Wws-T3: Selbstannahme Stephanie Stahl - Wer wir sind: Wie wir wahrnehmen, fühlen und lieben. Alles, was Sie über Psychologie wissen sollten
Selbstannahme
In der Regel möchte man sich nicht mit schmerzhaften Erinnerungen und frühen Verletzungen auseinandersetzen, sondern diese am liebsten verbannen. So geht es zumindest meinen Klientinnen und Klienten. Sie möchten ihre schlechten Gefühlszustände und destruktiven Verhaltensweisen einfach nur loswerden und abschütteln. Ein Wunsch, der vollkommen verständlich ist, aber leider eine ungünstige Lösungsstrategie befördert, nämlich, diesen Gefühlszuständen möglichst aus dem Weg zu gehen. Durch Verdrängung kann man sie jedoch nicht bearbeiten.
In der Psychotherapie hat sich in den letzten Jahren der Begriff des Selbstmitgefühls etabliert. Dieser bezeichnet eine freundlich-liebevolle Haltung gegenüber der eigenen Person und ihren Verletzungen. Anstatt also unliebsame Gefühle einfach wegzudrücken, nimmt man eine Haltung ein, die als liebevolle Annahme bezeichnet werden kann. Hat ein Klient sein Schattenkind identifiziert, so lade ich ihn gern dazu ein, dieses von seinem Erwachsenen-Ich zu trennen: Auf der einen Seite nimmt er das Erwachsenen-Ich wahr, das aus der Beobachterperspektive reflektieren kann. Auf der anderen Seite sieht er seinen verletzten, kindlichen Anteil. Mit dem erwachsenen Persönlichkeitsanteil kann man sich in eine liebevolle, zugewandte Haltung gegenüber seinen verletzten Gefühlen begeben.
Psychotherapeutinnen und -therapeuten formulieren gern, dass man selbst die Rolle des liebevollen Elternteils einnimmt, den man als Kind benötigt hätte. Aus dieser erwachsenen Perspektive heraus kann man sein Schattenkind an die Hand nehmen oder es auf den Schoß setzen und ihm in liebevollen Worten die Welt erklären. Ein solcher innerer Dialog könnte bei Alexa beispielsweise so aussehen:
»Oje, mein armes kleines Kind. Das war nicht leicht mit Mama, die hat dich so früh weggegeben zur Oma … Und den Papa, den gab es gar nicht. Da warst du schon sehr allein. Aber dann hat es dir bei der Oma so gut gefallen, und plötzlich kommt die Mama und reißt dich da wieder raus. Das war ganz schlimm, mein armer Schatz. Und zurück bei Mama musstest du dich so sehr anpassen, die hatte ja auch einen neuen Mann, und alles war ganz fremd. Und immer gemeckert hat die Mama mit dir … deswegen denkst du noch heute, dass du nicht genügst und dich anpassen musst. Die Mama hat dich so oft abgewertet, deswegen denkst du immer wieder, du wärst falsch. Und dann kommt die ganz schlimme Verlustangst, und die ist so schlimm, dass du schon darüber nachdenkst, lieber allein zu bleiben … Aber schau doch mal, mein Schatz: Das mit der Mama war doch nicht deine Schuld. Sie hat die Fehler gemacht. Sie war überfordert. Du warst ein ganz liebes, unschuldiges Kind. Wäre deine Mama heil gewesen und hättest du auch einen heilen Papa gehabt, dann wüsstest du heute, dass du vollkommen genügst, so wie du bist. Du bist wertvoll und hast schon sooo vieles richtig gemacht im Leben. Deine heilen Eltern wären unendlich stolz auf dich und würden dich gegen kein anderes Kind der Welt tauschen …«
Das obige Beispiel habe ich relativ knapp gehalten, man kann diesen Dialog zwischen dem Erwachsenen-Ich und dem Schattenkind noch viel weiter ausbauen. Hier soll nur das Prinzip verdeutlicht werden: Es wird eine Trennung der gesunden Ebene der erwachsenen Vernunft von den Verletzungen des inneren Kindes vorgenommen. Die Selbstansprache fördert die Einsicht, dass die inneren Glaubenssätze rein willkürlicher Natur sind, und verankert sie im Gefühl der Klientinnen und Klienten.
Im psychotherapeutischen Setting übernehme ich selbst auch gern die Rolle der tröstenden Mutter, indem ich das Schattenkind der Person, die mir gegenübersitzt, direkt anspreche. Sie hat bei dieser Übung nichts anderes zu tun, als mit geschlossenen Augen und eng verbunden mit ihren Gefühlen zuzuhören. Bei dieser Übung fließen fast immer Tränen, und nicht wenige Menschen äußern danach, dass noch nie jemand so liebevoll mit ihnen gesprochen habe. Die liebevolle Ansprache fördert nicht nur eine klare Differenzierung zwischen der Verantwortung der eigenen Eltern und der Verantwortung des Kindes, sondern sie ist auf der Gefühlsebene erlösend und heilsam. Sie ist emotional deshalb kraftvoller als die rein rationale Distanzierung, die in Form der inneren Beobachterposition des Richters/der
Richterin vorgenommen wurde.
Ich ermuntere die Menschen, die mich aufsuchen, diese Übung in ihren Alltag zu integrieren. Hierfür habe ich auch eine sogenannte Schattenkind-Trance eingesprochen, die unter diesem Namen auf YouTube zu finden ist. Es stellt übrigens keinen Widerspruch dar, einerseits die liebevolle Selbstannahme zu praktizieren und sich andererseits im Alltag von Schattenkind-Introjektionen durch Ertappen und Umschalten zu distanzieren. Bei Letzterem geht es darum, möglichst schnell seine eigenen Projektionen aufzulösen, während es bei der liebevollen Selbstannahme um die Integration schmerzvoller Erlebnisse geht.
Unter Integration verstehen Psychologen, dass man schmerzhafte Erinnerungen anerkennt und ihnen innerlich Raum gibt. Dies verhindert, dass sie unbewusst getriggert werden und man unangemessen auf sie reagiert. Wenn Alexa beispielsweise ihre schmerzhaften Kindheitserlebnisse innerlich integriert, indem sie mit ihrem Schattenkind immer wieder in einen liebevollen Kontakt geht, dann kann
sie ihre gefühlte Minderwertigkeit und Verlustangst verarbeiten und hierdurch zu einer psychisch gesunden Gestaltung ihrer erwachsenen Beziehungen gelangen. Um diesen Prozess zu unterstützen, arbeite ich mit meinen Klientinnen und Klienten zusätzlich aktiv an der Identifikation mit positiven und angemessenen Glaubenssätzen. Wir stärken ihre eigenen Ressourcen und entwerfen gemeinsam sogenannte Schatzstrategien, die ein konstruktives Gegenprogramm zu den dysfunktionalen Schutzstrategien darstellen.
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