Florida Ich heiße Patric Gagne, und ich bin eine Soziopathin. Ich bin leidenschaftlich gern Mutter und Ehefrau. Ich bin eine einnehmende Therapeutin. Ich bin unglaublich charmant und beliebt. Ich habe viele Freunde und Freundinnen. Ich bin Mitglied in einem Countryclub.

Florida

»Blick nach unten, die Herren!«, rief der Wärter. »Schaut nach oben und ihr findet euch in der Isolationshaft wieder!« Ich hielt die Hand meiner Schwester fest in meiner. Wir liefen den zellengesäumten Flur in einem staatlichen Gefängnis in der Nähe entlang, es war halb elf an einem Abend unter der Woche. Ein paar Meter entfernt quatschte meine Mutter mit unserem Onkel Gilbert, dem Oberwärter. Mehrere Wärter liefen neben und hinter unserer Gruppe, die sich in Richtung des Turms in der Mitte bewegte.


»Das hier nennen wir den Ehrenblock«, erklärte Onkel Gilbert. »Die Gefangenen hier haben gute Führung bewiesen, also dürfen sie sich in diesem Teil des Gefängnisses frei bewegen. Ihre Zelltüren sind nicht immer abgeschlossen wie bei den anderen.« Ich wusste, welche anderen er meinte. In der knappen letzten Stunde, die meine Schwester, meine Mutter und ich hier im Gefängnis inklusive einer vollständigen Führung bisher verbracht hatten, bekamen wir auch den Bereich mit den »gefährlichen Straftätern« zu sehen, die in einem innen gelegenen Raum hinter dicken Glaswänden interniert waren. Onkel Gilbert wollte nicht, dass wir in der Nähe des Glases standen, weil viele der Männer hier für Gewaltdelikte verhaftet worden waren. Er war nicht näher ins Detail gegangen, aber seine Tonlage erinnerte mich an


Dad, wenn dieser darauf bestand, dass wir uns bei »sexy« Filmsequenzen die Augen zuhielten. »Aber wenn du neugierig bist, dann lass ich dich sie durchs Fenster oder auf dem Monitor nebenan anschauen«, fuhr er fort. Der einseitige Spiegel gab die Möglichkeit eines hautnahen und persönlichen Blickwinkels; allerdings erlaubte mir die Kamera die Vogelperspektive, die ich noch mehr mochte. Ein Wärter namens Bobby saß vor einer Reihe Monitore und erklärte mir, wie sie das System nutzten. Ich betrachtete den Raum genau, die Kamera mal rein- und mal rauszoomend, um mir alle Gefangenen genau anschauen zu können. Was hatten sie getan, um hier eingesperrt zu werden? Ich wusste, es musste etwas Schlimmes gewesen sein.


Aber was? Ich fragte Bobby danach. »Vergewaltigung, Mord, Brandstiftung, so Kram«, antwortete er. Onkel Gilbert räusperte sich. Das war das Signal, dass Bobby sich ein wenig zurücknehmen sollte. Bobby nickte ihm kurz zu und lehnte sich dann vor, um mir in die Augen zu schauen. Er zeigte auf die Männer: »Weißt du, diese Typen haben alle irgendeine Scheiße gemacht. Aber es geht hier nicht nur darum, was sie gemacht haben, sondern darum, dass es ihnen nicht mal leidtut. Sie hatten noch nie irgendwelche Skrupel, und deswegen sind sie jetzt hier.« »Ah«, erwiderte ich, obwohl ich es immer noch nicht verstanden hatte.


