Einleitung Ich heiße Patric Gagne, und ich bin eine Soziopathin. Ich bin leidenschaftlich gern Mutter und Ehefrau. Ich bin eine einnehmende Therapeutin. Ich bin unglaublich charmant und beliebt. Ich habe viele Freunde und Freundinnen. Ich bin Mitglied in einem Countryclub.
Einleitung
Ich heiße Patric Gagne, und ich bin eine Soziopathin. Ich bin leidenschaftlich gern Mutter und Ehefrau. Ich bin eine einnehmende Therapeutin. Ich bin unglaublich charmant und beliebt. Ich habe viele Freunde und Freundinnen. Ich bin Mitglied in einem Countryclub. Ich schmeiße zu jedwedem Anlass eine Party. Ich lebe in einem schönen Haus. Ich bin Schriftstellerin. Ich koche gern. Ich gehe wählen. Ich bringe Menschen zum Lachen.
Ich habe einen Hund und eine Katze, und ich stehe wartend neben anderen Frauen mit Hunden und Katzen in der Schlange für die Schulfahrgemeinschaften unserer Kinder.
Von außen betrachtet gleiche ich fast jeder anderen durchschnittlichen Amerikanerin. Meine Posts in den sozialen Medien bestätigen mein Dasein als glückliche Mutter und liebenswürdige Partnerin, sie grenzen an Narzissmus. Deine Freunde würden mich wohl als nett bezeichnen. Aber weißt du was?
Ich ertrage deine Freunde nicht.
Ich bin eine Lügnerin. Ich bin eine Diebin. Ich bin emotional oberflächlich. Ich bin fast unempfänglich für Reue und Schuldgefühle. Ich bin hochgradig manipulativ. Ich interessiere mich nicht dafür, was andere von mir denken. Ich interessiere mich nicht für Moral. Ich interessiere mich einfach nicht. Punkt.
Regeln beeinflussen meine Entscheidungen nicht. Ich bin zu fast allem fähig. Kommt dir das bekannt vor?
Da du dieses Buch in die Hand genommen hast, gehe ich stark davon aus. Auch du könntest dann ein Soziopath beziehungsweise eine Soziopathin sein. Oder du kennst eventuell einen Menschen, dessen Persönlichkeit sich auf dem soziopathischen Spektrum befinden könnte. Und da reden wir nicht mal von tatsächlich Kriminellen. Ärzte, Anwältinnen, Lehrer, Postbotinnen …
Soziopathen verstecken sich überall, und das vor aller Augen. Du musst nur nach ihnen Ausschau halten.
Ich habe schon früh Ausschau gehalten. Als Kind, als die anderen in meiner Nachbarschaft ihre Fahrräder fuhren und sich mit weiteren Kindern zum Spielen trafen, las ich Krimis. Vor allem True Crime. Mich faszinieren die menschlichen Abgründe.
Was bringt Menschen dazu, böse zu sein? Was befähigt sie dazu? Ich wollte das wissen. Als ich also über das Wort »Soziopath« stolperte, dachte ich, ich hätte meine Antwort gefunden. Ich hatte davon schon mal gehört. Was aber bedeutete es? Was ist denn ein Soziopath? Ich ging davon aus, dass mir das Wörterbuch dies erklären würde. Allerdings fand ich das Wort nicht in meiner abgenutzten, vergilbten Ausgabe, die 1980 bei Funk & Wagnalls erschienen war. Davon ausgehend, dass es ein Fehler sein musste, betrat ich das
Arbeitszimmer meiner Mutter und warf einen Blick in ein anderes Wörterbuch. Ihre Ausgabe war neuer. »Soziopath« musste da doch sicherlich drinstehen. Tat es aber nicht. Ich sah die Stelle, an der ich es hätte finden sollen – genau zwischen »Soziologie« und »Sozius« –, aber das Wort fehlte. Als würde es nicht existieren. Doch ich wusste es besser.
Ich hatte es schon in Büchern gelesen. Ich hatte es in den Nachrichten aufgeschnappt. Ich hatte es in der Schule gehört. Ich hatte es in meinem Tagebuch notiert. Ich wusste, dass es da draußen irgendwo eine Definition für das Wort »Soziopath« geben musste, ich musste sie nur finden.
