Ehrliches Mädchen Ich heiße Patric Gagne, und ich bin eine Soziopathin. Ich bin leidenschaftlich gern Mutter und Ehefrau. Ich bin eine einnehmende Therapeutin. Ich bin unglaublich charmant und beliebt. Ich habe viele Freunde und Freundinnen. Ich bin Mitglied in einem Countryclub.

Ehrliches Mädchen

Jedes Mal, wenn ich meine Mutter frage, ob sie sich noch daran erinnern kann, wie ich mal in der zweiten Klasse einem Kind einen Bleistift in den Kopf gerammt habe, bekomme ich dieselbe Antwort: »Dunkel.«


Und das glaube ich ihr auch. Denn so viel aus meiner frühen Kindheit liegt im Dunkeln. An manches kann ich mich noch mit absoluter Klarheit erinnern, an den Geruch der Bäume im Redwood-Nationalpark und an unser Haus auf dem Hügel in der Nähe des Stadtzentrums von San Francisco. Oh Mann, wie habe ich dieses Haus geliebt! Ich kann mich noch an die dreiundvierzig Stufen erinnern, die aus dem Erdgeschoss in mein Zimmer im fünften Stock führten, und an die Stühle im Esszimmer, auf die ich immer kletterte, um die Steine aus dem Kristallleuchter zu klauen. Anderes wiederum ist weniger klar. Wie der Tag, als ich mich das erste Mal ins Haus unserer Nachbarn stahl, als sie nicht da waren. Oder woher ich das Medaillon mit dem gravierten »L« habe.


In dem Medaillon befinden sich zwei Schwarz-Weiß-Fotos, bei denen ich mir nie die Mühe gemacht habe, sie zu entfernen, und manchmal kann ich nicht umhin, sie anzustarren. Wer waren diese Leute? Wo kamen sie her? Ich wünschte, ich wüsste es. Es ist gut möglich, dass ich das Medaillon auf der Straße gefunden habe, es ist aber wahrscheinlicher, dass ich es geklaut habe.


Ich fing mit dem Klauen noch vor dem Sprechen an. Oder glaube das zumindest. Ich kann mich nicht an das erste Mal erinnern, nur daran, dass ich im Alter von sechs oder sieben Jahren bereits eine ganze Kiste voller geklauter Gegenstände in meinem Schrank hatte.


Irgendwo in den Archiven des People-Magazins gibt es ein Foto von Ringo Starr und mir als Knirps auf seinen Armen. Wir stehen in seinem Garten – nicht allzu weit von meinem Geburtsort in Los Angeles entfernt, wo wiederum mein Vater als Manager in der Musikbranche arbeitete – und ich stehle Ringo wortwörtlich die Brille von der Nase. Klar, ich war sicherlich nicht das erste Kind, das mit der Brille eines Erwachsenen spielen wollte, aber wenn ich so auf die Brille dort in meinem Bücherregal hinüberschaue, bin ich mir doch ziemlich sicher, dass ich das einzige Kind war, das einem Beatle eine Brille stibitzt hat.


Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich war keine Kleptomanin. Kleptomanen sind Menschen mit einem anhaltenden und unwiderstehlichen Drang, Gegenstände an sich zu nehmen, die ihnen nicht gehören. Ich litt unter einer anderen Art Druck, einem Zwang, geboren aus dem Unbehagen der Apathie, der fast unbeschreiblichen Abwesenheit der üblichen sozialen Emotionen wie Scham und Empathie. Natürlich verstand ich damals nichts von alledem. Ich wusste nur, dass ich nicht so wie andere Kinder fühlte. Ich hatte kein schlechtes Gewissen, wenn ich log. Ich hatte kein Mitgefühl, wenn sich meine Klassenkameraden auf dem Spielplatz wehtaten. Ich fühlte die meiste Zeit einfach gar nichts. Und ich mochte dieses Gefühl des »Nichts« nicht. Also machte ich Sachen, die dieses Nichts durch ein … Etwas ersetzten.


Als Erstes überkam mich eine Anwandlung, dieses Nichts zu beenden, ein unerbittlicher Druck, der sich so sehr ausweitete, dass er mich vollständig erfüllte. Je länger ich ihn ignorierte, desto schlimmer wurde er. Meine Muskeln spannten sich an, mein Magen verkrampfte sich. Immer stärker. Und stärker. Es war beengend, als wäre ich in meinem Gehirn eingesperrt. In einer Leere eingesperrt.


