Wws-T3: Vierter Schritt: sich aus der Verstrickung lösen und dem Leben Sinn verleihen Stephanie Stahl - Wer wir sind: Wie wir wahrnehmen, fühlen und lieben. Alles, was Sie über Psychologie wissen sollten

Vierter Schritt: sich aus der Verstrickung lösen und dem Leben Sinn verleihen

Alle unsere psychologischen Probleme sind immer auch Beziehungsprobleme, denn jedes Problem, das ich mit mir selbst austrage, hat zwangsläufig auch eine Auswirkung auf meine Beziehungen. Umgekehrt  sind meine Beziehungen auch die Ursache für meine Probleme. Das Außen (Beziehungen) und Innen (Ich) sind unzertrennlich. Das bildet sich in unserer Gehirnentwicklung ab: Unser Gehirn entwickelt sich entsprechend den Erfahrungen, die es mit der Außenwelt, also mit seinen zwischenmenschlichen Beziehungen, macht.

Eine Kernaussage dieses Buches ist, dass ich das Bild, das ich von mir habe, in die Köpfe anderer Menschen projiziere und es mir von dort aus quasi wieder zurückhole. Wenn ich also denke, dass ich nicht genüge, fantasiere ich, dass mein Gegenüber das genauso sieht. Um diese fantasierte Ablehnung zu vermeiden, strenge ich mich dann besonders an, seine Erwartungen zu erfüllen, oder ich beschließe, dass die Meinung des anderen mir sowieso egal ist und grenze mich stur von ihm ab.

In beiden Fällen reagiere ich nicht auf die Realität, sondern auf meine Vorstellung derselben. Das ist der Zusammenhang zwischen Introjektion und Projektion, den ich bereits unter dem Abschnitt »Unser Selbstbild bestimmt, was wir wahrnehmen« vorgestellt habe. Immer geht es darum, ein ungutes Gefühl wie Scham und Ablehnung zu vermeiden.

Wenn ich hingegen denke, dass ich genüge, dann gehe ich davon aus, dass die anderen das auch so sehen – es sei denn, es gibt benennbare Gründe, warum eine andere Person etwas gegen mich haben könnte. Die Grundeinstellung von Menschen, die in Frieden mit sich leben, lautet: »Ich bin okay, du bist okay.« Das ist übrigens die Einstellung, die Menschen mit einem sicheren Bindungsstil aufweisen. »Du bist okay« bedeutet, dass ich andere Menschen grundsätzlich für vertrauenswürdig halte. In diesem Fall gehe ich davon aus, dass andere Menschen mir wohlgesonnen sind, solange ich sie freundlich und fair behandele. Vielleicht denken Sie jetzt: Aber das ist doch genauso eine Projektion, die völlig an der Realität vorbeigehen kann!

Das stimmt, weil es natürlich zahlreiche Gründe geben kann, warum ein anderer Mensch mich nicht mag, auch unter der Bedingung, dass ich freundlich und fair zu ihm bin. Schließlich könnte er Gefühle und Gedanken auf mich projizieren, die aus seinem Schattenkind entspringen.

Vielleicht erinnere ich ihn unbewusst an seine schwierige Mutter, oder ich sehe jemandem ähnlich, der ihn enttäuscht hat. Möglicherweise löse ich auch Unterlegenheits- und Neidgefühle in ihm aus. Wenn ich aber eine gute Grundeinstellung zu mir selbst pflege, dann erkenne ich leichter, dass die Ablehnung meiner Person durch die andere Person nicht mein, sondern ihr Problem ist. Es sind ihre Gedanken, Voreinstellungen und Gefühle, die zu ihr und nicht zu mir gehören. Natürlich kann die andere Person mir Probleme bereiten, wenn sie ihren schlechten Gefühlen mir gegenüber Taten folgen lässt. Aber grundsätzlich sagt ihr Verhalten nichts über meinen Wert aus.

Man kann in diesem Zusammenhang auch von Verantwortung sprechen: Es liegt nicht in meiner Verantwortung, wenn diese Person mich ablehnt und nicht nett zu mir ist.

Diese klare Sicht auf die eigene und fremde Verantwortung fehlt uns jedoch oft und schnell sind wir mit Person XY verstrickt. Wenn ich in eine Beziehung verstrickt bin, dann nehme ich Verantwortung auf mich, die nicht zu mir gehört und/oder schiebe dem anderen Verantwortung zu, die nicht zu ihm oder ihr gehört.