Im Nachhinein ergibt das alles Sinn. Ich bin eine promovierte Psychologin, ich kann also nicht anders, als über die durchtriebene Genialität des Unterbewusstseins zu staunen, das uns zu bestimmten Themen hintreibt oder dafür sorgt, dass uns andere wiederum egal sind. Laut Freud gibt es keine Zufälle.
Allerdings muss man keine Doktorarbeit geschrieben haben, um zu wissen, warum ich dieses Feld für mich gewählt habe. Man muss Freud nicht verstehen, um die Verbindung zu sehen. Man muss nicht an das Schicksal glauben, um verstehen zu können,dass mich mein Weg niemals hätte woanders hinführen können.
Die Warnzeichen waren von Anfang an da. Ich wusste bereits im Alter von sieben Jahren, dass etwas anders war. Ich kümmerte mich nicht um das, was andere Kinder interessant fanden. Manche Gefühle – wie Freude und Wut – kamen ganz natürlich auf, wenn auch eher sporadisch. Die sozialen Gefühle – wie Schuld, Empathie, Reue oder sogar Liebe – jedoch nicht. Die meiste Zeit fühlte ich nichts. Also machte ich »schlechte« Sachen, um das Nichts zu vertreiben. Ich stand wie unter Zwang.
Wenn du mich damals gefragt hättest, hätte ich diesen Zwang wie einen Druck beschrieben, eine Art Spannung, die sich in meinem Kopf aufbaut. Er ist vergleichbar mit dem langsam hochsteigenden Quecksilber in alten Thermometern: erst fast unmerklich, wie ein kleines Echozeichen auf meinem sonst
friedlichen geistigen Radar. Mit der Zeit wurde er jedoch immer stärker. Und am schnellsten milderte ich den Druck ab, indem ich etwas unbestreitbar Falsches tat, etwas, das mit Sicherheit bei den anderen eine der Emotionen auslöste, die ich nicht fühlen konnte. Also machte ich das.
Als Kind wusste ich nicht, dass es auch andere Möglichkeiten gegeben hätte. Ich wusste nichts über Emotionen oder Psychologie. Wusste nicht, dass das menschliche Gehirn evolutionsbedingt auf Empathie ausgelegt ist oder dass der Stress, den ein Leben ohne natürlichen Zugriff auf die eigenen Gefühle mit sich bringt, vermutlich eine der Ursachen für zwanghafte Gewalttaten und destruktives Verhalten ist. Ich wusste nur, dass ich gern etwas tat, das mich etwas, irgendetwas fühlen ließ. Denn das war schließlich besser als nichts.
Als Erwachsene kann ich inzwischen erklären, warum ich mich so verhalten habe. Ich kann auf die Forschung verweisen, die die Beziehung zwischen Angst und Apathie untersucht hat und wie der mit inneren Konflikten verbundene Stress Soziopathinnen und Soziopathen anscheinend unterbewusst zu destruktiven Handlungen verleitet. Ich kann davon ausgehen, dass mein Druck höchstwahrscheinlich eine negative Reaktion auf meinen Mangel an Gefühlen war, dass mein Zwang, Grenzen zu überschreiten, wohl die Strategie meines Gehirns war, zu versuchen, so etwas wie »Normalität« herzustellen. Keine dieser Informationen waren aber leicht zu finden, sie mussten regelrecht gejagt werden. Ich jage noch immer.
»Soziopath« ist ein mysteriöses Wort, dessen Ursprung in jahrhundertealter Wissenschaft liegt, seither aber für alle möglichen Sünden zweckentfremdet wird. Es gibt nicht die eine Definition, zumindest nicht mehr. Das Wort – ähnlich wie die Menschen, die es bezeichnen soll – hat sich zu einer Art Paradox entwickelt. Das Wort »Soziopath« ist ein sich wandelndes Bestimmungswort, dessen Bedeutung oft durch Schmähungen und Groll zugewiesen wird, das aber auch weit mehr Emotionales als Rationales hervorruft. Woran liegt das?
