. Manchmal ist mir das eigentlich nicht so recht, aber das sage ich dann meinem Chef gegenüber nicht. Meiner Freundin sage ich allerdings auch nicht umgehend, dass ich nicht nur einen, sondern gleich drei oder vier Tage weg bin. Ich enttäusche sie so ungern. Das geht mir aber nicht nur bei meiner Freundin so, sondern auch bei vielen Freunden, Kollegen oder früher bei meinen Eltern und meiner Schwester.“

3. Christoph möchte nicht enttäuschen und sagt deswegen nicht die Wahrheit. Welches tiefer liegende Gefühl möchte er mit seinem Selbstschutz vermeiden?

Ich kann mein Muster an einem absurden Beispiel erklären: Wenn ich mir jetzt mal vorstelle, ich hätte mir von einem Freund das Auto geliehen, das dieser Freund sehr mag. Ich habe dann aber direkt vor der Rückgabe beim Einparken so eine richtige Macke reingefahren. Mein Freund hat ein schönes Essen gemacht, damit wir vor der Rückgabe noch ein bisschen zusammensitzen können. Dann würde ich denken: »Na ja, bevor ich’s ihm jetzt erzähle, warte ich lieber mal das Essen ab.« Ich würde wahrscheinlich bis nach dem Nachtisch und bis zum Digestif warten, weil ich die ganze Zeit noch hoffen würde, dass vielleicht unten ein LKW in das Auto fährt, wo die Macke dann gar keine Rolle mehr spielt.“

Das nennt man Wunschdenken. Christoph hofft bis zur letzten Minute, dass er nicht die Verantwortung für sein Verhalten übernehmen muss.

„Es ist also seit jeher so, dass ich mit der ganzen unangenehmen Wahrheit bis zum Schluss warte, so in der Hoffnung, dass noch etwas passiert, was alles irgendwie auflöst. Ich weiß genau, dass das aus meinem Harmoniebedürfnis kommt. Ich möchte eigentlich vermeiden, dass meine Freundin und auch andere Menschen wütend auf mich sind. Ich habe das Gefühl, diesen Ärger nicht aushalten zu können.“

Hier bestätigt sich, dass Christophs Harmoniestreben aus einer tiefen Angst vor Zurückweisung entspringt.

„Deshalb eiere ich herum. Ich bin nicht ganz aufrichtig, obwohl ich Ehrlichkeit wichtig finde. Bei meiner Freundin setzt das zum Beispiel Fantasien frei, ob ich ihr noch viel wesentlichere Dinge verschweige. Sie fragt sich, ob man sich auf mich überhaupt verlassen kann. Mein Verhalten wird mir letztendlich mehr verübelt, als die Dinge rechtzeitig beim Namen zu nennen. Letztendlich enttäusche ich dann wahrscheinlich sogar mehr.“

Christoph liegt hier mit seiner Vermutung völlig richtig. Indem er nicht gleich mit der Wahrheit herausrückt, ist die Enttäuschung bei den anderen am Ende größer. Es ist jedoch Teil seiner Verdrängung, dass er JETZT keinen Ärger haben will und hierfür die langfristige Konsequenz verdrängt.

„In einigen Fällen habe ich Beziehungen sogar abgebrochen, weil ich dieses Gefühl zu enttäuschen nicht ausgehalten habe.“

4. Welche psychischen Grundbedürfnisse werden hier bedient?

„Es gab ein paar Fälle, wo man sich Jahre nicht gesehen hatte und wo man sich dann mal wiedergetroffen hat und ich gefragt wurde: »Sag mal, was war denn damals eigentlich los?« Und da ich über den Fall dann lange genug nachgedacht hatte und das auch für mich analysiert hatte, konnte ich dann detailliert dazu Stellung nehmen und auch sagen: »Pass auf, ich habe den Kopf in den Sand gesteckt. Ich war überfordert. Und deshalb habe ich genau das Falsche gemacht. Ich habe mich zurückgezogen.«“

5. Hier tut sich eine Inkonsistenz von Christophs Werten und seinem Verhalten auf. Welche seiner Werte dürfte Christoph verletzen durch seine Rückzugsmanöver?