Meine bewussten Reaktionen auf die Apathie fingen banal an. Jemanden zu beklauen, war nicht etwas, was ich tun wollte, es war nur der einfachste Weg, um den Druck zu lösen. Diese Verbindung stellte ich das erste Mal in der ersten Klasse fest, wo ich hinter einem Mädchen namens Clancy saß. Der Druck hatte sich tagelang aufgebaut. Ohne zu wissen, warum, wurde ich von Frustration überwältigt und hatte das Bedürfnis, etwas Brutales zu tun. Ich wollte aufstehen und meinen Tisch umschmeißen. Ich stellte mir vor, ich würde zu der schweren Stahltür laufen, die uns vom Spielplatz trennte, und meine Finger darin einquetschen. Kurz dachte ich, ich würde es wirklich tun. Dann aber sah ich Clancys Haarspange. Sie hatte zwei davon im Haar, rechts und links je eine pinke Schleife. Letztere war nach unten gerutscht. Nimm sie, befahlen mir meine Gedanken plötzlich. Dann geht es dir besser. Die Idee kam mir seltsam vor. Clancy war meine Mitschülerin. Ich mochte sie und wollte sie ganz sicher nicht bestehlen. Allerdings wollte ich auch das Pulsieren in meinem Kopf unterbrechen und ein Teil von mir wusste, dass es helfen würde. Also streckte ich vorsichtig meine Hand nach der Spange aus und klipste sie auf.


Die pinke Schleife hatte fast keinen Halt und sie wäre auch ohne meine Hilfe wahrscheinlich demnächst runtergefallen. Tat sie aber nun mal nicht. Ich fühlte mich mit der Schleife in der Hand besser, als hätte man etwas Luft aus einem übermäßig aufgeblasenen Ballon gelassen. Der Druck hatte sich verflüchtigt. Ich wusste nicht, warum, aber es war mir auch egal. Ich hatte eine Lösung gefunden – was für eine Erleichterung!


Diese frühen Akte der Verhaltensstörung haben sich wie GPS-Koordinaten in mein Bewusstsein gegraben. Selbst heute noch kann ich mich genau daran erinnern, wo ich die meisten Gegenstände aus meiner Kindheit herhabe, die mir nicht gehörten. Nur das Medaillon mit dem eingravierten »L« kann ich nicht erklären. Es will mir ums Verrecken nicht einfallen, woher ich es habe. Ich erinnere mich jedoch noch genau an den Tag, als meine Mutter es in meinem Zimmer fand und wissen wollte, warum ich es hatte.


»Patric, du musst mir unbedingt sagen, wo du das herhast«, verlangte sie von mir. Wir standen neben meinem Bett. Eins meiner Dekokissen lehnte schief gegen das Kopfende und ich konnte an nichts anderes denken, als daran, es geradezurücken. Aber meine Mutter ließ nicht locker. »Sieh mich an«, verlangte sie von mir und umfasste meine Schultern. »Da draußen läuft irgendwo jemand herum und vermisst dieses Medaillon. Er vermisst es jetzt gerade und ist traurig, dass es verschwunden ist. Stell dir doch mal vor, wie traurig diese Person jetzt sein muss.« Ich schloss die Augen und versuchte, mir auszumalen, wie sich diese das Medaillon vermissende Person fühlen musste. Aber ich schaffte es nicht. Ich fühlte nichts. Als ich die Augen wieder öffnete und Blickkontakt mit meiner Mutter aufnahm, wusste ich, dass sie es wusste.


»Süße, hör mir zu«, sagte sie und kniete sich vor mich. »Wenn du dir etwas nimmst, das dir nicht gehört, dann ist das Diebstahl. Und stehlen ist sehr, sehr schlimm.« Und wieder, nichts. Mom hielt inne, unsicher, was sie als Nächstes tun sollte. Sie atmete tief durch und fragte: »Hast du so was schon mal
gemacht?«


Ich nickte, deutete auf meinen Wandschrank. Ich zeigte ihr mein Versteck voller verbotener Ware und wir gingen zusammen den Inhalt der Kiste durch. Ich erklärte alle Teile und wo sie hergekommen waren. Als die Kiste leer war, stand sie auf und sagte, wir würden jedes einzelne Teil wieder zu seinem
rechtmäßigen Besitzer bringen. Das war mir recht. Ich hatte keine Angst vor Konsequenzen und spürte auch keine Reue – zwei Punkte, bei denen ich bereits begriffen hatte, dass sie nicht »normal« waren. Wenn wir die Teile wieder zurückbrachten, war das sogar gut für mich, denn die Kiste war voll. Wenn wir sie jetzt also wieder leerten, würde ich wieder Raum für Teile haben, die ich noch nicht gestohlen hatte.