Er fuhr fort: »Die Männer hier im Gefängnis? Ich würde behaupten, achtzig Prozent davon sind Soziopathen.« Das war das erste Mal, dass ich dieses Wort hörte. »Ah«, wiederholte ich mich. »Was ist ein Soziopath?« »Jemand, der sich nicht schlecht bei dem fühlt, was er tut. Fühlt keine Reue, bekommt nicht so leicht Angst, fühlt sich nie schuldig. Jemand, der keine Angst hat, erwischt zu werden, und der den gleichen dummen Mist immer wieder macht.« »Hmm«, sagte ich und schaute die Männer erneut an. »Wirklich?« Bobby hielt inne. »Schau mal«, sagte er, während er seinen Geldbeutel herausholte und auf den Tisch legte. »Gehen wir mal davon aus, ich würde jetzt den Raum verlassen und das hier liegen lassen.« Ich nickte, völlig fasziniert von der Situation. »Würdest du es durchsuchen? Würdest du etwas rausnehmen, während ich weg wäre?« »Nein«, log ich ihn an. Bobby lachte auf. »Nee, natürlich würdest du das nicht tun! Und selbst wenn du es tun würdest, möchte ich wetten, dass du dich ganz schön schlecht dabei fühlen würdest, oder?«  »Aber wie«, erwiderte ich. »Siehst du, und das liegt daran, dass du keine Soziopathin bist. Eine Soziopathin würde sich den Geldbeutel schnappen. Und nicht nur das, sie würde sich nicht mal schlecht dabei fühlen. Sie würde wahrscheinlich sogar nächste Woche wiederkommen und es noch mal machen! Sie könnte gar nicht anders, weil Soziopathen keine Angst vor Konsequenzen haben.«


Ich schluckte schwer. Hieß das etwa, dass es ein Wort für Menschen wie mich gab? Irgendwie ahnte ich aber, dass der Nachtwächter eines Gefängnisses nicht die richtige Person für diese Rückfrage war. Bobby lehnte sich nach vorn, drückte einen Knopf und blaffte über die Sprechanlage: »Rogers! Hände weg vom Glas!« Einer der Häftlinge zog sich von dem Einwegspiegel zurück, schüttelte den Kopf und lächelte in die Kamera. »Der Typ nervt andere einfach wahnsinnig gern«, erklärte Bobby mir. Ich zoomte mit der Kamera an Rogers ran. »Officer Bobby?«, fragte ich. »Enden alle Soziopathen im Knast?« »Wahrscheinlich, außer sie sind wirklich richtig klug.«


Ich starrte die Männer hinter der Scheibe an, wie sie da zusammen in einem Käfig lebten. »Was passiert, wenn sie einen großen Kampf anzetteln und sich alle gegenseitig töten?« »Dann haben sie der Gesellschaft ihre Schuld bezahlt«, erwiderte er mit einem zufriedenen Seufzer. Ich war mir nicht sicher, was er damit meinte, nickte aber und schaute wieder auf den Bildschirm. 


»Patric«, rief meine Mutter. »Mach Schluss für heute, Süße. Deine Schwester muss aufs Klo.« Mom war vor ein paar Monaten auf die Idee gekommen, das Gefängnis zu besuchen. Onkel Gilbert, der unter der Woche die Nachtschicht übernahm, erzählte immer Geschichten über die Strafvollzugsbehörde Floridas, und das hatte unser Interesse geweckt. Nach dem Kontrollraum wurde uns noch eine »Erfahrung in Isolationshaft« und eine Runde durch den Ehrenblock angeboten. Auf dem Weg die Stufen hoch in Richtung des zentralen Turms schaute ich auf die Insassen runter. Das mussten Hunderte Männer sein. Dass letztlich nur fünf Wärter mittleren Alters zwischen ihnen und uns standen, haute mich wirklich um.


