Alarmiert Ich heiße Patric Gagne, und ich bin eine Soziopathin. Ich bin leidenschaftlich gern Mutter und Ehefrau. Ich bin eine einnehmende Therapeutin. Ich bin unglaublich charmant und beliebt. Ich habe viele Freunde und Freundinnen. Ich bin Mitglied in einem Countryclub.

Alarmiert

»Baby ist gestorben.« Ich saß im Wohnzimmer und schaute fern, als Mom es mir sagte. Unser Ausflug ins Gefängnis war inzwischen mehrere Monate her. Harlowe hatte unser Haustier kalt und leblos auf dem Boden gefunden, und nun war meine Schwester oben im Badezimmer und heulte sich die Augen aus dem Kopf. »Patric, hast du mich gehört?«, fragte Mom bestürzt. Das hatte ich, wusste aber einfach nicht, was ich jetzt tun sollte. Die Nachricht von Babys Tod war ein Schock, der nicht weniger werden wollte. Er geisterte einfach in meinem Kopf herum. Ich blinzelte ein paar Mal, nickte dann meiner Mutter zu und schaute weiter fern.


Mit einem tiefen Seufzer, der mir signalisieren sollte, dass meine fehlende Reaktion inakzeptabel war, lief sie zur Treppe nach oben, um Harlowe zu trösten. Plötzlich realisierte ich, dass dies das erste Mal war, dass ich eifersüchtig war. Ich wollte auch oben sitzen und weinen. Ich wünschte mir so sehr, dass ich im Bad auf dem Boden sitzen und weinen könnte, neben meiner Schwester, während Wellen der ehrlichen Trauer über uns schwappten. Ich wusste, ich »sollte« wenigstens genauso am Boden zerstört aussehen wie meine Schwester. Warum also war ich es nicht? Ich betrachtete mein Spiegelbild im Glas der Schiebetüren. Schloss dann die Augen und konzentrierte mich so lange, bis ich hinter den Lidern Tränen spürte. Dann schaute ich wieder mein Spiegelbild an. Das ist schon deutlich besser, dachte ich bei mir. Das Mädchen in der Spiegelung der Scheibe, mit den Wangen voller Tränen, sah viel mehr wie eine aus, die gerade ihr Haustier verloren hatte. Sie sah aus wie eine, die Trost brauchte. Ich wusste aber, dass das Mädchen vor der Spiegelung nicht so aussehen konnte, zumindest nicht ohne bewussten Aufwand. Ich zwinkerte und meine Konzentration wurde unterbrochen. Die Tränen verschwanden. Ich wendete meine Aufmerksamkeit wieder dem Fernseher zu.


Es stimmt nicht, dass ich nichts gefühlt habe. Ich liebte Baby über alles auf der Welt. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass sie jetzt tot war. Wir waren noch da, aber sie nicht. Immer wenn ich meinen Mangel an Gefühlen zu erklären versuche, vergleiche ich es damit, wie es ist, neben einer Achterbahn zu stehen: Ich höre die Menschen in den Wagen, ich sehe die Talfahrten und Kurven, die Schienen, ich spüre förmlich das ansteigende Adrenalin, während sich die Bahn den steilen Berg nach oben arbeitet, ich atme tief ein, wenn der erste Wagen die Spitze erreicht, und atme schlagartig beim Anblick der nach unten stürzenden Achterbahn mit beiden Händen über meinem Kopf aus. Ich verstehe es; ich fühle es nur nicht selbst. Ich sah, dass meine Mutter nicht wusste, was sie mit einem Kind wie mir anstellen sollte, wie sie mit mir umgehen sollte. Sie erwartete wie alle vernünftigen Eltern ein normales Kind mit normalen Reaktionen. Dass ich ihr nicht geben konnte, was sie wollte, versetzte mich in einen Zustand, den ich irgendwann »eingeklemmten Stress« nannte. Er erinnerte mich auch an eine Achterbahnfahrt, aber das hatte nichts damit zu tun, wie ich die Fahrt erlebte, sondern mit dem Gefühl vor dem Start, wenn die Schulterbügel einrasteten. Diese Fixierung stellte für alle anderen eine Sicherheit dar, einen Schutz. Nicht jedoch für mich. Ich hasste es, wie sie mich einschlossen. Sie verhinderten, dass ich mich verstecken könnte, wenn ich müsste. Ließen mich nicht atmen. Es war die Klaustrophobie, die ich immer spürte, wenn mir bewusst wurde, dass ich nicht das fühlte, was andere von mir zu fühlen erwarteten.