Nachdem wir uns alles angeschaut hatten, fragte mich Mom: »Warum hast du das alles geklaut?« Ich musste an den Druck in meinem Kopf denken und an dieses Gefühl, das mich manchmal dazu verleitete, schlechte Sachen zu machen. »Ich weiß es nicht«, erwiderte ich. Das stimmte. Ich hatte keine Ahnung, was diese Empfindung in mir auslöste. »Na gut … Tut es dir leid?«, fragte sie dann. »Ja«, antwortete ich. Was auch wieder stimmte. Es tat mir leid, aber eher, weil ich stehlen musste, um die Gewaltfantasien zu beenden, und nicht, weil ich jemanden verletzt hatte. Mom schien mit der Sache abzuschließen. »Ich liebe dich sehr, Süße«, sagte sie zu mir. »Ich weiß nicht, warum du all diese Sachen geklaut hast, aber versprich mir, dass du es mir sagst, wenn du es wieder tun möchtest.«


Ich nickte. Meine Mom war die Beste. Ich liebte sie so sehr, dass mir dieses Versprechen leichtfiel. Zumindest am Anfang. Wir haben die Besitzerin des Medaillons nie gefunden, aber ich wurde mit der Zeit immer besser darin, mir vorzustellen, wie sich die Person gefühlt haben musste, als sie den Verlust bemerkt hatte. Das dürfte dem recht nahekommen, wie ich mich fühlen würde, wenn es jetzt mir jemand wegnähme. So ganz sicher kann ich mir jedoch nicht sein.


Empathie – wie auch Reue – liegt mir nicht. Ich bin baptistisch aufgewachsen, ich wusste also, dass ich mich schlecht fühlen sollte, wenn ich sündigte. Meine Lehrer sprachen über die »Systeme der Schuld« und etwas namens »Scham«, ich verstand jedoch nie, warum all das wichtig sein sollten. Auf intellektueller Ebene verstand ich es, aber ich fühlte es nie.


Es dürfte nicht schwer vorzustellen sein, dass mein Unvermögen, die wichtigsten emotionalen Fähigkeiten zu beherrschen, es mir erschwerte, Freunde zu finden und auch zu behalten. Das soll nicht heißen, dass ich gemein war oder so. Ich war einfach nur anders. Und die anderen wussten meine einzigartigen Eigenschaften nicht immer zu schätzen.


Es war Frühherbst und ich war gerade sieben Jahre alt geworden. Ich war – wie alle anderen Mädchen in meiner Klasse – zu einer Pyjamaparty einer Freundin namens Collette eingeladen worden. Sie wohnte ein paar Häuser weiter. Ich trug meinen pink-gelben Lieblingsrock, als ich bei ihr ankam. Es war ihr Geburtstag, und ich wollte ihr Geschenk unbedingt selbst zur Tür tragen: ein Barbie-Cabrio, eingepackt in bunt schillerndem Papier. Mom gab mir eine feste Umarmung, bevor ich aus dem Auto stieg. Es machte sie nervös, dass ich meine erste Nacht allein woanders verbringen würde. »Ach, hab keine Angst«, sagte sie zu mir, während sie mir meinen Rucksack und meinen Holly-Hobbie- Schlafsack reichte. »Du kannst jederzeit nach Hause kommen.« Ich hatte aber gar keine Angst, sondern war freudig erregt. Eine ganze Nacht in einem anderen Haus! Ich konnte es kaum erwarten, dass es endlich losging. Die Party machte Spaß. Wir schlugen uns den Bauch mit Pizza, Kuchen und Eis voll, bevor wir uns umzogen. Wir tanzten im Wohnzimmer und spielten im Garten. Um die Schlafenszeit herum verkündete Collettes Mutter dann die »Ruhezeit«. Sie machte einen Film im Wohnzimmer an und wir legten uns im Kreis in unseren Schlafsäcken auf den Boden. Dann schliefen die Mädchen nacheinander ein.


Nach dem Film war ich als Einzige noch wach. Dort, im Dunkeln, war ich mir erneut akut meiner fehlenden Gefühle bewusst. Ich betrachtete meine bewegungslosen Freundinnen. Es hatte etwas
Verstörendes, wie sie da mit geschlossenen Augen lagen. Ich nahm meine steigende Anspannung als Reaktion auf meine Leere wahr und verspürte das Bedürfnis, das Mädchen neben mir so hart wie möglich zu schlagen.


Das ist schräg, dachte ich. Ich wollte ihr nicht wehtun, gleichzeitig wusste ich aber, dass es mich entspannen würde. Ich schüttelte den Kopf, um die Versuchung loszuwerden, und wand mich aus meinem Schlafsack, um von ihr wegzukommen. Dann stand ich auf und stromerte durchs Haus.