Zu diesem Zeitpunkt war ich elf Jahre alt und wir wohnten seit zwei Jahren in Florida. »Pack deine Sachen«, hatte Mom kurz nach dem Bleistiftvorfall zu mir gesagt. »Wir fahren übers Wochenende zu deinen Großeltern.« So hatte uns Mom darüber informiert, dass sie unseren Vater verlassen würde und wir nach Florida ziehen würden. Weil ich es nicht besser wusste, packte ich nur genug für das Wochenende. Die Dinge entwickelten sich in Florida von Anfang an eigenartig. Erstens weigerte sich meine Mutter zuzugeben, dass sie meinen Vater verlassen hatte und wir jetzt dauerhaft im Sunshine State sesshaft waren. Das war auch noch der Fall, nachdem Dad ihr das Auto (inklusive des Rests ihrer Sachen) zugeschickt hatte, sodass sie sich jetzt auf die Suche nach einem neuen Haus machen konnte. Mom, so realisierte ich jetzt, erzählte nicht immer die Wahrheit. Und das war frustrierend. Dann kann ich auch lügen, dachte ich nicht nur einmal. Ich kriege ja so oder so Ärger. Nach geraumer Zeit bemerkte Mom, dass ihre Entscheidung, unseren »Familienurlaub« weiter zu verlängern, meiner Schwester und mir gar nicht passte. Um ihr schlechtes Gewissen ein wenig zu reduzieren, lockerte sie ein paar ihrer eigentlich in Stein gemeißelten Regeln. Sie erlaubte mir sogar mein erstes Haustier, ein Frettchen namens Baby. Ich vergötterte Baby. Sie war neben meiner Schwester meine einzige wirkliche Weggefährtin – und dazu auch noch eine wilde. Baby war ein ungestümes Schlitzohr mit einer liebenswerten Persönlichkeit und einem Faible für alles Glitzernde. Sie war eine geborene Diebin. Tatsächlich lief sie oft nachts durch das Haus meiner Oma, auf der Suche nach Schmuck – Ohrringen, Halsketten, alles, was sie in die Pfoten bekommen konnte –, den sie dann zurück in unser kleines Schlafzimmer schleppte, das ich mir mit meiner Schwester teilte. Dort fügte sie die neue Beute ihrer kleinen Fundgrube unter meinem Bett hinzu. Jeder Morgen war wie Weihnachten. Ich wachte auf und ließ mich auf alle viere fallen, um nachzuschauen, was mein vierbeiniges Christkind mir gebracht hatte. Das, was ich mochte, steckte ich für mich ein, alles andere ließ ich liegen. »Brave Maus, Baby!«, sagte ich eines Morgens zu ihr, mit einem goldenen Ohrring in der Hand. Ich gab dem Frettchen ein Küsschen, steckte meine Nase tief in ihr Fell und atmete tief ein. Mir war mal gesagt worden, dass Frettchen aufgrund ihres Geruchs ein eher unbeliebtes Haustier seien, aber ich liebte Babys Duft. Ihr erdiges Aroma erinnerte mich an die Bücher in der Stadtbibliothek. Baby knabberte an meinen Haaren, weil sie spielen wollte.


Ich steckte mir beim Aufstehen den Ohrring ins Ohr und betrachtete mich im Spiegel. Dann nahm ich das Frettchen hoch und setzte es in meinen Rucksack. Baby machte sich lang und streckte sich. »Startklar?«, fragte ich sie. »Na, dann los!« Einer der Vorteile unseres Lebens in Florida war der generelle Mangel an Aufsicht. Damals hatte zumeist meine Oma das Sagen, die bei Erziehungsfragen recht liberal eingestellt war. Solange meine Schwester und ich uns regelmäßig meldeten und versprachen, uns nicht weiter als in einem Zwei-Block-Radius zu bewegen, durften wir eigentlich machen, was wir wollten.