So war es für mich an dem Abend, als Baby gestorben war. Ich konnte meine Schwester weinen hören. Ich konnte mir die Wellen voll Schmerz vorstellen. Leider stand ich jedoch nicht mit ihr in diesem Ozean. Es war nicht so, dass mir das Gefühl fehlte, sondern ich war irgendwie getrennt von ihm, wie von der Spiegelung in der Türscheibe. Ich konnte meine Gefühle sehen, stand aber nicht mit ihnen in Verbindung. Ich schaltete den Fernseher aus. Ich mag zwar unfähig sein, meine Gefühle wie andere auszudrücken (oder zu erfahren), aber ich wusste, dass es mir Probleme bringen würde, wenn ich beiläufig Wiederholungen von Dallas schaute, während mein erstes Haustier tot im Nebenzimmer lag. Ich ging in die Waschküche, davon ausgehend, dass Babys Leichnam da immer noch liegen würde. Vielleicht würde ich, wenn ich sie sah, mich dann mehr fühlen wie … was eigentlich? Ich wusste es nicht. Mom hatte das Frettchen mit einem weihnachtlichen Geschirrtuch bedeckt, sodass Babys kleiner Körper umrahmt wurde von fröhlich geschmückten Tannenbäumen. Ihr muss kalt gewesen sein, dachte ich. Sie war neben dem Trockner, um sich aufzuwärmen. Ich beugte mich nach vorn und hob langsam das Tuch an. Baby lag immer noch darunter, mit leicht geöffneten Augen. Ich ließ meinen Kopf hängen und atmete aus. Das ist doch einfach scheiße. Ich schaute Baby wieder an und musste mir eingestehen, dass sie sowohl ganz wie sonst aussah als auch gänzlich seltsam. »Das bist nicht du«, sagte ich zu niemandem Bestimmten. Nicht mehr. Ich kniete mich hin und schnupperte an Babys Hals, versuchte, ihren Geruch ein letztes Mal einzufangen. Aber selbst der war anders. Alles, was Baby einzigartig gemacht hatte, war weg. Ihr Körper, einst entzückend und temperamentvoll, wirkte jetzt all seiner Bedeutung beraubt. Er war jetzt wie ein altes Kleidungsstück, das jemand zurückgelassen hatte, oder wie Millionen leerer Muscheln am Strand. Ich fühlte mich eigenartig ruhig. Ich ließ mein Haustier auf dem Waschküchenboden liegen und kletterte langsam die Stufen zu meinem Zimmer hinauf. Babys Tod hatte mich in eine unmögliche Situation manövriert. Ich hasste es, dass Mom jetzt bestürzt war, wusste aber auch nicht, was ich tun könnte, damit sie mich verstand. Ich hatte mich nicht bewusst für dieses Verhalten entschieden, es war einfach eine Reaktion, meine ungekünstelte Reaktion. Ich nehme an, ich hätte auch eine andere vortäuschen können. Es wäre mir wirklich leichtgefallen, mich zu verstellen, so zu tun, als wäre ich traurig, und ich hätte wohl auch ein paar Tränen produzieren können. Ich wollte das aber nicht. Es wäre eine Lüge gewesen. Und ich hatte meiner Mom versprochen, dass ich nicht lügen würde.


Ich war die letzten Wochen auf ganz schön dünnem Eis gewandelt. All das hatte mit einer Übernachtung bei meiner Freundin Grace begonnen. Erst war alles gut gewesen. Ich mochte es, von zu Hause weg zu sein. Die Unabhängigkeit war aufregend und befreiend. Sobald die anderen aber ins Bett gegangen und eingeschlafen waren, wurde alles anders. Die Stille war eine unentrinnbare Verlockung. Meist passierte etwas, was mich ablenkte – ein Gespräch, dem ich lauschen konnte, die Geräusche von Graces unten werkelnder Mutter, das Gequake des Fernsehers im Schlafzimmer am anderen Ende des Flurs. In dieser Nacht aber war es komplett still. Ich fühlte den bekannten Druck wieder ansteigen. Du kannst machen, was du willst, sagte die Stimme in meinem Kopf. Das stimmte. In dieser Dunkelheit, umgeben von schlafenden Kindern, war ich völlig frei. Ich könnte mir Graces Fahrrad aus der Garage schnappen und eine mitternächtliche Runde im Viertel drehen. Ich könnte die Nachbarn ausspionieren. Jetzt, wo ich mich nicht um die Erwachsenen kümmern oder meine Schwester bewachen musste, konnte mich nichts davon abhalten, etwas Ungeheuerliches zu tun. Ich will aber nichts Ungeheuerliches tun, dachte ich wütend. Ich rieb meine Füße unter der Bettdecke aneinander. Das half mir normalerweise dabei, mich zu entspannen. Nur in dieser Nacht zeigte es keinerlei Wirkung. »Das ist der größte Scheiß«, sagte ich laut in den Raum. Bei dieser unverfroren vulgären Sprache musste ich unwillkürlich grinsen. Die Wörter klangen ganz eigenartig aus meinem Mund. Du liebst es, sagte die Stimme in meinem Kopf. Das stimmte. Ich liebte es wirklich. Die Stimme in meinem Kopf kam nicht von einer anderen Persönlichkeit, sondern es war meine Stimme – meine dunkle Seite. Ich fühlte, wie mich die Wärme der teuflischen Möglichkeiten erfüllte, als der Frust der Erregung Platz machte. Solche Möglichkeiten wie jetzt ergaben sich nicht am laufenden Band. Auch wenn ich nicht sonderlich heiß darauf war, eine spätabendliche Erkundungstour weiß Gott wohin zu machen, wusste ich doch, dass ich mir nicht würde helfen können. Es war ein ganz bestimmtes Gefühl. Es erinnerte mich daran, wie ich mich fühlte, wenn mein Zimmer unordentlich war. Auch wenn es sich nicht so anfühlte, so musste ich es doch aufräumen. Und jetzt musste ich mich auf die Chance stürzen, etwas fühlen zu können.


Haben sich so die Typen aus dem Knast gefühlt, bevor sie eingebuchtet wurden?, fragte ich mich. Als müssten sie unerlaubte Sachen machen, auch wenn sie das gar nicht unbedingt wollten? Ich dachte daran, wie sie jetzt tief und fest in ihren winzigen Zellen schliefen. Das wirkte aus meiner Sicht nicht sonderlich schlimm. Die schieben jetzt eine ziemlich ruhige Kugel. Immerhin konnte ihre dunkle Seite sie jetzt, während sie im Gefängnis festsaßen, nicht mehr zu Sachen treiben, die sie eigentlich nicht machen wollten – nicht wie bei mir. Nicht wie
jetzt. Auf eigenartige Weise waren sie frei. Ich beneidete sie fast darum.