Collette hatte einen kleinen Bruder, ein Baby namens Jacob. Sein Kinderzimmer befand sich im zweiten Stock und hatte einen Balkon mit Blick auf die Straße. Ich stieg leise die Stufen hinauf
und öffnete die Tür. Er schlief, und ich starrte ihn an. Er sah so winzig aus in seinem Gitterbett, viel kleiner als meine kleine Schwester. Eine Decke lag zusammengeknüllt in einer Ecke. Ich hob sie hoch und legte sie ihm über seinen kleinen Körper. Dann wandte ich mich den Balkontüren zu.


Der Riegel klickte leise, als ich die Türen öffnete, und ich trat in die Dunkelheit hinaus. Von dort konnte ich einen Großteil der Stadt sehen. Ich stellte mich auf Zehenspitzen und lehnte mich nach vorn, um die Straße entlangschauen zu können, bis zur Kreuzung einen Block weiter. Ich erkannte den Namen der Straße und wusste, sie lag eine neben meiner. Es dürften nur ein paar Minuten Fußweg nach Hause sein.


Auf einmal wusste ich, dass ich nicht mehr hier sein wollte. Ich mochte es nicht, als Einzige wach zu sein, und ich mochte es wirklich nicht, so ungehindert unterwegs zu sein. Zu Hause hatte ich wenigstens noch Mom, die dafür sorgte, dass ich mich benahm. Aber hier? Wer würde mich abhalten? Und von was? Ich fühlte mich unbehaglich.


Es war dunkel, als ich das Haus verließ, und ich liebte es. Ich fühlte mich unsichtbar und der Druck, den ich bis eben noch gespürt hatte, löste sich in Luft auf. Ich begab mich auf den Bürgersteig, lief nach Hause und betrachtete die Nachbarhäuser auf dem Weg. Wie waren wohl die Menschen, die darin wohnten? Was machten sie? Ich wünschte, ich könnte es herausfinden. Ich wünschte, ich wäre unsichtbar und könnte sie den ganzen Tag beobachten.


Es war kühl und Nebel waberte durch die Straßen, während ich nach Hause lief. »Geisterwetter« nannte Mom das gern. An der Kreuzung zog ich meinen Schlafsack aus meinem Rucksack und
wickelte ihn mir wie einen riesigen Schal um. Der Weg zog sich mehr, als ich gedacht hatte, aber es störte mich nicht. Ich warf einen Blick über die Straße und entdeckte ein Haus mit einem offenen Garagentor. Was ist da wohl drin?, fragte ich mich. Bis mir auffiel: Ich kann es herausfinden. Ich staunte über die Veränderung der Atmosphäre, sobald ich den Bürgersteig verlassen hatte. Die Regeln, so wirkte es zumindest, waren, zusammen mit dem Tageslicht, verschwunden.


Es gab in der Dunkelheit, während alle anderen schliefen, keine Einschränkungen. Ich könnte alles tun. Ich könnte überall hingehen. Bei Collette zu Hause hatte sich dieser Gedanke komisch angefühlt, aber hier rief diese Welt der Möglichkeiten den gegenteiligen Effekt in mir hervor. Ich fühlte mich mächtig,
als hätte ich alles in der Hand. Ich fragte mich, woher dieser Unterschied kam. Das Mondlicht leuchtete mir den Weg zu der offenen Garage. Drinnen schaute ich mich in Ruhe um. Ein beiger Kombi war auf der einen Seite darin geparkt, was noch genügend Raum für eine große Auswahl an Spielzeug und anderen Kram ließ. Im Haus müssen Kinder leben, dachte ich. Ich stieß mit meinem Knöchel gegen ein Skateboard, es fühlte sich an wie Sandpapier. Ich widerstand dem Bedürfnis, es an mich zu nehmen, und lief stattdessen in Richtung Auto, wo ich die hintere Seitentür öffnete. Die sanfte Innenbeleuchtung erhellte die Garage, also sprang ich hinein und zog die Tür hinter mir zu. Ich hielt inne und wartete darauf, dass etwas passieren würde. Die Stille im Auto war ohrenbetäubend, aber ich mochte sie. Ich musste an den Film Superman denken, in dem Christopher Reeve die Festung der Einsamkeit besucht. »Das hier ist wie meine eigene Kammer«, flüsterte ich. Ich stellte mir vor, wie ich mit jeder weiteren Sekunde stärker werden würde.


Draußen zog eine Bewegung meine Aufmerksamkeit auf sich und ich sah ein Auto vorbeifahren. Es war eine dunkle Familienkutsche und ich kniff beim Hinschauen die Augen zusammen. »Was machst du denn hier?« Ich legte für mich fest, dass das Auto nun mein Feind sein würde.


