Elke leidet unter Wutausbrüchen

Elke, 37 Jahre, hat immer öfter heftige Wutausbrüche – und das ohne wirklichen Anlass. Von außen betrachtet würde niemand vermuten, dass sie mit diesem Problem kämpft. Elke, von Beruf Vorstandsassistentin, ist eine sehr sympathische Frau. Sie erzählt mir, dass sie diese Wutanfälle ausschließlich zu Hause hat und ihren Zorn an ihrem Mann auslässt. Die beiden sind seit acht Jahren verheiratet und seit 20 Jahren ein Paar. Sie haben keine Kinder. Inzwischen leidet ihre Ehe unter Elkes Wutanfällen. Aber Elke weiß weder, woher diese Aggressionsschübe eigentlich kommen, noch, was sie dagegen tun kann.

Ich habe seit vergangenem Jahr immer wieder Phasen, in denen ich unkontrollierte Wutausbrüche habe. Eine Kleinigkeit reicht aus, damit ich ausflippe: Ich brülle dann meinen Mann an, stampfe mit dem Fuß auf, knalle Türen oder schmeiße etwas durch die Gegend. In den letzten Monaten hat mein Mann mich deshalb immer wieder gefragt, ob irgendwas bei mir nicht in Ordnung sei oder ob mich etwas belaste. Er hat gesagt, dass er durch unsere Wohnung wie durch ein Minenfeld laufe und es jederzeit passieren könne, dass ich ihn angreife. Er hat auch gesagt, dass er das so nicht mehr aushält.

Ich muss ihm recht geben, dass die Situation so nicht tragbar ist. Eigentlich waren wir immer ein harmonisches Paar. Es gab wohl auch schon früher dann und wann Momente, in denen ich explodiert bin, ohne dass es in dem Augenblick einen konkreten Anlass gegeben hätte. Ich habe dann in dem Augenblick nach der konkreten Ursache gesucht. Die Erklärung war dann etwas wie: » Da hast du halt mal überreagiert.« Aber jetzt raste ich mehrmals pro Woche ungerechtfertigt aus. Meinem Mann und mir ist auch bewusst, dass das nicht direkt mit ihm zu tun hat. Ich benutze ihn für etwas, damit es mir besser geht. Aber ihm geht es dadurch immer schlechter.“

Es fällt hier auf, dass Elke keinen Zusammenhang zwischen ihren Wutausbrüchen und etwaigen Auslösern erkennt. Sie tappt im Dunkeln, was sowohl den auslösenden Reiz anbelangt als auch ihre Interpretation des Reizes. Ich erinnere an den Zusammenhang zwischen Reiz-Interpretation-Emotion-Verhalten, den ich im Abschnitt »Unser Selbstbild bestimmt, was wir wahrnehmen« beschrieben habe. Aus psychotherapeutischer Sicht gilt es, hier Licht ins Dunkel zu bringen.

Das Merkwürdige ist, dass ich es anderen Menschen gegenüber immer schaffe, eine gewisse Fassade aufrechtzuerhalten. Da bin ich die nette, die freundliche, die verständnisvolle Frau, die auch alle gerne mögen. Aber scheinbar brodelt bei mir unterschwellig etwas, was ich nur bei meinem Mann zulasse.“

1. Welche psychologischen Hypothesen können wir bezüglich Elkes »Fassade« und ihrer unterschwelligen Wut aufstellen? Welchen Selbstschutz praktiziert sie?

„Unterschwellig habe ich in meinem Alltag öfter das Bedürfnis, einfach mal meine Meinung zu sagen. Aber da traue ich mich das nicht. Vor Kurzem gab es eine konkrete Situation, die das ganz gut veranschaulicht: Wir haben neue Nachbarn, und die haben von heute auf morgen einen neuen Zaun im Garten errichtet. Morgens habe ich die Rollos hochgezogen, diesen Zaun gesehen und gedacht: »Das ist doch eine Unverschämtheit, wie können die da einfach einen Zaun bauen, ohne uns zu fragen.« Ich habe mich innerlich furchtbar darüber aufgeregt. Wenig später habe ich die Nachbarn getroffen, war dann aber nicht in der Lage zu artikulieren, was ich gedacht habe, als ich die Rollos hochgezogen habe. Stattdessen vergingen ein paar Stunden, mein Mann machte irgendeine Kleinigkeit falsch und ich explodierte. Und er wusste gar nicht, wie ihm geschah.“

2. Hier bestätigt sich noch einmal, wie überangepasst Elke ist und dass sie ihre Wut auf ihren Mann verschiebt. Welche psychischen Grundbedürfnisse Elkes sind hier betroffen?