Während das »Wochenende« bei meiner Oma zu Monaten wurde, fiel ich wieder auf meine bekannten Mittel zurück, um mit dem inneren Druck umzugehen. Ich klaute Geld aus der Kollekte in der Kirche. Ich schmiss totgefahrene Tiere in den Garten einer bösen Nachbarin, die die Straße runter wohnte. Ich brach in ein leer stehendes Haus ein, das sich ein paar Blocks entfernt befand, und verbrachte dort die Ruhe genießend meine Zeit. Ich liebte es, in diesem Haus zu sein. Sobald ich es betrat, war ich entspannt. Die Leere des Raums passte zu meinem Inneren, ich mochte diese Balance. Außerdem mochte ich die Tatsache, dass sich das Haus trotz dieser Leere voll anfühlte. Ich saß stundenlang in dieser verzweifelten Stille einfach nur da. Meine fehlenden Gefühle – die mich normalerweise stressten – hatten in diesem verlassenen Haus einen gegenteiligen Effekt. Auf eigenartige Weise erinnerte es mich an das Gravitron: Dieser Publikumsliebling auf dem ganzjährigen Jahrmarkt ist eine Art Karussell ohne Sicherheitsgurte oder Sitze. Man wird darin mithilfe der Zentrifugalkraft von innen gegen die Wand gedrückt. Ich habe das früher geliebt. Wieder und wieder fuhr ich damit, verwirrt von dem Gerätebetreiber, der im Zentrum des Rads saß. Einmal hatte ich meine Mutter befragt: »Warum wird ihm nicht schwindlig?« »Weil er genau in der Mitte sitzt«, erklärte sie mir daraufhin. »Ihn betrifft die Drehung nicht.«


Und genauso fühlte ich mich immer in dem Haus. Auf intellektueller Ebene wusste ich, dass ich irgendeinen Erwachsenenkodex brach, und dieses Wissen machte mich zu der im Zentrum sitzenden Betreiberin der Fahrt. Um mich herum pulsierte das Haus, fassungslos über diese Grenzüberschreitung, aber ich befand mich in seinem Zentrum, gelassen, im Reinen mit mir und mit dem Heft in der Hand. Ich ließ Baby aus dem Rucksack, damit sie sich frei bewegen konnte, dann setzte ich mich in den Wintergarten und las meine Bücher. Es war das Paradies auf Erden. Natürlich wusste ich, dass ich nicht in Häuser gehen sollte, in denen ich nicht wohnte, und dass ich meiner Mutter davon erzählen müsste. Denn letztlich wollte ich ehrlich sein, sicher sein. Aber immer, wenn ich etwas beichten wollte, wirkte sie aufgebracht. Es schien in Florida nie eine gute Zeit für ein Gespräch mit ihr zu geben. In letzter Zeit hatte es so gewirkt, als würde sie mich meiden. Sie sträubte sich gegen jegliche Gespräche über ansatzweise unangenehme Themen. Und da meine ich so offensichtliche Sachen wie die Tatsache, dass wir eindeutig und hundertprozentig nicht mit Dad in San Francisco lebten und anscheinend auch nie wieder dorthin zurückkehren würden. Selbst als Mom endlich ein Zuhause für uns gefunden hatte – ein kleines Reihenhaus in der Nähe des Strands –, weigerte sie sich, über ihre langfristigen Pläne zu reden. »Mom, warum gehen wir auf eine neue Schule?«, fragte ich einige Monate nach unserem Umzug in das neue Haus, während sie unseren Mercedes durch die Fahrgemeinschaftsspur voller Fremder manövrierte. »Ich weiß es nicht. Ich dachte mir nur, dass das mehr Spaß machen würde, als den ganzen Tag zu Hause zu hocken, während euer Vater und ich klären, wie es weitergehen soll.« »Na ja, aber wer kümmert sich jetzt um Baby?«, bohrte ich weiter, mein Frettchen bereits vermissend. »Ihr wird ohne mich so wahnsinnig langweilig sein.« »Ich schaue, dass sie in deiner Abwesenheit ganz viel Aufmerksamkeit bekommt«, versprach Mom. »Und du könntest in der Zwischenzeit vielleicht ein paar neue Freundinnen finden.« »Neue Freundinnen? Ich hatte doch nicht mal alte.« »Tja«, erwiderte Mom hoffnungsvoll. »Vielleicht wird es ja dieses Mal besser.« Wurde es allerdings nicht. Die Schule war vielleicht eine neue, aber ich war die alte. Die anderen Kinder waren ganz nett, aber ich wusste sofort, dass sie ahnten, dass ich anders war als sie. Ja, gut, mein Verhalten war auch nicht gerade nur auf subtile Art anders als ihrs.