Warum bringt das Wort »Soziopath« die Menschen eher dazu, etwas zu fühlen als darüber nachzudenken? Ironischerweise wollte ich das schon lange vor meiner Diagnose wissen. Also machte ich mich auf die Suche nach einer Antwort. In diesem Buch geht es um diese Mission, um eine Mission, über die ich schreiben musste, weil die gelebte Erfahrung mit der Soziopathie es verdient hat, dargestellt zu werden. Um eins jedoch auch vorweg klarzustellen: Ich möchte den Ernst dieser Störung keinesfalls kleinreden. Ebenso wenig möchte ich sie romantisieren. Die Soziopathie ist ein bedrohlicher Geisteszustand, dessen Symptome, Ursachen und Behandlungen der Forschung und der klinischen Aufmerksamkeit bedürfen. Das
ist aber auch genau der Grund, weshalb ich meine Geschichte mit der Welt teilen wollte: damit die Menschen, die von Soziopathie betroffen sind, die Hilfe bekommen, die sie schon viel zu lange benötigen. Und – als möglicherweise wichtigster Faktor – damit andere Soziopathen und Soziopathinnen sich vielleicht selbst in einer Person wiedererkennen, die mehr zu bieten hat als nur Finsternis.
Natürlich werden sich nicht alle in meinen Erfahrungen wiederfinden. Schließlich verdanke ich es reinem Glück, dass ich meine Geschichte erzählen kann. Ich verdanke es dem Glück, in eine Welt hineingeboren worden zu sein, in der ich jegliches Privileg genießen kann. Ich bin mir der Tatsache überaus bewusst, dass mein Leben wohl gänzlich anders verlaufen wäre, wenn meine Hautfarbe, mein gesellschaftlicher Status oder mein Geschlecht anders gewesen wären. Es war teilweise pures Glück, das mich auf den Weg brachte, die Rätsel meines Leidens zu erforschen und mir ein Leben aufzubauen, in dem ich erfreulicherweise anderen helfen kann. In der Tat verdanke ich es einfach Glück, dass dieses Buch existiert. Und es ist Glück, dass ich nun den Wert der Identifikationsmöglichkeit und Repräsentanz nachempfinden kann.
Die meisten Soziopathen sind nicht wie die Figuren in Filmen. Sie ähneln nicht den Serienmördern in Killing Eve oder Dexter oder den eindimensionalen Antagonisten in vielen Kriminalromanen. Sie sind komplexer als die fiktionalen Beispiele aus Der Soziopath von nebenan. Für ihre Diagnose bedarf es mehr als die zwanzig
Fragen in »Sind Sie ein Soziopath?«-Tests in Hochglanzmagazinen, genauso wie YouTube-Tutorials über
Soziopathen nicht ausreichen, um sie zu verstehen.
Du denkst, du kennst einen Soziopathen oder eine Soziopathin? Ich wette, damit hast du recht. Ich wette aber auch, dass es definitiv nicht die Person ist, von der du es denkst. Entgegen der landläufigen Meinung sind Soziopathen mehr, als ihre reinen Persönlichkeitsmerkmale vermuten lassen. Sie sind Kinder, die
Verständnis brauchen. Sie sind Patienten und Patientinnen, die sich eine Bestätigung erhoffen. Sie sind Eltern, die nach Antworten suchen. Sie sind menschliche Wesen, die Mitgefühl brauchen. Allerdings lässt sie das System im Stich: Schulen erkennen sie nicht, Experten behandeln sie nicht. Sie haben wortwörtlich keinen Ort, an den sie sich Hilfe suchend wenden können.
Repräsentanz ist wichtig. Ich biete hier meine Geschichte an, weil sie die Wahrheit aufzeigt, die sich niemand eingestehen möchte: dass die Finsternis dort ist, wo man sie am wenigsten vermutet. Ich bin eine Kriminelle ohne Vorstrafen. Ich bin eine Meisterin des Verstellens. Ich wurde noch nie erwischt. Ich habe
selten bereut. Ich bin freundlich. Ich bin verantwortungsbewusst. Ich bin unsichtbar. Ich passe mich wunderbar an. Ich bin eine Soziopathin des 21. Jahrhunderts. Und ich habe dieses Buch in dem Wissen geschrieben, dass ich nicht allein bin.
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