Mein Kopf zuckte leicht, als mir eine Lösung in den Sinn kam. Ich musste heute Nacht – oder übrigens auch in jeder anderen Nacht – nichts Schlimmes tun. Ich musste einfach nach Hause gehen. Dort, unter Moms wachsamen Augen, konnte ich nicht in Schwierigkeiten geraten, selbst wenn ich es gewollt hätte. Und das wollte ich ja nicht. Ich musste einfach nur wie in Haft sein. Ich musste einfach nur ehrlich sein. Ich atmete erleichtert aus, stahl mich aus dem Bett und schlich zu meiner Reisetasche. Dort fand ich Stift und Papier und schrieb eine Notiz, die ich auf Graces Nachttisch platzierte. Sobald sie sie gelesen hatte, würde sie glauben, mir sei mitten in der Nacht schlecht geworden und ich wäre nach Hause gegangen. Teilweise ehrlich, dachte ich. Ich nahm meine Tasche mit einem zufriedenen Seufzer an mich und lief zur Tür. Grace wohnte nur ein paar Häuser von unserem entfernt, also dachte ich nicht, dass Mom sich über mich aufregen würde. Ich hätte ja auch etwas Schlimmes machen können, dachte ich, während ich in die kühle Nacht hinaustrat. Stattdessen habe ich mich dafür entschieden, das Richtige zu tun. Ein braves Mädchen zu sein. Ich konnte es kaum erwarten, Mom davon zu erzählen.


Sie lehnte an der Küchentheke und redete mit Paul, als ich reinkam. Die zwei lachten und ich glaubte einen kurzen Moment lang, sie seien froh, mich zu sehen. Aber ein flüchtiger Blick auf Moms Gesicht verriet mir, dass ich falsch lag. »Warum?«, fragte Mom fast schreiend. »WARUM BIST DU HIER?« Ich versuchte, ihr das Ganze zu erklären, aber die Situation entwickelte sich schnell in Chaos (ihrerseits) und Verwirrung (meinerseits). Paul versuchte wiederum, zwischen uns zu vermitteln, aber Mom fiel dann noch das Weinglas runter und sie rannte schluchzend nach oben in ihr Zimmer. Paul folgte ihr, etwas rufend. In der Zwischenzeit stand ich wie festgefroren immer noch auf derselben Stelle in der Nähe der Eingangstür, unsicher, was ich jetzt tun sollte. »Ich hätte einfach lügen sollen«, flüsterte ich. Moms Reaktion nach zu urteilen wäre das die klügere Variante gewesen. Die sicherere Variante, stellte meine dunkle Seite fest. Ich machte die Sauerei weg und dachte über meine Möglichkeiten nach. Sollte ich zurück zu Grace gehen? Sollte ich noch mal versuchen, mit Mom zu reden? Als ich fertig war, hatte ich entschieden, dass zurücklaufen keine gute Idee wäre. Also schlich ich die Stufen in Richtung meines Zimmers hoch, hoffend, dass ich einfach in mein Bett kriechen konnte, ohne aufzufallen. Im zweiten Stock hörte ich meine Mutter hinter der Schlafzimmertür weinen. »Ich-weiß-einfach-nicht-was-ich-mit-ihr-noch-machen-soll«, hörte ich sie zwischen Schluchzern sagen. »Ich-weiß-es-einfach- nicht.« Die Tür war angelehnt. Durch den Spalt konnte ich Mom sehen, die seitlich auf dem Bett saß und sich vor Verzweiflung wiegte. Paul, der auch nicht recht wusste, was er machen sollte, tätschelte ihr sanft den Hinterkopf, während sie hyperventilierte. Ich sprang von der Tür weg, als hätte sie mich verbrannt, das Bild nicht länger ertragend. Es erinnerte mich zu sehr an ihr Weinen in San Francisco. Ich ging in mein Zimmer, schloss die Tür hinter mir und stand völlig ruhig da. In der Stille fühlte es sich an, als würde ich jede Zelle meines Körpers spüren. Meine fünf Sinne liefen auf Hochtouren und mir fiel auf, dass ich den Atem anhielt. Fühlten sich so normale Menschen bei Angst? Ich vermutete, dass dem so war. Aber ich fühlte mich nicht ängstlich. Was war ich also? Ich stand in der Dunkelheit und suchte nach den richtigen Worten, um zu beschreiben, wie ich mich fühlte, als es mir plötzlich in den Sinn kam.


Alarmiert.
Das war keine Angst, sondern Wachsamkeit. Ich war akut und auf unheimliche Weise alarmiert. Ich hatte ein schlimmes Problem, das dringend gelöst werden musste. Ich konnte mich nicht völlig vom Schutz und der helfenden Hand meiner Mutter lösen, weil ich das Gefühl hatte, dass ich beides brauchte, um mein Verhalten zu kontrollieren. Ich wusste aber auch, dass ich für ihre Hilfe einen Preis zu zahlen hatte, und dieser Preis hieß
Vertrauen. Wenn Mom dachte, dass ich unehrlich war – selbst wenn dem nicht so war –, dann würde ich sie als meinen Kompass verlieren. Ich schloss die Augen und dachte an die Zeiten zurück, die ich in San Francisco unter dem Esstisch verbracht und ihr meine Geheimnisse verraten hatte. Immer wenn sie mich ihr ehrliches Mädchen genannt hatte, wusste ich, dass ich sicher war. »Im Zweifelsfall die Wahrheit sagen«, wiederholte ich das Mantra meiner Mutter in San Francisco. »Die Wahrheit hilft den Menschen, etwas zu verstehen.«