»Hast du schon mal richtig geknutscht?«, fragte mich ein Junge namens Ryan beim Mittagessen in der Cafeteria, ungefähr ein Monat nach meinem Start an der neuen Schule. »Nein.« »Warum nicht?«, hakte er nach. »Weil meine Mutter gestorben ist.« Ich fing in dem Moment, wo ich das sagte, zu lachen an. Die
Antwort ergab nicht mal einen Sinn. Ich weiß nicht mehr, warum ich es gesagt habe, ich war mir nur sicher, dass es das Gespräch beenden würde. Und das tat es – inklusive meiner Unauffälligkeit. Flugs veränderte sich Ryans Gesichtsausdruck und der aller anderen Kinder am Tisch. Sie alle schauten mich auf dieselbe, mir bereits wohlbekannte Art an. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Information über den Tod meiner Mutter, bis hin zur Schuldirektorin, die mich sofort in ihr Büro zitierte. »Patric«, sprach sie mich an, zu nah neben mir auf dem Sofa sitzend, mit sorgenvollem Gesichtsausdruck. »Ich habe gehört, dass deine Mutter gestorben ist. Stimmt das, Liebes?« »Nein«, antwortete ich, weil ich ihr schnell die Sorge nehmen wollte. »Sie ist nicht tot.« »Oh«, erwiderte sie mit gerunzelter Stirn. »Aber warum hast du dann gesagt, sie sei tot?« Darauf hatte ich keine Antwort. Es war eine so dumme wie für mich auch untypische Lüge gewesen. Ich wusste, dass sie ein Fehler war, genauso wie ich wusste, dass sie für eine ganze Menge ungewollter Aufmerksamkeit sorgen würde. Dennoch sprach ich sie aus. Ich würde nicht so weit gehen und behaupten, dass mich die Konsequenzen nicht interessierten, ich wusste nur, dass sie mich kaltlassen würden. Selbst damals kannte ich den Unterschied. »Na ja, wir haben uns darüber unterhalten, was das Schlimmste in unserem Leben wäre, das je passieren könnte«, log ich erneut. »Also habe ich das gesagt. Der Tod meiner Mutter wäre das Schlimmste.« Die Schuldirektorin nickte ernst mit dem Kopf und zwang sich zu einem Lächeln. »Das ergibt Sinn«, sagte sie. »Du und deine Schwester, ihr scheint sehr süße Mädchen zu sein.« Sie hatte zur Hälfte recht, denn Harlowe war ein süßes Mädchen. Obwohl wir erst seit einigen Wochen diese neue Schule besuchten, blühte meine Schwester bereits auf. Sie war schon zu mehreren Spieltreffen eingeladen worden und inzwischen mühelos das beliebteste Mädchen ihrer Klasse geworden. Sie zog Menschen an wie ein Magnet. Harlowe war wie Dorothy aus Der Zauberer von Oz, auch sie fand überall Freundinnen, wohin sie auch ging. Ich aber war wie eine ein Frettchen mit sich herumschleppende blonde Wednesday Addams, die leichthändig alle auf ihrem Weg abstieß.