„Dahinter steckt schon ein Muster. Ich traue mich eigentlich an fast allen anderen Stellen nicht zu protestieren und laut zu werden – außer eben bei meinem Mann.

Bei anderen Menschen habe ich nicht das Vertrauen, die Beziehung durch Kritik belasten zu dürfen. Ich würde mich auch bei anderen Menschen schämen, wenn ich ihnen meine aggressive Seite zeigen würde. Ich weiß, dass ich da eine große Schwäche habe. Ich bin nicht in der Lage, einen Konflikt da zu lösen, wo er entsteht.“

3. Wie könnte man dieses motivationale Schema mit Worten beschreiben? Welche Glaubenssätze könnten damit einhergehen?

Ich beiße die Zähne zusammen und bin innerlich wütend. Bei den Nachbarn zum Beispiel habe ich gedacht: »Die verbauen mir meine Aussicht, die verbauen mir meinen schönen Garten. Wir hatten alles so schön offen und jetzt ist das hier wie im Gefängnis. Die hätten ja wenigstens mal fragen können.« Meine Interpretation zu diesem Verhalten lautet dann: »Meine Meinung zählt wohl nicht« oder »Ich bin es nicht wert, dass die mich mal fragen«. Ich fühle mich dann ganz klein und minderwertig.“

4. Hier zeigt sich jetzt sehr schön der Zusammenhang zwischen Reiz, Interpretation, Gefühl und Verhalten. Wie könnte man das schematisch darstellen (gemeint ist: Reiz → Interpretation → Gefühl → Verhalten)?

„Von außen betrachtet, hat das Verhalten der Nachbarn eigentlich nichts mit mir zu tun. Jeder hat das Recht, auf seinem Grundstück einen Zaun zu errichten, wenn er das möchte. Meine Nachbarn haben den Zaun im Übrigen errichtet, weil sie Obstbäume daran hochwachsen lassen wollen. Es hat also eigentlich nichts damit zu tun, dass die Nachbarn nichts mit mir zu tun haben wollen.“

5. Hier hat Elke einen Perspektivwechsel vorgenommen. In welcher Wahrnehmungsposition befindet sie sich hier, und welche psychische Instanz in ihr kommt hier zu Wort?

„Wenn ich aber erst mal in meinem Interpretations-Film gefangen bin, kann ich den überhaupt nicht mehr aufhalten. Dieser Prozess kann sich über Tage hinziehen, bis die Emotionen in meinem Kopf so groß geworden sind, dass ich explodiere. Davor durchlebe ich ganz stark Angstgefühle von Einsamkeit und Verlassen-Werden.“

Das sind die tiefsitzenden Ängste, die Elkes gesamtes Erleben und Verhalten bestimmen.

„Diese Ängste kommen wohl daher, dass ich eine recht lieblose Kindheit hatte. Ich habe nicht erfahren, dass ich gut bin, so wie ich bin. Mein Vater war sehr autoritär, und man war als Kind immer auf der Hut. Ich habe immer versucht abzuschätzen, wie seine Stimmung war und ob er wieder laut werden würde. Bei uns durfte man als Kind keine eigene Meinung vertreten und dann darüber diskutieren. Das habe ich nicht richtig gelernt.

Dann kommt noch hinzu, dass ich nicht viel Unterstützung in meiner Kindheit bekommen habe. Ich habe gelernt – das ist auch heute noch einer der Leitsätze meiner Mutter –, dass ich am Ende immer alleine dastehe. Ich habe nicht gelernt, dass man mir hilft. Ich habe eher gelernt, dass ich Probleme alleine bewältigen muss.“

Hier zeigt sich sehr schön, woher diese Angst kommt und wie Elkes Schattenkind geprägt wurde und somit die Brille geformt hat, durch sie häufig die Wirklichkeit sieht.

„Meine Schlussfolgerung daraus ist wohl: Wenn ich meine Meinung sage, werde ich am Ende damit bestraft, dass ich dann alleine dastehe. Es klingt vielleicht absurd, aber selbst bei einer Kritik an den Nachbarn hätte ich die Befürchtung, dass die mich danach vielleicht nicht mehr mögen. Ich habe als Kind offensichtlich verinnerlicht, dass ich immer lieb sein muss, um gemocht zu werden. Das ist meine Prägung. Wie kann ich als Erwachsene trotzdem ein glückliches Leben führen, in dem ich meine Bedürfnisse äußern kann?