Ich muss zugeben, dass ich mir leider wenig Gedanken gemacht habe, wie es eigentlich meinem Gegenüber mit meinem wortlosen Abtauchen ging. Ich habe aber auch meinen Wert für denjenigen nicht so hoch eingeschätzt. Ich bin einfach jedem klärenden Gespräch und jeder Diskussion aus dem Weg gegangen. Das liegt vielleicht auch daran, dass ich von mir weiß, dass ich ohnehin jede Diskussion verliere. Sobald nämlich ein Gegenargument kommt, denke ich entweder: »Na ja, haste auch wieder recht.« Oder ich denke: »Komm, denk doch, was du willst.« Oder ich denke: »Es bringt doch sowieso nichts.« Ich spüre meinen eigenen Willen und Standpunkt in solchen Momenten gar nicht so sehr. Und wenn mir das ohnehin nicht so wichtig ist, will ich nicht durch Kritik oder Streit die Beziehung belasten.“

6. Was sagt diese Passage über Christophs Selbstwertgefühl aus?

„Ich habe schon in meinem Elternhaus gelernt, keine Wut zu empfinden beziehungsweise meine Wut in Schach zu halten. Das ist sicherlich auch der Geschichte meines Vaters geschuldet: Der war so ein richtiges Opfer von Nazi-Ideologie und Weltherrschaftsfantasien. Er ging mit 17 als Soldat aus dem Haus. Als er mit 30 Jahren aus russischer Kriegsgefangenschaft zurückkam, hatte er die schlimmsten Gräuel gesehen, die der Krieg bietet. Er hat dann ganz bewusst entschieden, dass sein Leben ab jetzt nur noch harmonisch verlaufen soll. Ich glaube, dass er eigentlich eine große Wut in sich hatte. Die hat er aber zeitlebens unterdrückt. Ich bin also tatsächlich aufgewachsen in einem Elternhaus, wo Streit verboten war. Meine Mutter hat vielleicht mal eine Ansage uns Kindern gegenüber gemacht. Aber mein Vater, der war so warmherzig. Der sagte dann: » Ja, komm mal her, das wird schon.«

Ich war ein umhegtes und verzogenes Kind. Ich habe überhaupt nicht gelernt, dass man schlechte Stimmung auch mal aushalten kann. Ich bin da komplett untrainiert. Wirklich. Ich hätte mir gewünscht in der Schule, einen Debattierklub als Pflichtfach zu haben. Das hätte mir sehr gutgetan. Als Erwachsener regle ich jetzt die Dinge so, dass die Erwartungen aller möglichst erfüllt werden, um Konflikte zu vermeiden.“

Hier erfahren wir die Gründe für Christophs Konfliktscheu. In diesen Beschreibungen seiner Kindheit verbergen sich sein motivationales Schema und seine Glaubenssätze. Erst als ich das Gespräch für dieses Buch noch einmal analysiert habe, ist mir der Gedanke gekommen, dass hinter dem Harmoniebedürfnis von Christophs Vater vermutlich mehr steckt, als dass er die Gräueltaten des Krieges satthatte. Ich vermute, dass er sich auch schuldig gemacht hat und die bösen Geister seiner Nazivergangenheit, die ihm seine Jugend geraubt haben, für immer verbannen wollte. Deswegen mussten die Gespräche in der Familie vielleicht auch an der Oberfläche bleiben, es durfte nicht zu viel nachgefragt werden, damit das Geheimnis nicht gelüftet wird.

Ich wertschätze aber Menschen, die das ganz anders handhaben: Menschen, die immer klare Ansagen machen. Bei denen weiß ich, woran ich bin. Bei mir ist das vielen vermutlich nicht so klar. Der Vorteil ist: Ich mache mich dadurch unangreifbar. Wie heißt es so schön? »Du wärst Philosoph geblieben, wenn du geschwiegen hättest.« Jedenfalls habe ich durch mein Schweigen einen gewissen Ruf von Schlauheit. Oft genug denke ich aber: »Wenn ihr wüsstet, wie dumm ich bin!«“

7. Welchen Vorteil zieht Christoph aus seinem Schweigen?

„Ich weiß nämlich aus meiner Kindheit, dass ich nicht der Schlaueste bin! Meine Schwester war eine Überfliegerin. Die hatte nur gute Noten und war außerdem eine begnadete Pianistin. Die hat eine große Karriere an einer Eliteuniversität in England gemacht. Meine Mutter hat zu uns Kindern oft gesagt: »Du, lass das mal lieber. Das erledigt deine Schwester, aber lass du die Finger davon.«“

Hier zeigt sich noch ein weiterer wichtiger Einfluss, der Christophs Selbstwertgefühl, sein Schattenkind, negativ geprägt hat.