Manchmal gab ich mir Mühe, mich anzupassen – mich »normal« wie die Kinder um mich herum zu verhalten –, das hielt aber nie lange an. Das lag unter anderem daran, dass ich ganz übliche Verhaltensweisen und gängige Reaktionen nur in meinem engsten Familienkreis erlebte, sie also nur bestimmte Zeit außerhalb dessen vortäuschen konnte. Aber vor allem hatte ich niemanden, der sie mir beibrachte. Meine Anpassungsprobleme fühlten sich ein wenig so an wie die Lese-Rechtschreib-Schwäche eines Klassenkameraden. Er war richtig gut in so Sachen wie Mathe und Musik, aber er hatte eine Lernschwäche, die es ihm erschwerte, Buchstaben richtig zu deuten. Er hatte einen eigenen Lehrer an die Seite gestellt bekommen, der so lange mit ihm übte, bis er besser darin wurde.


Vielleicht habe ich so etwas ja auch, dachte ich eines Tages. Eine Gefühlsschwäche. Ich musste an die Männer im Gefängnis denken und fragte mich, ob sie etwas Ähnliches wie ich erlebten. Irgendwie war es, als hätten alle anderen das volle Gefühlsspektrum einfach ausgehändigt bekommen. Manche der Gefühle lagen mir im Blut, wie Wut und Freude. Andere Gefühle aber waren nicht so einfach. Empathie und Reue, Betretenheit und Eifersucht waren wie eine Sprache, die ich nicht beherrschte oder verstand. Gab es einen eigenen Lehrer, der mir dabei helfen könnte? Ich wusste, dass man, wenn man zusätzliche Hilfe brauchte, zu seinem Lehrer oder seiner Lehrerin gehen sollte, aber das konnte ich nicht. Meine Klassenlehrerin in der fünften Klasse, Frau Ravenel, war die gemeinste Lehrerin der ganzen Schule, und zwar so dermaßen, dass Schüler, die sich danebenbenahmen, zu ihr statt zur Schuldirektorin geschickt wurden. Und sie war absolut kompromisslos, wenn es um Andersartigkeit bei Schülern und Schülerinnen ging.


»Mein Gott, was willst du denn?«, hatte sie mal einen Schwarzen Zweitklässler gefragt, der zu uns in die Klasse geschickt worden war, weil er im Unterricht zu viel geredet hatte. »Willst du, dass ich dich nach draußen schleife und an den Daumen am Baum aufhänge? Willst du das?« Der kleine Junge hatte angefangen zu zittern und zu weinen. Alle anderen in der Klasse hatten ihn ausgelacht, aber mich hatte das fuchsteufelswild gemacht. Am Baum aufhängen? Weil er geredet hatte?, fragte ich mich. Auch wenn Frau Ravenel uns erklärt hatte, dass »solche« Kinder eine Lektion bräuchten, verstand ich den Sinn dahinter nicht. Mir mag eine emotionale Verbindung zum Konzept von Richtig und Falsch gefehlt haben, aber ich wusste, dass es beides gab. Und was diese Lehrerin machte, war falsch. Sie nutzte Gefühle, um ein Kind zu verletzen. Schlimmer noch, sie genoss es. Es ist besser, wenn man so ist wie ich.


Das war das erste Mal, dass ich begriff, dass man Angst niemals gegen mich würde verwenden können. Auch wenn ich nicht per se immun dagegen war, so war sie doch wie auf stumm gestellt. Ich erkannte, dass dies bei den meisten Kindern nicht so war. Während die anderen in meiner Klasse in ständigem Schrecken vor Frau Ravenel lebten, schüchterten mich ihre Sperenzchen kein bisschen ein. Während meine Cousinen Angst hatten, das Haus nach Einbruch der Dunkelheit zu verlassen, hatte ich keinerlei Probleme damit, allein durch die Nachbarschaft zu ziehen. Und während meine Schwester nach der Schule leise in ihrem Zimmer spielte, brach ich in benachbarte Häuser ein. Hätte ich dabei erwischt werden können? Klar. Machte ich mir Gedanken über mögliche Konsequenzen? Nein. Ich hatte mich entschieden, dass Angst eine sinnlose Emotion sein musste. Mir taten die Menschen leid, die anscheinend vor allem Angst hatten. Was für eine Verschwendung! Ich war zufrieden damit, meine eigenen Regeln zu befolgen und straffrei zu leben. Ich erkannte keinen Sinn in Furcht.