Schnell öffnete ich die Tür und schlich mich nach draußen, gerade rechtzeitig, um das Auto um die Ecke fahren zu sehen. General Zod, dachte ich herausfordernd. Dann rannte ich wieder über die Straße, dorthin, wo ich meine Sachen gelassen hatte. Als ich mich bückte, um sie einzusammeln, stieg mir der bekannte Geruch unseres Waschmittels in die Nase, und ich entschied, dass es an der Zeit war, nach Hause zu gehen. Ich lief den Bürgersteig möglichst nah an den Bäumen entlang. Ich lief immer schneller, hopste beseelt von einem Schatten zum anderen. Wie können Menschen nur Angst vor der Nacht haben?, rätselte ich glücklich beim Laufen vor mich hin. Das ist der beste Teil des Tages. Am Fuß des Hügels, auf dem unser Haus stand, war ich hundemüde. Ich machte mich an den steilen Anstieg, meinen Rucksack wie einen Schlitten hinter mir herziehend. Die Seitentür war offen, sodass ich das Haus betreten konnte, ohne anklopfen zu müssen. Ich lief leise die Stufen zu meinem Zimmer nach oben, um möglichst meine Eltern nicht zu wecken. Doch nur wenige Augenblicke, nachdem ich in mein Bett gekrochen war, platzte meine Mutter ins Zimmer.


»PATRIC!«, schrie sie, während sie auf den Lichtschalter schlug. »WAS MACHST DU HIER?!« Ihre Reaktion erschreckte mich, und ich fing an zu weinen. Ich hoffte, sie würde mich verstehen, wenn ich ihr alles erklärte, aber das schien es nur noch schlimmer zu machen. Sie weinte nun auch, mit vor Angst weit aufgerissenen Augen, aus denen die Tränen über ihre Wangen liefen.


»Süße«, sagte sie irgendwann und zog mich fest an sich. »Du darfst so etwas nie, nie wieder tun. Was wäre gewesen, wenn dir etwas passiert wäre? Was, wenn du nicht nach Hause gekommen wärst?« Ich nickte zustimmend mit dem Kopf, auch wenn mich keine dieser Sorgen wirklich beunruhigten. Im Gegenteil, ich war eher verwirrt. Mom hatte doch gesagt, dass ich jederzeit nach Hause kommen könnte. Warum war sie jetzt so aufgebracht deswegen? »Weil ich damit gemeint hatte, ich würde dich jederzeit holen kommen«, erklärte sie mir. »Versprich mir, dass du so etwas nie wieder machst.«


Ich versprach es ihr, würde es aber jahrelang nicht beweisen können. Eltern, wie ich schnell feststellen musste, sahen es nicht gern, wenn die Spielkameradinnen, die zu einer Pyjamaparty eingeladen sind, nachts unruhig werden und sich dazu entschließen, allein nach Hause zu laufen. Collettes Mom war
nicht gerade erfreut über das, was ich gemacht hatte, und versteckte ihre Missbilligung kein bisschen. Nachdem sie den anderen Eltern davon erzählte hatte, dass ich mich heimlich vom Acker gemacht hatte, wurde ich nirgends mehr eingeladen. Jedoch waren nicht nur die Eltern mir gegenüber misstrauisch geworden, auch die Kinder hatten das Gefühl, dass ich anders war als sie.


»Du bist schräg«, sagte Ava. Das ist eine meiner wenigen Erinnerungen an die erste Klasse. Ein kindergroßes Puppenhaus stand in der einen Ecke des Raumes und ein paar von uns spielten »Vater-Mutter-Kind«. Ava war eine meiner Klassenkameradinnen. Sie war freundlich und schön, alle mochten sie. Das war einer der vielen Gründe, weshalb sie immer ganz selbstverständlich die Mutter war, wenn wir Vater-Mutter-Kind spielten. Ich zog jedoch eine andere Rolle vor. »Ich will der Butler sein«, verkündete ich. Ava schaute mich verwirrt an.


Butler, das hatte ich zumindest durchs Fernsehen mitbekommen, hatten den besten Job der Welt. Sie konnten ohne Erklärung für längere Zeit von der Bildfläche verschwinden. Sie hatten einen uneingeschränkten Zugang zu den Jacken und Taschen anderer. Niemand hinterfragte je ihre Handlungen. Sie konnten jedes Zimmer betreten, ohne mit jemandem sprechen zu müssen. Sie konnten andere belauschen. Das war der perfekte Beruf – zumindest für mich. Meine Erklärung fand aber nicht bei allen Anklang.