Am nächsten Tag, nachdem Paul gegangen war, ging ich zu Mom ins Zimmer. Die Vorhänge waren, obwohl es schon nach Mittag war, immer noch zugezogen und das Licht war aus. Der Fernseher in der Ecke lief, war aber stumm gestellt. In dem dunklen Raum wirkten seine lautlosen Bilder wie kleine Dolche aus Licht. Ich lief zum Bett, in dem meine Mutter wach dalag und vor sich hin starrte. Sie sah aus, als hätte sie die ganze Nacht durchgeweint. Ihr Gesicht war rot und fleckig, und sie hatte dunkle Augenringe. »Mom …«, setzte ich an, bevor sie mich unterbrach. »Hör mir zu, Patric«, sagte sie mit kratziger Stimme. »Hör mir genau zu.« Sie sah verängstigt aus. »Du darfst dich niemals wieder aus dem Haus schleichen, aus keinem Haus. Und du darfst mich auf gar keinen Fall anlügen.« Ich nickte, mir war verzweifelt daran gelegen, dass sie mich verstand. »Aber ich habe nicht gelogen«, sagte ich mit piepsiger Stimme. Mom betrachtete ihre Hände. Ich sah ihr an, dass sie nach den richtigen Wörtern suchte. »Weißt du«, sprach sie weiter, ohne meinen inständigen Blick zu erwidern. »Ich weiß, dass du …anders bist.« »Ich weiß«, flüsterte ich. »Ich weiß, dass ich manche Sachen nicht machen sollte, aber ich mache sie dennoch. Ich weiß, dass es etwas in mir auslösen sollte, aber tut es nicht. Ich will es ja, aber ich kann mir einfach nicht helfen. Ich weiß nicht, was falsch an mir ist.«


Wir saßen ein paar Sekunden lang in der Stille, das Licht des Fernsehers ließ die weißen Kissen in immer wieder
unterschiedlichen Pastelltönen aufleuchten. Ich starrte darauf und wurde zeitweise von den flackernden Schattierungen hypnotisiert. Ich wünschte, ich wäre ein Kissen, dachte ich. »Ich kann dich nicht beschützen, wenn du mir nicht die Wahrheit sagst«, sagte Mom zu mir. Sie griff nach meiner Hand und schaute mir in die Augen. »Also versprich mir, versprich mir, dass du mich nie wieder anlügen oder ein Versprechen brechen
wirst. Versprich mir, dass du ehrlich sein wirst, und das nicht nur mit deinen Worten, sondern auch mit deinen Handlungen«, sprach Mom mit Dringlichkeit weiter. Ich schaute ihr in die Augen und verstand, was sie damit meinte. »Okay«, erwiderte ich. »Ich verspreche es.« Und ich meinte es auch so. Ab diesem Tag ging ich bis zum Äußersten, um jegliche Unehrlichkeit zu vermeiden. Ich fing sogar an, die Anzahl meiner Bisse während des Abendessens zu zählen, einfach nur, falls Mom wissen wollen würde, wie viel ich gegessen hatte. Ich arbeitete unfassbar stark an meiner Perfektion. Ich gab mir große Mühe, ehrlich zu sein, so wie ich es versprochen hatte. Meine Reaktion auf Babys Tod war jedoch eine ehrliche, warum also saß ich jetzt schon wieder allein in meinem Zimmer in der Patsche?


Am nächsten Morgen freute ich mich ausnahmsweise über die Schule. Ähnlich wie der Frieden, den ich in meinem Zimmer fand, fühlte es sich gut an, von Menschen umgeben zu sein, die keine Traurigkeit von mir erwarteten. Niemand aus meiner Klasse oder von meinen Lehrern wusste, dass Baby gestorben war, ich musste mich also nicht dazu zwingen, aufgewühlt auszusehen. Ich durchlebte den Tag, als wäre nichts passiert, denn – aus meiner Sicht – war es ja auch so. Nach Schulende war ich froh, das Auto meiner Großmutter draußen zu sehen. Mom war wahrscheinlich immer noch wütend, also war die Zeit mit meiner Oma im Auto eine Verschnaufpause. Wir plauderten fröhlich auf dem Weg nach Hause. Ich ging davon aus, dass Oma nichts von Baby wusste, es war also alles wie immer. Als wir jedoch in unsere Straße einbogen, fiel mir etwas Komisches auf: Moms Auto stand in unserer Einfahrt. Warum also hatte Oma mich abgeholt, wenn Mom doch da war? Ich stieg aus dem Auto und rannte den Weg zu unserem Haus hoch. Noch bevor ich die Tür öffnen konnte, wurde sie ungestüm von innen aufgerissen. Meine Schwester stand auf der einen Seite, lächelnd, mit einem Stieleis in der Hand. Sie reichte es mir. »Willkommen daheim, Kaat!«, sagte sie zu mir, mich mit dem Spitznamen ansprechend, den sie mir den Sommer zuvor verpasst hatte. »Wollen wir mit den Barbies spielen?« Ich lächelte sie an und nahm das Stieleis entgegen. Über ihre Schulter hinweg konnte ich Mom in der Küche sehen, die dort etwas zu essen zubereitete. Sie hatte mich noch keines Blickes gewürdigt. »Mom«, rief ich ihr zu, während ich das Haus betrat. »Warum hast du mich heute denn nicht abgeholt?«


Sie hob den Blick nicht von der Küchenzeile, auf der sie sorgfältig eine Tomate schnitt. »Weil ich mit deiner Schwester beschäftigt war.« »Und was habt ihr gemacht?«, fragte ich weiter und schaute Harlowe an. »Habt ihr Stieleis zubereitet?« Mom schüttelte den Kopf, während sie die Tomate in eine Schüssel fallen ließ. »Wir haben Baby begraben.« Ich gefror in meiner Bewegung. Kalte Wut stieg von unten auf und füllte meinen Bauch. Ich legte das Stieleis auf die Küchenzeile, das sofort rote Flecken auf dem weißen Resopal hinterließ. »Wa…«, stammelte ich. »WAS?!« Mom legte das Messer hin und drehte sich zu mir um. »Na ja, du hast gestern nicht den Eindruck gemacht, als würde es dich allzu arg interessieren«, führte sie mit fast schon sü santem Klang in der Stimme aus. »Ich dachte also nicht, dass es dich stören würde.« Ihre Aussage war wie ein Schlag in die Magengrube und der Zorn saß jetzt in meinem Hals. »Du lügst«, erwiderte ich leise, während ich mich kaum unter Kontrolle halten konnte. Mom ging einen Schritt auf mich zu. »Was hast du gerade zu mir gesagt?«, fragte sie und bereitete sich schon auf eine Ermahnung vor. Ich schaute ihr in die Augen, ihre absurde Reaktion machte mich noch wütender. Ich konnte meinen Zorn nicht mehr zügeln und griff nach dem nächstmöglichen Gegenstand, einer Glaskanne, die ich dann mit aller Macht gegen die Wand hinter ihr warf. »DU BIST EINE LÜGNERIN!«, schrie ich. Die Kanne zerbarst an der Wand und ließ kleine Glasscherben auf meine Mutter regnen. Harlowe brach in Tränen aus. Ich stapfte aus der Küche und zu meinem Zimmer, meine Entschlossenheit wuchs mit jedem weiteren Schritt. Das Maß war voll. Ich hatte die Schnauze voll. Schlechtes Verhalten, gutes Verhalten, Ehrlichkeit, Lügen; das alles bedeutete rein gar nichts. Alles brachte mich in Schwierigkeiten. Und ich hatte keinen Bock mehr, immer zu versuchen, mich an Regeln zu halten, die sich
andauernd grundlos veränderten. Ab jetzt würde ich nur noch machen, was ich wollte. Was hatte ich schon zu befürchten? Nichts, genau.