Ein Beispiel:
Mira (überangepasst) ist mit Jonas (autonom) verstrickt. Jonas lässt sich nicht richtig auf die Beziehung mit ihr ein – mal ist er Feuer und Flamme, dann wieder abwesend und kühl. Dabei macht Jonas stur sein eigenes Ding. Er allein bestimmt, wann er Mira nah sein möchte und wann nicht. Mira nimmt die Verantwortung auf sich, indem sie fühlt und denkt, dass sie seinen Ansprüchen nicht genügt. Sie bemüht sich dementsprechend, seinen Vorstellungen zu entsprechen. Gleichzeitig erwartet sie von ihm, dass er sie glücklich machen und von ihren Minderwertigkeitsgefühlen erlösen soll. Die Verantwortung für ihr Selbstwertgefühl delegiert sie an ihn. Jonas hingegen macht Mira dafür verantwortlich, dass er sich nicht völlig auf sie einlassen kann, weil ihr schwäbischer Dialekt ihn abtörnt. Dabei merkt er nicht, dass ihn immer irgendetwas abtörnt bei Frauen, die sich auf eine Beziehung mit ihm einlassen.

Er übernimmt also nicht die Verantwortung für seine Bindungsangst. Stattdessen schiebt er Mira die Verantwortung rüber – sie soll gefälligst Hochdeutsch sprechen.

Die allermeisten Beziehungsprobleme resultieren aus Verstrickungen. Der berühmte österreichische Arzt und Psychotherapeut Alfred Adler (1870–1937) empfahl in diesem Zusammenhang eine radikale Aufgabentrennung. Jeder solle radikal die Verantwortung für seine Gefühle und sein Handeln übernehmen und dem anderen seine Verantwortung radikal überlassen.

Adler postulierte, dass alle Beziehungsprobleme sich lösen ließen, wenn man sich nicht in die Aufgaben des anderen einmischte und das auch nicht bei sich zuließe. Laut Adler gibt es drei Arten von Aufgaben, um die man sich zu kümmern habe: die Arbeit, die Freundschaft und die Liebe.

Wenden wir die radikale Aufgabentrennung mal auf das Beispiel von Mira und Jonas an: Mira müsste die Verantwortung für ihr Selbstwertgefühl übernehmen. Konkret würde das bedeuten, dass sie die Vergangenheit von der Gegenwart unterscheidet, so wie ich es in den obigen Abschnitten erklärt habe. Hierdurch könnte sie klar sehen, dass sie keine Verantwortung für Jonas’ wankelmütiges Verhalten trägt und dieses nichts über ihren persönlichen Wert aussagt. Dann könnte sie eine Entscheidung treffen, ob sie mit ihm zusammenbleiben oder sich trennen will. Jonas müsste ebenfalls seine Vergangenheit von der Gegenwart unterscheiden. In seinem Fall bedeutete dies, dass er das Bild von seiner überbehütenden Mutter nicht mehr auf Mira projiziert. Erst, wenn er Mira als den Menschen wahrnimmt, der sie wirklich ist, kann er sich frei entscheiden, ob er sich auf eine liebende Beziehung mit ihr einlassen möchte.

Am Beispiel von Jonas können wir erkennen, dass nicht nur die überangepassten Schattenkinder ihre Verantwortung nach außen delegieren, sondern auch die Autonomen: Wenn ich stur mein eigenes Ding mache, weil ich irgendwann einmal beschlossen habe, auf die Anerkennung meiner Mitmenschen zu pfeifen, dann mute ich diesen jene Verletzungen zu, die ich selbst abwehren möchte. Mit meinem Eigensinn, meiner Kompromisslosigkeit und meiner Verweigerung, echte Nähe zuzulassen, boykottiere ich meine Beziehungen und verhindere ein friedliches und konstruktives Miteinander.

Mit meinen Klientinnen und Klienten reflektiere ich deswegen immer, welcher Anteil einer schwierigen Beziehung in ihren Verantwortungsbereich fällt und welcher Anteil ihrem Interaktionspartner zufällt. Die folgenden Fragen spielen in den psychotherapeutischen Gesprächen eine Rolle.

1. Welchen Anteil hat die Klientin daran, dass die Beziehung schwierig ist?
• Verhält sie sich kompliziert/unaufrichtig?
• Fordert und erwartet sie zu viel?
• Investiert sie zu wenig Zeit und Aufmerksamkeit in die Beziehung?
• Warum hält sie an der Beziehung fest?

2. Welchen Anteil hat ihr Interaktionspartner daran, dass die Beziehung schwierig ist?
• Verhält er sich kompliziert/unaufrichtig?
• Fordert und erwartet er zu viel?
• Gibt er zu wenig Zeit, Zuwendung und Aufmerksamkeit?
• Warum hält er an der Beziehung fest?

Die Klientinnen und Klienten üben sich darin, die Verantwortung für ihren Anteil zu übernehmen und die Verantwortung abzugeben für jenen Anteil, der zu der anderen Person gehört. Nicht selten kommt es vor, dass der Konfliktpartner der Klientin einen sehr viel größeren Anteil an der schwierigen Beziehung hat als die Klientin selbst. Dann bearbeite ich mit ihr die Frage, warum sie an der schwierigen Beziehung festhält.

Eine hervorragende Übung, die ich sehr gern mit meinen Klientinnen und Klienten mache, um die Verantwortlichkeiten zu klären, möchte ich Ihnen im nächsten Abschnitt vorstellen.