„Zusammengefasst ist es wohl so, dass ich eine gewisse Unsicherheit kaschiere und gleichzeitig Konflikte zwanghaft vermeide. Ich komme damit zwar nicht schlecht durch meinen Alltag. Aber ich zeige mich anderen nicht offen. Ich behalte immer eine Art Tarnkappe auf. Ich nehme also meinem Gegenüber die Chance, etwas mit mir zu klären. Das ist eigentlich eine Haltung, die meinem Verständnis von Miteinander und Freundschaft nicht entspricht. Ich muss das ändern, das wird mir jetzt klar. Es ist nicht fair, was ich da mache. Wenn ich mich das nächste Mal dabei ertappe, dass ich mich wieder drücken will, dann mache ich mir vorher klar, welchen Schaden ich damit anrichte. Lieber mal im Kleinen enttäuschen als eine große Enttäuschung zu sein. Gut so, Christoph!

Meine Überlegungen zu Christoph

1. Christoph erlebt – wie jeder von uns hin und wieder – Inkonsistenz, weil sein Gegenüber etwas macht oder sagt, das seinen, Christophs, Wünschen und Vorstellungen zuwiderläuft. Hieraus entsteht die
nächste Inkonsistenz, dass er sein Problem ansprechen müsste, hiervor aber zurückschreckt und sich zur »Lösung« der Inkonsistenz zurückzieht. Die präferierte Selbstschutzstrategie Christophs ist
mithin Flucht und Rückzug.

2. Seine Glaubenssätze dürften lauten: Ich muss mich anpassen. Ich darf keinen eigenen Willen haben. Die Bedürfnisse der anderen sind wichtiger als meine eigenen! Auseinandersetzung und Streit sind verboten und schlecht! Zudem scheint Christoph sich sehr verantwortlich für die Stimmung anderer zu fühlen. Hierauf verweist seine Aussage, dass er, nur um die Stimmung zu retten, irgendetwas sagt.

3. Hinter Christophs Kon iktscheu dürfte sich eine tiefer sitzende Angst vor Zurückweisung und Verlust verbergen, der er mit seinen Flucht-und Vermeidungstendenzen ausweichen möchte. Oberflächlich betrachtet möchte er keinen enttäuschen; es stellt sich aber die Frage, was die Konsequenz wäre, wenn er jemand enttäuschte? Die Konsequenz wäre, dass jemand ihm dies verübeln und böse auf ihn sein könnte. Diesem Ärger, dieser möglichen Zurückweisung möchte er höchstwahrscheinlich aus dem Weg gehen.

4. Christoph weicht seiner Verlustangst aus und der damit vermutlich einhergehenden Enttäuschung und Verletzung. Er möchte also Unlustgefühle vermeiden. Zudem erfüllt er durch diese Vermeidungsstrategie sein Kontrollbedürfnis, indem er lieber aktiv verlässt als passiv verlassen zu werden. Hierdurch beschützt er auch seinen Selbstwert – es sind also mal wieder alle vier Grundbedürfnisse im Boot.

5. Ich vermute, dass Christoph Werte hegt wie Aufrichtigkeit, Offenheit, Freundschaft oder auch Zivilcourage, die er durch seine feigen Fluchtmanöver verletzt.

6. Diese Passage zeigt, dass Christophs Selbstwertgefühl labil ist. Er meint, er sei für die andere Person nicht wichtig. Hierdurch kann er sich allerdings auch der Illusion hingeben, sein Verhalten sei gar nicht
so schlimm, worin wir einen gewissen Nutzen Christophs erkennen können, an seinem niedrigen Selbstwert festzuhalten. Aufgrund seines labilen Selbstwerts und der damit einhergehenden Unterlegenheitsgefühle fühlt er sich auch wehrlos – er resigniert direkt, wenn ihm jemand etwas entgegensetzt. Um diesem Gefühl der Resignation und Unterlegenheit auszuweichen, redet er sich ein, dass ihm die Beziehung nicht so wichtig sei (Abwehrmechanismen: Verdrängen und Abwerten).

7. Christoph erhält durch sein Schweigen die Anerkennung anderer, weil sie ihn hierdurch für besonders schlau halten. Im nächsten Absatz erfahren wir, warum ihm dies ein besonderes Bedürfnis ist.