All das aber änderte sich, als ich den Mann mit den Kätzchen kennenlernte. »Ich habe die gerade gefunden«, sagte er zu mir. »Willst du eins?« Es war spät am Nachmittag und meine Schwester und ich spielten draußen. Mom war in jenen Tagen viel unterwegs, denn sie wollte sich eine Maklerlizenz beschaffen – eine Entscheidung, die nicht gerade mit ihrem »Wir bleiben nicht lange«-Narrativ zusammenpassen wollte. Sie schickte uns mehrere Tage die Woche nach der Schule zu unserer Großmutter, damit sie in Ruhe lernen konnte. Meist verbrachten wir unser Exil im Garten hinter dem Haus, aber an diesem Tag wollten wir vorn Blumen pflücken. Da uns hier niemand beachtete, konnten wir so viele pflücken, wie wir wollten, sogar die Knospen von Omas Rosenbusch, die wir eigentlich nicht anfassen durften. »Welche Farbe haben sie?«, frage ich ihn. »Welche Farbe magst du denn?« Er wirkte aufrichtig freundlich. »Schwarz«, erwiderte ich entschieden. Ich hatte schon immer eine schwarze Katze gewollt. Und Baby wäre auch dafür! Ich stellte mir vor, wie wir zu dritt in einem der verlassenen Häuser einen Heidenspaß haben würden – mein Frettchen und mein Kätzchen würden glücklich im Garten spielen, während ich ihnen entspannt aus dem Wintergarten dabei zusehen würde. Der Mann wendete sich Harlowe zu: »Und welche Farbe hättest du gern?« Sie griff nach meiner Hand und zog mich zurück in Richtung des Hauses, ohne ihn dabei anzuschauen. »Oh, nein, du brauchst keine Angst vor mir zu haben, Liebes!«, sagte er zu ihr. »Außerdem«, und damit wendete er sich wieder mir zu, »ist es tatsächlich so, dass ich zwei schwarze Kätzchen habe. Eine für jede von euch. Die sind gleich da um die Ecke. Wollt ihr sie euch einmal anschauen?« »Klar!«, erwiderte ich ohne Zögern. Doch Marlowe wollte nichts davon hören. Sie griff noch fester nach meiner Hand und lief rückwärts. »Nein«, sagte sie leise. Nein? War sie verrückt geworden? Dieser Mann bot uns umsonst zwei schwarze Kätzchen an und sie wollte das Angebot ausschlagen? Ich wusste, warum. Sie hatte Angst. Das war aber nicht mein Problem. Ich zog meine Finger aus ihrem schraubzwingenartigen Griff und küsste sie auf die Stirn. »Ich bin gleich zurück.« »Nein!«, wiederholte Harlowe. Allerdings hörte ich nicht zu. Ich lief dem Mann hinterher, der mich die Straße entlang zu einer Kreuzung führte. »Die sind gleich da vorn links.«
Ich warf einen Blick zurück auf meine Schwester, bevor wir um die Ecke bogen. Sie stand jetzt mitten auf der Straße, mit angsterfülltem Gesicht. Warum hat sie so eine Angst?, wunderte ich mich. Die Frage plagte mich. Nach ein paar Schritten drehte ich mich erneut nach Harlowe um, konnte sie aber nicht mehr sehen. Wir befanden uns jetzt in einer anderen Straße, in der mit dem Haus, in dem ich mich gern versteckte. Ich sah einen Transporter in der Einfahrt. Der Mann winkte mir zu, als er darauf zulief. »Das da vor dem Haus ist mein Transporter«, erklärte er. Da machte es Klick bei mir. Ich wusste, dass niemand in dem Haus wohnte. Das war mein leeres Haus. Er log, und ich hatte einen schlimmen Fehler begangen. Ich befand mich in Gefahr. Die Tür des Transporters war offen und eine Frau saß mit einem Pappkarton hinten drin. »Schau mal rein«, rief sie mir zu. »Sie sind so süß!« Ich musste aber keinen weiteren Schritt machen, um zu wissen, dass sich keine Kätzchen in dem Karton befanden. Ich musste nur sicherstellen, dass das Pärchen nicht auf den Trichter kam, dass ich sie durchschaut hatte. Zum Wegrennen war es zu spät. Der Mann war nach hinten gelaufen, neben mich, und blockierte meinen Fluchtweg hin zur Straße. Instinktiv stützte ich mich auf meinen Mangel an Gefühlen und drehte mich mit dem freundlichsten Gesichtsausdruck, den ich vortäuschen konnte, also mit einem strahlenden Lächeln, zu ihm. »Ist das Ihre Frau?«, fragte ich ihn. »Das ist so schön! Sie leistet den Kätzchen Gesellschaft, damit sie sich nicht allein fühlen!« Der Mann legte den Kopf schräg, denn er wusste nicht, was er von mir halten sollte. Ich winkte ihr und fragte ihn flüsternd: »Wie heißt sie?«