Ich betrat mein Zimmer und schmiss die Tür hinter mir zu. Ich hatte jedoch nur ein paar Sekunden der Ruhe, bevor die Tür wieder aufschwang und meine Mutter reingestürmt kam. Das war nicht ansatzweise genug Zeit gewesen, um mich selbst wieder unter Kontrolle zu bekommen, mich wieder zu beruhigen. »Patric!«, schrie sie. »Was ist nur los mit dir?« »Was mit mir los ist?!« Ich zitterte vor Wut. »Du hast meine kleine Schwester aus der Schule genommen, um mein Haustier zu beerdigen!« Ich brüllte jetzt. »UND DU WILLST WISSEN, WAS MIT MIR LOS IST?!« Mom hatte einen kleinen Tropfen Blut auf der Wange, wo sie von einer Scherbe geschnitten worden war. Sie verwischte ihn, während sie einen weiteren Schritt auf mich zu machte. »Ich bin davon ausgegangen, dass es dich nicht interessiert.« Aber sie sagte es deutlich weniger zuversichtlich. »Was für eine gequirlte Scheiße.« Es war das erste Mal, dass ich ein Schimpfwort vor meiner Mutter benutzte und sie auch noch direkt beschimpfte. Aber es war mir egal. »Du warst doch nur sauer, weil ich nicht so reagiert habe, wie du es wolltest. Du warst nur sauer, weil ich nie so reagiere, wie du es willst.« Mom schaute beschämt zu Boden, als meine Worte einen wunden Punkt trafen. »Du wolltest mich damit bestrafen«, fauchte ich. »Du hast das gemacht, weil ich anders bin.«


Mom schaute mich an. Glassplitter glitzerten in ihren Haaren wie Diamanten. »Ich dachte, du würdest etwas daraus lernen«, erwiderte sie mit erschrockenem Gesichtsausdruck. »Und was sollte das bitte für eine Lektion sein?«, fragte ich und trat näher an sie heran. »Dass ich mehr wie alle anderen sein sollte? Mehr wie du?« Ich gab ein sarkastisches Lachen von mir und schüttelte den Kopf in gespieltem Mitleid. »Du bist eine Lügnerin, die von allen anderen um sie herum Ehrlichkeit verlangt. Du bist eine Betrügerin, die von allen anderen Fairness verlangt.« Ich legte eine Kunstpause ein, grinste dann spöttisch. »Ich wäre lieber tot als so wie du.« Meine Worte fielen wie die Klinge einer Guillotine auf sie hernieder. Moms Gesicht wurde bleich vor Schreck und sie ging rückwärts zur Tür. Sie hatte wieder den Ausdruck im Gesicht. »Du«, erwiderte sie atemlos. »Du bist ein ALBTRAUM.« Sie rief: »DU BLEIBST IN DEINEM ZIMMER!« Sie warf die Tür hinter sich zu und rannte nach unten. Ich wartete lange genug, bis ich sicher sein konnte, dass sie weg war, und verließ dann trotzig mein Zimmer. Das Blut pulsierte wild in meinen Adern, als ich den Flur entlangging. Es trieb mich zur Handlung an. Ich hatte die Konfrontation genossen. Meine Familie umging Konflikte gern, ich aber nicht. Ich fand sie aufregend, sogar köstlich. Es gab mir ein Gefühl der Macht. Du willst mir etwas wegnehmen?, dachte ich, während ich gelassen zu ihrem Zimmer ging. Du willst mir etwas Liebgewonnenes wegnehmen und sichergehen, dass ich es nie wiedersehe? Ich lief zu ihrer Kommode mit ihren Lieblingssachen. »Na, das kann ich auch.« In der Schublade befanden sich ihre Rubinohrringe, die sie seit ihrer Kindheit besaß. Meine Urgroßmutter hatte sie ihr gegeben, und sie gehörten zu ihren wertvollsten Besitztümern. Ich nahm sie an mich, warf sie ins Klo und spülte runter. Danach lehnte ich mich in meinem Zimmer gegen die Tür und starrte die gegenüberliegende Wand an. Mein Zorn löste sich in Luft auf, wie auch die Frustration und der Druck, die sich seit Babys Tod angestaut hatten. Ich fühlte nichts. Allerdings mochte ich jetzt – wie in dem leer stehenden Haus – dieses Gefühl des Nichts. Ich begrüßte es. Es entspannte mich. Da meine Mutter eh schon erzürnt war, musste ich mir keine Gedanken über »richtige« oder »falsche« Reaktionen machen. Ich musste mir keine Gedanken über den Stress machen, den die Fassade der Normalität für mich mit sich brachte. Allein in meinem Zimmer musste ich keine gefälschten Reaktionen anbieten, die Gefühle darstellten, die ich nicht hatte. Ich war frei – von Gefühlen, Erwartungen, dem Druck – von allem! »Ich kann einfach ich selbst sein«, flüsterte ich.


