Wws-T3: Erster Schritt: die vergangene von der gegenwärtigen Realität trennen Stephanie Stahl - Wer wir sind: Wie wir wahrnehmen, fühlen und lieben. Alles, was Sie über Psychologie wissen sollten

Erster Schritt: die vergangene von der gegenwärtigen Realität
trennen

Der erste Schritt ist die Grundlage, um sich aus seinem alten Muster – seinem Schattenkind, seiner mentalen Landkarte, seiner Matrix oder wie auch immer man die frühen Prägungen des Gehirns bezeichnen möchte – zu befreien. Die allermeisten Probleme, die wir mit uns herumschleppen, sind das Resultat eines veralteten, negativen Selbstbildes und der dysfunktionalen Versuche, den damit einhergehenden geringen Selbstwert zu kompensieren. Solange ich mit meinem Schattenkind identifiziert bin, falle ich immer wieder in mein altes Muster zurück.

Um mein Schattenkind zu heilen, ist zunächst unabdingbar, dass ich es überhaupt als solches identifiziere, also erfahre, mit wem ich es überhaupt zu tun habe. Im Folgenden gebe ich eine grundlegende Orientierung, wie das funktionieren kann. (027)

Ich erarbeite die mentale Prägung meiner Klienten meistens im freien Gespräch. Es ist nicht unbedingt erforderlich, sich an die Reihenfolge zu halten, die ich im Folgenden beschreibe. Ich lasse den Klienten, die Klientin ihr Problem frei schildern und gehe begleitend auf die Themen ein, die aus meiner Sicht psychologisch relevant sind.

Die alte Prägung identifizieren

Alle Klientinnen und Klienten, die ich Ihnen im vorausgegangenen Buchteil II vorgestellt habe, tragen eine negative Schattenkind-Introjektion in sich, die sie im ersten Schritt erkennen müssen, um sich von ihr sowohl kognitiv als auch emotional zu distanzieren. Ich möchte an das Beispiel von Alexa (»Alexa hält sich lieber klein«) erinnern, die immer an die falschen Männertypen geriet und stark zerrissen war zwischen ihrer Sehnsucht nach einer festen Liebesbeziehung und ihrer Angst, verletzt zu werden. Alexa hatte sehr tiefe Prägungen durch ihre Mutter erfahren, die sie häufig abgewertet und kritisiert hat. Zudem fehlte ihr eine liebende Vaterfigur. Mit einem halben Jahr wurde sie zu ihrer Großmutter gegeben und hatte ein paar Jahre kaum Kontakt zu ihrer Mutter. Dann wurde sie aus dem Alltag mit ihrer Großmutter wieder herausgerissen und kam zu ihrer Mutter zurück, der sie inzwischen entfremdet war. Sie hat also in ihrer Kindheit massive Bindungsabbrüche und mangelnde Geborgenheit und Sicherheit erfahren.

Während eine Klientin wie Alexa mir über ihre Kindheit und Jugend berichtet, habe ich bestimmte Fragen im Hinterkopf, die mir helfen, ihre Prägungen zu verstehen und sie im Gespräch einfühlsam zu begleiten. Solche Fragen wären:

  • Gab es sichere Bindungspersonen?
  • Wie war die Atmosphäre im Elternhaus? Liebevoll und warmherzig oder eher gestresst, kühl und lieblos?
  • Haben die Eltern meiner Klientin vermittelt, dass sie um ihrer selbst willen geliebt wurde, oder musste sie bestimmte Bedingungen erfüllen?
  • Wurde mein Klient in seiner autonomen Entwicklung unterstützt?
  • Durfte er einen eigenen Willen haben? Oder musste er vielleicht sogar zu früh zu autonom sein, weil seine Bindungsbedürfnisse vernachlässigt wurden?
  • Welchen Kontakt zu den eigenen Gefühlen hat der Klient, die Klientin erlernt? Waren bestimmte Gefühle unerwünscht oder wurden bestimmte Gefühle gefordert?
  • Während des Gesprächs versetzte ich mich empathisch in den Menschen hinein, der meinen Rat sucht: Wie hat er das Verhalten seiner Eltern beziehungsweise seiner Pflegepersonen erlebt?
  • Welche Glaubenssätze könnte er entwickelt haben?
  • Gern bitte ich die Klientinnen und Klienten, einmal die Augen zu schließen und in sich zu spüren, welche Glaubenssätzeda entstanden sind.
  • Manchmal formuliere ich auch im Gespräch einen mutmaßlichen Glaubenssatz, den mein Gegenüber dann verifizieren oderkorrigieren kann.

Den meisten Klientinnen und Klienten fällt es ziemlich leicht, ihre Glaubenssätze aufzudecken. Nicht wenige kennen ihre Glaubenssätze auch schon, wenn sie in die Sprechstunde kommen, weil sie sich bereits damit auseinandergesetzt haben. Auch bei Alexa war das der Fall.

Es gibt verschiedene Kategorien von Glaubenssätzen: Die einen sagen etwas unmittelbar über den Selbstwert aus, wie beispielsweise: Ich genüge nicht. Ich bin nicht liebenswert. Ich bin schlecht/hässlich/dumm. Der schlimmste Glaubenssatz lautet: Ich darf nicht leben!