»Warum bist du so schräg?«, fragte Ava. Sie wollte damit keineswegs gemein sein. Es war vielmehr eine faktische Aussage, eine Frage, bei der ich wusste, dass ich sie nicht wirklich beantworten musste. Als ich ihr jedoch in die Augen sah, fiel mir bei ihr ein Gesichtsausdruck auf, der mir neu war. Ein ganz besonderer Ausdruck – aus gleichen Teilen Verwirrung, Gewissheit und Angst. Damit war sie nicht allein. Die anderen Kinder starrten mich mit dem gleichen Ausdruck im Gesicht an. Es machte mich argwöhnisch. Als könnten sie etwas von mir sehen, das ich wiederum nicht sehen konnte. Begierig, das Thema zu wechseln, lächelte ich und verbeugte mich. »Verzeihung, gnädige Frau«, sagte ich in einer möglichst butlerähnlichen Stimme. »Wenn ich Ihnen schräg erscheine, so mag das nur daran liegen, dass jemand den Koch ermordet hat!« Das war eine Ablenkungstaktik, die ich bereits perfektioniert
hatte: Schock mit einer Prise Humor. Alle mussten lachen und schrien auf, als das Spiel nun eine aufregende – wenn auch schaurige – Stimmung annahm, und meine »Schrägheit« war für den Moment vergessen. Ich wusste aber, dass dies nur eine Zeit lang als Lösung funktionieren würde.


Abgesehen von meinem Faible für Diebstahl und Unsichtbarkeit gab es noch etwas an mir, was anderen Kindern unangenehm war. Ich wusste das. Sie wussten das. Und auch wenn wir friedlich als Klassenkameraden koexistieren konnten, so wurde ich doch selten in die Aktivitäten nach der Schule eingebunden. Was mich nicht störte – ich war äußerst gern allein. Jedoch machte sich meine Mutter nach einer Weile Sorgen um mich. »Ich mag es nicht, dass du so viel allein bist«, sagte sie zu mir. Es war ein Samstagnachmittag und sie war nach oben gekommen, um mal nach mir zu schauen, weil ich mein Zimmer seit mehreren Stunden nicht mehr verlassen hatte.


»Das ist schon in Ordnung, Mom«, erwiderte ich. »Ich mag das.« Mom runzelte die Stirn, setzte sich auf mein Bett und zog dabei gedankenverloren einen Plüschwaschbären zu sich auf den Schoß. »Ich glaube einfach, dass es dir guttäte, mal Freundinnen zu Besuch zu haben.« Sie hielt inne. »Möchtest du jemanden aus der Schule einladen? Wie wäre es mit Ava?«


Schulterzuckend schaute ich aus dem Fenster. Ich hatte gerade versucht, zu ermitteln, wie viele Bettlaken es bräuchte, um von meinem Zimmer im obersten Stockwerk bis zum Boden draußen zu gelangen. Ich hatte ein paar Tage zuvor eine sogenannte »Notleiter« im Sears-Katalog gesehen und hatte mich auf die Idee versteift, mir so etwas zu bauen. Ich wusste zwar nicht genau, was ich damit anstellen wollen würde, aber ich wusste einfach, dass ich eine bräuchte. Allerdings lenkte mich Mom jetzt von meinem Vorhaben ab.


»Ich weiß es nicht«, sagte ich. »Klar, Ava ist nett. Vielleicht können wir sie nächsten Monat mal einladen?« Mom warf den Waschbären zur Seite und stand auf. »Na gut, aber wir haben die Goodmans heute zum Abendessen zu Besuch«, verkündete sie gut gelaunt. »Also spielst du nachher wohl eh einfach mit deren Mädchen.«


Die Goodmans lebten um die Ecke und waren lose Freunde meiner Eltern. Ihre zwei Töchter verbreiteten Angst und Schrecken in der Nachbarschaft, und ich hasste sie. Sydney war eine Mobberin und Tina eine Idiotin. Sie handelten sich andauernd Ärger ein, meist weil Syd ihn herausgefordert hatte.
Mich machte ihr Verhalten wütend. Zugegeben, ich war nicht in der Position, sie dafür zu verurteilen, aber damals rechtfertigte ich meine ihnen gegenüber empfundene Ablehnung damit, dass es, so meine Meinung, immer auf die Absicht ankam. Auch wenn meine Handlungen ebenfalls manchmal fragwürdig waren, so brach ich doch keine Regeln, weil ich das toll fand, sondern benahm mich schlecht, weil ich keine andere Wahl hatte. Es war ein Mittel zum Selbstschutz, um mich, und auch andere, vor noch Schlimmerem zu bewahren. Die Goodman-Mädchen wiederum  wollten Aufmerksamkeit erregen, waren rücksichtslos und gemein. Die schlechten Dinge, die sie gern machten, dienten
keinem besonderen Ziel außer reiner Grausamkeit.