Mir fiel ein Zitat aus dem Film Falsches Spiel mit Roger Rabbit ein: »Ich bin nicht schlecht«, sagt darin Jessica Rabbit. »Ich bin nur so gezeichnet worden.« Ich konnte das nachvollziehen. Auch ich war nur so gezeichnet worden. Ich wollte niemandem wehtun oder absichtlich Ärger verursachen. Ich wünschte mir nur, ich könnte das meiner Mutter klarmachen. »Es ist nicht meine Schuld, dass ich nicht so fühle wie alle anderen. Was also soll ich jetzt machen?« Ich warf einen Blick auf mein Bett und stellte fest, dass ich erschöpft war. Ich sank auf meiner Decke in mich zusammen. Mehrere Stunden später erwachte ich schlagartig. In meinem Zimmer war es dunkel und das Haus war still. Was ist los?, dachte ich. Wie spät ist es? Dann erinnerte ich mich. Das Frettchen. Der Streit. Die Ohrringe. Ich seufzte und rollte mich auf die Seite. Harlowe schlief in ihrem Bett neben meinem. Es war nach Mitternacht. Mom musste irgendwann reingekommen sein und sie ins Bett gebracht haben. Ich strich mir über das Gesicht und setzte mich auf. Langsam begriff ich die enorme Tragweite der Situation. Geflüster durchbrach meine Konzentration. Es kam aus Moms Schlafzimmer, sie telefonierte. »Ich wollte doch nur eine Reaktion«, hörte ich sie sagen, leise in den Hörer schluchzend. »Ich weiß, dass es der falsche Weg war, aber ich weiß einfach nicht, was ich machen soll. Sie wirkt, als würde sie nichts fühlen. Als würde es sie nicht kümmern. Als würde sie gar nichts kümmern!« Meine Gedanken rasten. Ich betrat den Flur und schlich mich zu Moms Tür, presste mich dabei an die Wand, sodass sie mich auf keinen Fall sehen konnte. »Baby ist tot«, fuhr sie fort. »Harlowe ist seitdem völlig außer sich vor Trauer. Aber Patric? Nichts! Und das ist nicht mal alles. Heute Nachmittag hat sie eine Kanne nach mir geworfen. Letzten Monat hat die Schule angerufen, weil sie ein paar Kinder im Klo eingesperrt hatte. Ich weiß nicht, was ich tun soll!« Ich verzog das Gesicht. Ich hatte das mit dem Klo schon wieder vergessen. Der Druck war an dem Tag in der Schule unerträglich gewesen. Er hatte sich wochenlang aufgebaut und es hatten aus irgendeinem Grund absolut keine schlechten Taten dagegen geholfen. Im Unterricht hatte es sich angefühlt, als würde ich keine Luft bekommen. Der Raum hatte sich angefühlt, als würde er schrumpfen, und ein bekannter Gedanke hatte sich in mir ausgebreitet: »Was, wenn es nicht aufhört?« Diese Frage trieb mich regelmäßig um. Was wird passieren, wenn ich den Druck nicht unter Kontrolle bekomme? Ich hatte an die Männer im Gefängnis denken müssen und mich dann an den Tag erinnert, als ich Syd den Bleistift in den Kopf gerammt hatte – daran, wie schnell der Druck verschwunden war und wie unglaublich ich
mich danach gefühlt hatte. Und ich hatte versucht, diese Versuchung der Erlösung aus meinen Gedanken zu verbannen. Nein, sagte ich zu mir selbst. Nein. Nein. Nein. Mein Kopf fühlte sich an, als würde er anschwellen, während ich im Unterricht herumzappelte. In der Hoffnung, dass etwas frische Luft helfen würde, meinen Kopf freizubekommen, bat ich um eine Klopause. Eine Gruppe Sechstklässlerinnen schlurfte vor mir den Flur entlang, und nachdem sie den Toilettenraum betreten hatten, schloss sich die Metalltür hinter ihnen mit einem Wumms.
Ich stand neben der Tür. Über der Klinke befand sich ein Riegel, den man von außen zumachen konnte. Das hatte ich immer interessant gefunden. Warum sollte jemand die Toilette von außen abschließen wollen? Und, was noch wichtiger war, was würde passieren, wenn ich es tat?


Der Flur war ein überdachter Verbindungsgang im Freien zwischen den zwei Gebäuden, und die Luft war kühl, als ich nach vorn trat. Ich umfasste den Riegel, und mir fiel auf, wie klein meine Hand im Vergleich zum Metallgriff war. War ich kräftig genug, um ihn zu verschieben? Erst klappte es nicht. Dann erinnerte ich mich daran, wie man unseren Schieber zur Terrasse erst ein wenig nach vorn drücken musste, damit der Riegel greifen konnte. Ich lehnte mich gegen die Tür und merkte, wie der Riegel sich bewegte. Ich drehte ihn leicht, damit er einrasten konnte, dann trat ich ein paar Schritte zurück. Es dauerte nur einen kurzen Augenblick, bis die Mädchen merkten, dass sie eingeschlossen waren, aber für mich fühlte es sich wie eine Ewigkeit der Glückseligkeit an. Es erinnerte mich an die Sprünge auf dem riesigen Trampolin im Sportunterricht. Mir war die Millisekunde am liebsten, in der ich so weit nach oben gesprungen war, wie es ging, aber noch nicht wieder nach unten fiel. Das gab mir ein Freiheitsgefühl wie sonst nichts auf der Welt. Mit einem Mal war der Druck wie weggeblasen. Stattdessen fühlte ich mich ganz ruhig. Ich fühlte mich wie auf Drogen. Und dieses Mal blutete niemand deswegen.


