Wws-T3: Gefühle wahrnehmen Stephanie Stahl - Wer wir sind: Wie wir wahrnehmen, fühlen und lieben. Alles, was Sie über Psychologie wissen sollten
Gefühle wahrnehmen
Weil Überangepasste früh gelernt haben, sich den Erwartungen ihrer Umgebung anzupassen, verlieren sie schnell den Kontakt zu sich selbst, sobald andere Menschen in der Nähe sind – und manchmal sogar dann, wenn sie allein sind. Weil dieser Prozess automatisiert abläuft, muss er durch eine bewusste Hinwendung zu den eigenen Gefühlen unterbrochen beziehungsweise abtrainiert werden. Die Betroffenen sollten sich darin üben, ihre Aufmerksamkeit auf die eigenen Gefühle und Bedürfnisse zu richten. In den psychotherapeutischen Sitzungen frage ich deswegen immer wieder: »Wie fühlen Sie sich jetzt gerade? Wie fühlen Sie sich, wenn Sie darüber reden/sich erinnern? Wie geht es Ihnen gerade mit mir in dieser Situation?«
Klienten, die sich schwertun, ihre Gefühle wahrzunehmen, selbst unter der Bedingung, dass sie bewusst in sich hineinfühlen, kann man auch über ihren Körper an ihr Gefühlsleben heranführen. Man leitet sie an, mit ihrer Aufmerksamkeit durch den eigenen Körper zu reisen und die einzelnen Körperteile bewusst wahrzunehmen. Dabei sollte die Aufmerksamkeit auch auf die Atmung gelenkt werden. Durch eine bewusstere Wahrnehmung des eigenen Körpers und der Atmung lernen wir, unserer eigenen Person wieder mehr Beachtung zu schenken und Qualitätsunterschiede wie verspannt, locker, warm, kalt usw. wahrzunehmen. Hierüber lässt sich dann auch wieder Zugang zu Gefühlszuständen wie Freude, Trauer oder Angst finden.
Ich rate meinen Klientinnen und Klienten, diese Selbstaufmerksamkeit in ihren Alltag einzubauen. Hierfür können sie über den Tag verteilt immer mal wieder eine kleine Reise durch ihren Körper machen, von den Füßen bis zum Kopf. Sie sollen ganz bewusst fühlen und wahrnehmen. Es hilft auch, immer wieder in den Brust-Bauchraum hineinzuspüren und sich zu fragen: Was fühle ich gerade? Oder: Welches Bedürfnis habe ich gerade? Die Klientinnen und Klienten lernen, sich rechtzeitig zu ertappen, wenn sie wieder reflexartig ein Gefühl wegdrücken wollen. Wenn also ein Funke Ärger, Trauer oder Freude aufkommt, geben sie diesem Gefühl innerlich Raum und heißen es willkommen. Nun können sie es erforschen: Woher kommt das Gefühl? Was will es mir sagen? Welchen Handlungsvorschlag hat es für mich? Je achtsamer eine Klientin mit ihren Gefühlen umgeht, desto genauer kann sie ihre Bedürfnisse erspüren und diese auf eine angemessene Weise erfüllen oder auch zugunsten eines anderen Ziels zurückstellen.
Nicht wenige Menschen leiden aber auch unter einer zu großen Intensität eines bestimmten Gefühls. Ich erinnere an meine Klientin Birgit (siehe »Birgit leidet an Panikattacken«). Wenn bestimmte Gefühle das Leben durch eine unangemessen starke Intensität dominieren, geht es darum, den lebensgeschichtlichen Zusammenhang zu eruieren. Bei Birgit bestand dieser Zusammenhang in einer Bindungsunsicherheit an ihre Eltern und dem damit einhergehenden Wunsch nach Geborgenheit und Bindung. Die Panikattacken Birgits wiesen somit einen Krankheitsgewinn für sie auf: Sie wurde dadurch enger an ihre Mutter, aber auch an ihre Lebensgefährtin gebunden. Birgit wies, wie praktisch alle Angst-Betroffenen, ein Defizit an Bindung und folglich auch eine gestörte Autonomieentwicklung auf.
Menschen mit diesem Problem machen sich angreifbar und fühlen sich dem Leben nicht gewachsen (siehe dazu auch den Abschnitt »Angst: ein wichtiges und ungeliebtes Gefühl«). Sie sehnen sich nach einer Bindungsperson, die sie an die Hand nimmt und durch die scheinbar gefährlichen Situationen begleitet. Je besser die Klientin die lebensgeschichtlichen Zusammenhänge erkennt, desto leichter gelingt es ihr, ihre Projektionen aufzulösen und Strategien zu entwickeln, ihrer Konditionierung von angstauslösendem Reiz (zum Beispiel eine Autofahrt von A nach B) und der Angstreaktion entgegenzuwirken (die entsprechenden Strategien zur Bewältigung starker Gefühle stelle ich noch unter dem Abschnitt »Gefühle regulieren« vor).
Auch massive Wutgefühle lassen sich am besten regulieren, indem man gemeinsam mit den Betroffenen deren Ursachen auf die Schliche kommt, wie es beispielsweise bei Elke (»Elke leidet unter Wutausbrüchen«) der Fall gewesen ist. Elkes Wut resultierte aus einer alten Kindheitswunde, aus einem Gefühl des Nicht-respektiert-Werdens. Ihre aktuelle Wut wird also durch ein altes beziehungsweise primäres Gefühl von Trauer/Verletztheit getriggert.