Andere Glaubenssätze sagen etwas über die Beziehung zu den Pflegepersonen (und folglich auch anderen Menschen) aus, wie: Ich bin schuld. Ich bin nicht wichtig. Ich bin unterlegen. Ich bin ein Niemand usw.

Häufig transportieren die Glaubenssätze schon die Lösung für das Problem mit den Eltern, sie formulieren also bereits die Selbstschutzstrategie. Beispiele: Ich muss mich anpassen. Ich muss funktionieren. Ich muss lieb und artig sein. Ich muss es allein schaffen. Ich muss stark sein usw. Alexas Glaubenssätze lauteten übrigens: Ich bin nicht gut genug. Ich muss mich anpassen. Keiner will mich. Für mich kann man sich nicht entscheiden wollen. Sie wies also – wie viele Menschen – Glaubenssätze aus allen drei Kategorien auf.

Natürlich gibt es auch noch Glaubenssätze, die mehr oder minder dumme, gefährliche oder banale Allgemeinplätze über das Leben manifestieren. Beispiele dafür sind:

  • Männer sind schlecht.
  • Frauen sind schwach.
  • Araber sind böse.
  • Geld verdirbt den Charakter etc.

Diese Glaubenssätze, die zum Teil auch ganze Glaubenssysteme darstellen, können natürlich auch zu gesellschaftlichen Auseinandersetzungen oder gar Kriegen führen. Eine Vertiefung dieser Thematik würde jedoch an dieser Stelle zu weit führen.

Aus meiner Sicht sind die Glaubenssätze die Essenz des Selbstwertgefühls, quasi dessen Programmiersprache – zumindest gilt das für die Glaubenssätze der ersten drei Kategorien. Glaubenssätze sind die Brille, durch die wir die Wirklichkeit wahrnehmen. Sie sind die essenzielle Kurzfassung unserer mentalen Prägung, unseres Schattenkindes. Deswegen ist es sehr wichtig, dass die Klientinnen und Klienten ihre Glaubenssätze identifizieren.

Auf Engste verbunden mit den Glaubenssätzen sind die Gefühle, die sich aufgrund der mentalen Prägung tief im Erleben der Person verankert haben. Glaubenssätze, die sich um die subjektiv empfundene Minderwertigkeit drehen, können Schamgefühle, Angst, Trauer oder Wut triggern. Unsere Gefühle sind es, die unseren Handlungen ungeheuren Schub verleihen.

Deswegen bitte ich die Menschen, die meinen Rat suchen, in den psychotherapeutischen Gesprächen auch immer wieder, ihre Aufmerksamkeit auf ihre Gefühle zu lenken und jene Gefühle zu spüren, die häufig aus ihrem Schattenkind entspringen. Diese Gefühle benötigen Aufmerksamkeit und Zuwendung, weil es sich um alte Verletzungen handelt, die geheilt werden wollen. Hierauf werde ich in den folgenden Abschnitten noch öfter eingehen.

Entscheidend ist, dass unsere Gefühle unser Bewusstsein viel leichter erreichen als die tiefer liegenden Glaubenssätze. Alexa spürt beispielsweise sehr intensiv ihre Verlustangst, die sie dazu veranlasst, engen Liebesbeziehungen auszuweichen. Diese Verlustangst ist viel quälender und im negativen Sinne motivierender als ihre Glaubenssätze, die ja nur die sprachliche Repräsentation dieses Gefühls darstellen. Das Gefühl an sich ist unmittelbarer und deswegen auch dem Bewusstsein am schnellsten zugänglich. Im Alltag geht es also darum, sich möglichst schnell bei seinem Schattenkindgefühl zu ertappen, um dann möglichst rechtzeitig in das Erwachsenen-Ich, also den klar denkenden und reflektierenden Verstand, umzuschalten, wie ich es bereits im Exkurs »Intervention bei negativen Gefühlen« auf Seite 140 erklärt habe. Die Grundlage psychotherapeutischer Veränderungsprozesse ist, dass Klient oder Klientin sich nicht mit jenen unangemessenen Gefühlen identifizieren, die aus alten Prägungen resultieren.

Alexa erklärte, wenn sie eine neue Bindung eingehe, tauche automatisch große Angst auf, wieder so negativ bewertet zu werden, wie sie es bei ihrer Mutter erfahren hat. Sie rechnet also aufgrund ihrer alten Prägung mit Kritik und Ablehnung. Diese Vorstellung/Erinnerung triggert ihre Verlustangst. Wann immer sie sich mit diesem Gefühl voll identifizierte, spulte sie ihr vertrautes Verhaltensprogramm ab, das bei ihr paradoxerweise dazu führte, sich Männer mit einem bindungsvermeidenden Schema auszusuchen (siehe »Alexa hält sich lieber klein«). Würde es ihr im Alltag gelingen, sich bei ihrer Verlustangst und den dahinterstehenden Minderwertigkeitsgefühlen selbst zu ertappen, dann könnte sie mit Hilfe ihres Verstandes einen kleinen Abstand zu ihren früheren Erfahrungen herstellen. Sie könnte sich dann der heutigen Realität bewusst werden, in der sie eine liebenswerte, erfolgreiche und attraktive Frau ist. Es geht also darum, dass sie sich mit den gesunden Anteilen ihrer Persönlichkeit identifiziert und nicht mit den negativen Prägungen ihrer Kindheit.