Meine Schwester Harlowe war vier Jahre jünger als ich und immer noch ein Knirps. Wir teilten uns das oberste Stockwerk mit unserer Nanny, einer wunderbaren Salvadorianerin namens Lee. Nanny Lee wohnte im Zimmer neben meinem. Während der Besuche der Goodmans war sie meist damit beschäftigt, Harlowe ins Bett zu bringen, und es verging kaum einer dieser Besuche, ohne dass Syd nicht versuchte, den beiden etwas Abscheuliches anzutun. »Komm, wir schleichen uns in Lees Zimmer und schütten Wasser über ihr Bett!«, zischte mir Syd im Laufe des Abends in meinem Zimmer zu. Ich war genervt. »Das ist eine dumme Idee«, erwiderte ich. »Sie wird wissen, dass wir das waren, und was dann? Was hast du davon? Sie wird es unseren Eltern erzählen, und dann wirst du nach Hause gehen müssen.«


Die Haarspange, die ich Clancy geklaut hatte, hielt einen meiner Zöpfe zusammen. Ich spielte an ihr herum, während mir dämmerte: Vielleicht ist das mit dem Wasser doch gar keine so schlechte Idee. Syd hatte die Tür einen Spalt weit geöffnet und spähte hinaus. »Na ja, es ist eh zu spät dafür, sie ist bereits in ihrem Zimmer. Sie muss Harlowe bereits zum Einschlafen gebracht haben.« Sie wirbelte zu mir herum. »Lass sie uns aufwecken!« Tina schaute von ihrem Magazin hoch und schnaubte voller Zustimmung. Ich war perplex. »Warum?« »Weil Lee sie dann wieder ins Bett bringen muss! Und immer, wenn sie das geschafft hat, wecken wir Harlowe wieder auf. Immer und immer wieder! Das wird so ein Spaß!«


Ich fand nicht, dass es nach wahnsinnig viel Spaß klang. Vor allem weil niemand meiner Schwester blöd kommen durfte. Ich wusste zwar nicht mit Sicherheit, wie weit es vom fünften in den vierten Stock war, aber ich war bereit, Syd und ihre Schwester notfalls »aus Versehen« die Treppe runterzuschubsen, um meine Schwester vor ihnen zu schützen. Und ich wollte auch nicht, dass Nanny Lee wieder aus ihrem Zimmer rauskommen musste. Ich wusste, dass sie, sobald meine Schwester schlief, immer stundenlang mit ihrer Familie telefonierte. Was wiederum hieß, dass ich ungestört stundenlang Blondie hören konnte.


Zu dieser Zeit war ich ein wenig fixiert auf Debbie Harry. Ich war fasziniert von allem, was mit Blondie zu tun hatte, vor allem Parallel Lines. Debbie Harry ist auf dem Cover in einem weißen Kleid abgebildet, mit einem ungestümen Gesichtsausdruck hat sie die Hände in die Hüften gestemmt. Ich liebte dieses Bild und wollte genau wie sie aussehen. Und zwar so sehr, dass man in den Fotoalben meiner Mutter aus ungefähr einem Jahr Fotos von mir finden kann, auf denen ich versuche, diese ikonische Haltung nachzustellen.


Debbie Harry lächelte nicht auf ihrem Albumcover, also entschied ich, es auch nicht mehr zu tun – für nichts und niemanden. Leider entschied wiederum meine Mutter nach einem desaströsen Tag mit dem Schulfotografen, im Laufe dessen ich sein Stativ weggetreten hatte, dass Debbie Harry ein »schlechter Einfluss« für mich war und entsorgte alle meine Blondie-Alben. Dass ich sie wieder aus der Tonne herausgeklaubt hatte, um sie mir nachts anzuhören, war Nanny Lee noch nicht aufgefallen. Ich entschied mich für einen Taktikwechsel und schlug vor: »Wie wär’s, wollen wir uns in den Garten schleichen und unsere Eltern durch die Fenster ausspionieren?« Ich sah Syd an, dass sie das irritierte. Mein Plan beinhaltete keinerlei Folter einer Person und war daher im Vergleich zu ihrem eintönig. Dennoch war der Gedanke, bei unseren Eltern zu lauschen, dann doch auch für sie zu interessant, um es nicht zu tun. Tina wirkte auch recht angetan.