Die Mädchen fingen an, gegen die Tür zu hämmern und zu rufen. Ich hörte ihnen mit leidenschaftslosem Interesse zu. Warum sollte man Angst davor haben, in einer Toilette eingesperrt zu sein? Ich dachte über genau diese Frage nach, als mich eine Stimme vom anderen Ende des Flurs überraschte. »Was zur Hölle ist denn hier bitte los?« Ich drehte mich um und erspähte Frau Genereaux, die Lehrerin der Sechstklässlerinnen. Sie eilte an mir vorbei und schob eilig den Riegel zurück. Die Mädchen drangen mit Tränen überströmten Gesichtern nach draußen. »Warst du das?«, fragte sie mich, fast schon schreiend. »Hast du die Tür abgeschlossen?«


Der Kontrast zwischen meiner krassen Ruhe noch Augenblicke zuvor und der chaotischen Szenerie, die sich jetzt im Flur entwickelte, ließ mich uncharakteristisch gleichgültig zurück. Ich versuchte mich noch an einer gestammelten Verneinung, aber das brachte nichts. Meine Schuld war eindeutig. Frau Genereaux griff noch, bevor ich mich wieder fangen konnte, nach meinem Handgelenk und marschierte mit mir im Schlepptau zur Rektorin. Während ich später im Vorraum auf meine Mutter wartete, durchströmte mich ein seltsames Gefühl der Verwirrung. Ich war noch nie so erwischt worden. Ich habe nicht nachgedacht, versuchte ich, es rational vor mir selbst zu erklären. Und ich wurde mir der Gefahr bewusst, wenn ich den Druck so lange ansteigen ließ. Das hat mich unvorsichtig werden lassen, erkannte ich voller Ernst. Es hat mich gefährlich werden lassen.


Ich musste erneut an die Männer im Gefängnis denken und an Officer Bobby beziehungsweise seine Reaktion auf meine Frage, ob alle Soziopathen hinter Gitter endeten. »Wahrscheinlich«, hatte er gesagt. »Außer sie sind wirklich klug.« Genau das musste ich werden, entschied ich. Wirklich klug. Jemandem Schmerzen (oder Qualen) zuzufügen, war ein garantiertes, sofortiges Ventil gegen den Druck. Ich wusste nicht, warum. Ich wusste nur, dass das, was ich empfunden hatte, als ich Syd den Bleistift in den Kopf gerammt hatte, das beste Gefühl aller Zeiten gewesen war. Es ging nicht nur darum, dass mir alles egal war. Es ging darum, dass es mir egal war, dass es mir egal war. Ich war ein Papierdrachen, schwebte weit oben in der Luft, außer Reichweite des Drucks und des eingeklemmten Stresses sowie jeglicher Erwartungen an meine Gefühlslage. Aber irgendwie wusste ich, dass es immer ein Risiko in sich barg, mir selbst so viel Unmoralität zu erlauben. Es war gefährlich, aber, was noch schlimmer war, es machte süchtig. Auch in diesen jungen Jahren verstand ich: Ich steckte immens viel meiner Energie in den Versuch, den Druck in Schach zu halten. Es kostete hingegen keinerlei Mühe oder Energie, meinem dunkelsten Drang einfach nachzugeben. Oh Gott, ich liebte diese Erlösung. Es fühlte sich an, als könnte ich auf einer Welle der Unterwerfung reiten. Hatte dieses Gefühl einen Namen? »Kapitulation.« Das Wort ging mir plötzlich über die Lippen, als hätte jemand anderes es ausgesprochen. Und ich wusste, dass es stimmte. Gleichzeitig war ich verwirrt. Vor wem oder was sollte ich kapitulieren? Vor meiner dunklen Seite? Meinen »schlechten« Trieben?


Während ich vor Moms Zimmer stand, wollte ich es unbedingt wissen. Meine Gedanken wurden unterbrochen, als sie stockend ins Telefon weinte: »Ich befürchte, ich muss sie aufs Internat schicken.« Ich riss die Augen auf. Internat? Sie schwieg, während die Person am anderen Ende der Leitung sprach. Ich seufzte und ließ meinen Kopf hängen. Fairerweise muss ich hinzufügen, dass ich schon immer einen geheimen Wunsch nach einem Internatsaufenthalt gehegt hatte. Zum Beispiel klang Miss Porter’s School in Connecticut nach einem perfekten Ort für mich als Jugendliche. Immerhin sollte ich demnächst in die Mittelstufe kommen. Ich hatte mir die Details noch nicht allzu genau ausgemalt, aber ich konnte mir gut mich selbst in einer zackigen karierten Uniform vorstellen, mit akkurat geflochtenen Zöpfen, in denen Dutzende Haarklammern versteckt waren, mit denen man gut Schlösser knacken konnte. Ein Neustart, dachte ich. Ein neuer Ort, an dem ich mich unsichtbar machen konnte. Das klang fantastisch. Und doch hasste ich den Gedanken, meine Mutter zu verlassen. Trotz meiner wutentbrannten Worte und des inneren Friedens nach unserem Streit liebte ich Mom. Ich misstraute einer Welt ohne sie als Kompass, ohne ihre Weisung, auch wenn mir so langsam dämmerte, dass diese auch nur eine Illusion sein könnte. Die Weisung würde niemals so ganz zu mir passen.