Ich muss es irgendwie schaffen, diese Prägung zu überwinden, und mir klarmachen, dass die Überzeugung » Ich bin nicht wichtig« eigentlich gar nichts mit meiner Person zu tun hat. Nicht ich habe als Kind unendlich viele Fehler gemacht. Meine Eltern haben Fehler gemacht, indem sie mir das vermittelt haben. Wären meine Eltern anders drauf gewesen, dann hätte ich jetzt auch andere Glaubenssätze. Ich müsste mir selbst Glaubenssätze beibringen, die meiner erwachsenen Realität entsprechen.

Ich muss mich in Zukunft beobachten, damit ich rechtzeitig merke, wenn ich wieder in meinem alten Programm feststecke. Dann könnte ich aus einer sachlichen Perspektive feststellen, ob der andere mich wirklich geringschätzig behandelt oder ob ich wieder in meinem alten Film feststecke. Falls es nicht der alte Film ist und ich dann meine, ich hätte ein Recht, mich zu beschweren oder den Mund aufzumachen, dann werde ich das tun. Und zwar auf die freundliche Art.“

Elke ist genau auf dem richtigen Weg. Wenn sie hieran arbeitet und dranbleibt, wird sie ihr altes Muster auflösen können.

Meine Überlegungen zu Elke

1. Aus dieser Aussage Elkes geht hervor, dass sie überangepasst ist. Sie zeigt der Welt häufig eine Fassade und versteckt ihre Gefühle. Zu ihrem Mann scheint sie hingegen eine vertrauensvolle und sichere Beziehung zu unterhalten. Sie verschiebt (Abwehrmechanismus Verschiebung) deswegen ihre Aggression auf einen ungefährlicheren Schauplatz, nämlich auf ihren Mann. Diesem scheint sie zu vertrauen, hier gibt sie sich die Erlaubnis, ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen. Bei anderen Menschen scheint sie hingegen ein hohes Vermeidungsmotiv aufzuweisen, indem sie sich durch »Wohlverhalten« vor Zurückweisung schützt.

2. Elkes Bindungsbedürfnis steht im Vordergrund. Ihre innere Balance ist zugunsten der Bindung aus dem Gleichgewicht, sie tut viel dafür, gemocht und angenommen zu sein. Durch ihr angepasstes Verhalten stellt sie gleichsam Kontrolle darüber her, dass ihr Bindungsbedürfnis erfüllt wird. Hierdurch vermeidet sie Unlustgefühle wie beispielsweise Kränkung oder Beschämung, was wiederum einen positiven Einfluss auf ihr Selbstwerterleben hat. Also sind, wie so oft, alle vier psychischen Grundbedürfnisse im Spiel.

3. Elkes motivationales Schema könnte wie folgt lauten: »Ich genüge nicht (bin wertlos, nicht wichtig usw.) und muss deswegen deine Erwartungen erfüllen, damit du mich nicht ablehnst. Meine Wünsche und Gefühle sind nicht wichtig, und ich darf nicht authentisch sein. Wenn ich einen eigenen Willen oder meine Meinung äußere, werde ich abgelehnt. Ich benötige aber deine Zustimmung, um meinen Selbstwert zu stärken und mich einigermaßen sicher zu fühlen!« Hier sieht man sehr schön, wie Glaubenssätze und das motivationale Schema beziehungsweise das Schattenkind ineinander verschränkt sind. Denn die obigen Formulierungen sind ja allesamt Glaubenssätze.

4. Reiz = Nachbarn bauen einen Zaun.

Interpretation = »Meine Meinung zählt nicht. Ich bin es nicht wert, dass man mich fragt.« Hier sieht man wieder, wie eng die Glaubenssätze des Schattenkindes mit der Interpretation der Wirklichkeit zusammenhängen.

Emotion: Elke fühlt sich aufgrund ihres Schattenkindes nicht respektiert und ist deswegen vermutlich gekränkt. Diese Kränkung spürt sie jedoch nicht, sondern die starke Wut, die auf diese Kränkung erfolgt. Ich erinnere: Wut ist das Gefühl aufseiten der Autonomie. Elke fühlt sich in ihrer Autonomie (Mitbestimmung über Grenzzaun) beschränkt und reagiert deswegen mit Wut.

Verhalten: Gegenüber ihren Nachbarn beißt Elke aufgrund ihrer Überanpassung und Konfliktscheu die Zähne zusammen, lässt jedoch ihre Wut später an ihrem Mann aus.

5. Elke hat sich hier von der Identifizierung mit ihrem Schattenkind in die Beobachterposition begeben. Von hier aus kann sie die Situation von außen betrachten und deswegen rational bewerten. Die psychische Instanz, die hier zu Wort kommt, wird als der innere Erwachsene bezeichnet. Zu den verschiedenen Wahrnehmungspositionen werde ich noch ausführlich im dritten Teil dieses Buches berichten.