Nach einigen Verhandlungen stimmte Syd zu. Wir öffneten leise die Zimmertür und schlichen uns nacheinander an Nanny Lees Zimmer vorbei. Irgendwann hatten wir es bis ganz nach unten zum Waschraum geschafft, wo ich die Tür nach draußen öffnete. Die kalifornische Luft fühlte sich kühl an und roch süßlich. »Okay«, sagte ich zu ihnen. »Ihr geht da lang und ich komme auf der anderen Seite ums Haus und wir treffen uns hinten auf der Terrasse.« Sie wirkten nervös. Der Garten war nicht nur in tiefe Dunkelheit getaucht, sondern letztlich auch nicht existent, da der Großteil des Hauses dreißig Meter hoch auf Holzstelzen den steilen Hügel entlang gebaut war. Nur ein falscher Schritt und
man fiel den gesamten Weg nach unten hinab. »Ihr habt doch nicht etwa Angst?« Ich setzte meinen betroffendsten Gesichtsausdruck auf.Tina reagiert zuerst. »Besorg mir ’ne Cola«, sagte sie zu mir und verschwand entlang der Hauswand in die Nacht, mit einer widerwilligen Syd im Schlepptau.


Sobald sie nicht mehr zu sehen waren, ging ich zurück ins Haus und schloss die Tür hinter mir ab. Dann schlich ich mich nach oben in mein Zimmer, schaltete das Licht aus, ging ins Bett und machte meinen Plattenspieler an. Ich war entspannt und ziemlich zufrieden mit mir selbst. Ich wusste, ich sollte mich jetzt schlecht fühlen, tat es aber nicht. Schließlich konnte ich nun ungestört Blondie zuhören.


Fast eine Stunde später sah ich Moms Schatten auf der Wand entlang der Treppe im Flur. Ich warf meine Kopfhörer auf den Boden und schaffte es gerade noch, die Musik auszumachen, bevor sie mein Zimmer betrat. »Patric«, fragte sie mich, »hast du Syd und Tina ausgesperrt?« »Ja«, antwortete ich ehrlich. Ich sah Mom an, dass sie nicht wusste, wie sie darauf reagieren sollte.


»Na ja, die Goodmans sind jetzt ziemlich bestürzt«, sagte sie schließlich, als sie sich zu mir aufs Bett setzte. »Die zwei haben sich im Dunkeln verlaufen und wussten nicht, wie sie wieder reinkommen könnten. Sie hätten sich wehtun können, Liebes.« Sie hielt inne und fügte dann hinzu: »Ich glaube sogar, dass sie nicht noch mal zu Besuch kommen wollen.« »Großartig!«, erwiderte ich begeistert. »Tina geht immer in meiner Wanne baden, macht dabei aber das Licht aus, was verrückt ist, und Syd schmuggelt immer Essen nach oben und kleckert dann alles voll. Die sind beide einfach super nervig!« Meine Mutter schüttelte den Kopf und stieß einen Seufzer aus. »Danke, Süße, dass du mir die Wahrheit gesagt hast.« Sie gab mir einen Kuss auf den Kopf. »Aber du hast dennoch jetzt Hausarrest. Du darfst eine Woche lang weder nach draußen noch fernsehen.« Ich nickte und akzeptierte still meine Strafe. Das war ein niedriger Preis für meine Ruhe. Mom war wieder aufgestanden und zur Treppe gelaufen, als ich sie noch einmal zurückrief: »Mom?« Sie drehte sich um und kam ins Zimmer zurück. Ich atmete tief durch. »Ich habe mir die Blondie-Platten wieder aus dem Mülleimer gefischt, nachdem du sie weggeschmissen hattest, und höre sie mir jeden Abend an, obwohl ich es eigentlich nicht darf.« Mom stand still, ihre zauberhafte Silhouette wurde von hinten vom Flurlicht beleuchtet. »Du hast sie … hier? In deinem Zimmer?« Ich nickte. Mom lief zu meinem Plattenspieler rüber, auf dem immer noch lautlos Parallel Lines lief. Sie schaute mich an und schüttelte den Kopf. Dann nahm sie sich eine Platte nach der anderen, steckte sie sich unter den Arm und gab mir einen weiteren Kuss. Sie schob mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht und von der Stirn. »Danke, dass du so ehrlich warst, mein liebes Mädchen«, sagte sie zu mir. »Und jetzt gute Nacht.«


Mom verließ mein Zimmer und ging wieder die Treppe hinunter, während ich mich in meinem Bett umdrehte und in meinen Kissen vergrub. Ich rieb meine Füße wie eine Grille unter der Bettdecke aneinander. Ich fühlte mich sicher und zufrieden. Mein Plattenspieler lief auch ohne Platte weiter und das sich wiederholende Geräusch hatte eine beruhigende Wirkung auf mich. Ich beobachtete den leeren Plattenteller bei seinen kontinuierlichen Drehungen, und einen Augenblick lang fragte ich
mich, ob es wirklich so klug gewesen war, mein Geheimnis preis- und somit meine Platten aufzugeben. Dennoch schlief ich mit einem Lächeln auf den Lippen ein.