Sein Bauchgefühl sagte ihm, dass er mir nicht trauen konnte. Das konnte ich in seinem Gesicht ablesen. Er hatte diesen Ausdruck, den ich schon zu gut kannte. Entgegen seinen Instinkten lächelte er erneut und drehte sich zu mir. »Anna«, rief er ihr zu. »Rutschst du mal rüber, damit unsere neue Freundin sich die Kätzchen anschauen kann?« Ich war aber schon weg, denn ich war in dem Augenblick losgerannt, als er seinen Kopf von mir weggedreht hatte. Der Klang seiner Stimme nahm mir jegliche Zweifel an seinen wahren Absichten. Angst, so lernte ich an diesem Tag, hatte doch seinen Sinn. Ich starrte ganz oben vom Gefängnisturm auf die Insassen runter. Sie starrten zurück. »Onkel Gilbert«, fragte ich. »Haben Soziopathen Angst?« Er dachte einen kurzen Moment nach. »Ich bin mir sicher, dass sie welche haben, aber ich glaube nicht, dass sie sie so fühlen wie wir.« Ich war verwirrt. »Hat sie mal jemand danach gefragt?« Onkel Gilbert zeigte auf die Männer im Gefängnishof. »Die gefragt?« Er lachte kurz in sich hinein. »Nicht unter meiner Aufsicht. Warum? Willste mal runtergehen und mit ihnen über ihre Gefühle reden?« »Ja!«, erwiderte ich und stand auf. »Könnte ich das jetzt gleich machen?« »Auf gar keinen Fall!«, schaltete sich meine Mutter ein. »Aber warum nicht?« »Weil es gefährlich ist«, erwiderte sie. »Außerdem ist es schon spät, und wir müssen los.« Mom lächelte und wechselte das Thema. »Denk dran, Paul hat morgen Geburtstag und wir fahren mit ihm zum Strand. Wir könnten früh aufstehen und einen Picknickkorb vorbereiten. Na, wie klingt das?«


Es klang langweilig. Ich mochte Paul, einen Flugzeugpiloten, der in Mom verknallt war, aber ich hasste den Strand. Ich hoffte, wir würden nicht lange bleiben. Beim letzten Strandbesuch hatte mir ein Fremder seinen Schwanz gezeigt, als alle anderen gerade schwimmen waren. An Eisfieber denkend hatte ich Blindheit vorgetäuscht und mich desorientiert gegeben, bis er richtig verwirrt war und davonging. Ich zuckte also lapidar mit den Achseln und schaute ein letztes Mal runter zu den Männern. Was unterscheidet jemanden wie mich von jemandem wie denen?, fragte ich mich. Plötzlich wollte ich das händeringend herausfinden.