Warum versteht sie mich einfach nicht?, fragte ich mich frustriert. Vielleicht hätte ich nicht diesen Stress, wenn ich nicht das Gefühl hätte, dass ich andauernd so tun musste, als sei ich wie alle anderen – wenn ich nicht das Gefühl hätte, als müsste ich mich andauernd vor allen anderen verstecken. Vielleicht würde ich dann nicht den Druck verspüren. Ich würde nicht so schlimme Triebe verspüren. Warum kann sie mich nicht einfach verstehen?
Weil es ihr einfach unmöglich ist, erwiderte meine dunkle Seite. Und ich wusste sofort, dass es stimmte. Jemand wie meine Mutter, jemand Normales mit Skrupeln, würde niemals verstehen, wie es war, so zu sein wie ich. Sie würde niemals nachvollziehen können, wie es sich anfühlte, nichts zu fühlen. Sie würde niemals meinen Drang verstehen, anderen wehzutun oder etwas Schlimmes zu machen. Niemand konnte das. Trotz Moms beharrlicher Forderungen nach der Wahrheit konnte sie diese nicht ertragen. Und tief in mir wusste ich, dass es unfair war, das weiterhin von ihr zu verlangen. Mir fiel auf, dass ich auf die Toilette musste. Ich schlich mich möglichst leise dorthin und hob den Deckel. Das war der Moment, in dem ich die Ohrringe nebeneinander am Boden der Schüssel entdeckte. Das Wasser hatte nicht genug Druck gehabt, um sie wegzuspülen. Ich griff in die Schüssel und holte sie raus. Beim Abtrocknen erfüllte mich ein Gefühl des Verständnisses für meine Mom. Sie wusste es nicht besser, dachte ich. Und es ist ihr gegenüber unfair.


Ich betrat wieder den Flur. Moms Tür war nicht mehr offen. Sie musste mich im Bad gehört und sie geschlossen haben. Ich presste mein Ohr an das Holz und hörte, dass sie weiterhin am Telefon war, verstand jetzt allerdings nicht mehr, was sie sagte. Das machte nichts. Ich wusste bereits, was zu tun war. Ich starrte die Ohrringe an und erinnerte mich daran, wie gut sich der Gedanke angefühlt hatte, als ich dachte, ich hätte sie zerstört. Ich habe so arg die Kontrolle verloren, dachte ich. Und dann habe ich etwas Gemeines getan und war ganz gelassen. Und das war schlimmer, denn ich mochte dieses Gefühl. Mir war bewusst, dass dies ein schlechtes Zeichen war. Allerdings fühlte ich mich nicht schlecht. So wie in dem Moment, als Mom mir erzählt hatte, dass Baby tot war und sich so viele meiner Gefühle anfühlten, als seien sie entfernt von mir, wie ein Schatten an der Wand. Und die Gefühle, die in mir widerhallten (wie Freude und Wut), waren oft auch nur flüchtiger Natur, als könnte ich sie mithilfe eines Schalters an- und abstellen. Ich machte eine Faust. Die Rückseiten der Ohrringe gruben sich in meine Handflächen, und ich ließ es zu. Mit einem Blick zurück auf Moms geschlossene Zimmertür verspürte ich eine Welle der Traurigkeit. Ich wusste, ich würde die emotionale Verbindung zu jemandem, so labil sie auch sein mochte, vermissen. Auch wenn ich sie vielleicht nicht körperlich verlassen würde, so wusste ich doch, dass ich ihr nie wieder die Wahrheit würde sagen können. Zumindest nicht die ganze Wahrheit. Was aber werde ich ohne sie machen?, fragte ich mich.


Der Gedanke, dass ich psychologisch nun nicht mehr mit meiner Mutter verbunden war, gab mir ein absolut mulmiges Gefühl, aber ich schob das Unbehagen zur Seite. Nein, dachte ich eindringlich. Du kannst ihr nicht mehr vertrauen. Das ist nicht ihre Schuld, aber du wirst weiterhin den Preis dafür bezahlen, wenn alles so läuft wie bisher. Das war die Wahrheit. Meine Mutter hatte mich möglichst weit gebracht, so weit sie eben konnte, aber wie mit einem Auto, das man nicht für eine beschwerliche Reise vorbereitet hatte, ging sie immer mehr kaputt. Mom würde niemals verstehen oder akzeptieren können, wer ich war. Und ich würde niemals ändern können, wer ich war. Ich würde einfach mein wahres Ich vor ihr verbergen müssen. Ich lehnte mich mit geschlossenen Augen gegen ihre Schlafzimmertür und ruhte meinen Kopf auf der Rückseite meiner Hand aus. »Ich liebe dich so sehr, Mom«, flüsterte ich. »Aber ich kann mein Versprechen nicht halten.«


Einige Minuten später ging ich zu meinem Zimmer zurück. Harlowe schlief noch immer. Ich öffnete unseren gemeinsamen Wandschrank und kletterte nach hinten in den Kriechzwischenraum am hinteren Ende, in dem ich all meine liebsten Schätze hinter einem kaputten Belüftungsschacht versteckt hatte. Ich zog an dem Gitter und löste es aus der Wand, womit ich allen möglichen Krimskrams offenlegte, den ich im Laufe der Jahre zusammengesammelt hatte. Ich legte die Ohrringe zwischen Ringo Starrs Brille und einen Schlüsselbund, den ich mal von einem Lehrer, den ich nicht mochte, geklaut hatte. Die Verwegenheit ihres rubinroten Funkelns schien gegen die Ungerechtigkeit ihrer neuen Ruhestätte protestieren zu wollen. Morgen werde ich mich entschuldigen, entschied ich für mich. Ich würde meiner Mutter erklären, dass sich meine Trauer über Babys Tod erst später eingestellt hatte, und dass ich wie neben mir gewesen sei, als ich so mit ihr gesprochen hatte. Und Mom würde, da sie sich schließlich schon aufgrund ihrer eigenen Handlungen schuldig fühlte, meine Entschuldigung annehmen. Sie würde mir glauben, dass meine Tränen aufrichtig seien, solange ich sie nur fließen ließ. Danach würde ich endlich so handeln wie das Mädchen, das sie so gern in mir sehen würde. Ich würde die Finsternis einfach für mich behalten. So würde ich auf der sicheren Seite sein. Ich würde meine Unabhängigkeit annehmen, statt mich vor ihr verstecken zu wollen. Ich würde aufhören, mich selbst verändern zu wollen. Stattdessen werde ich einen Weg finden, um unsichtbar zu werden, entschied ich.


Die Erleichterung ob dieser Entscheidung setzte augenblicklich ein. Ich lächelte leicht vor mich hin, während meine Gedanken zurück zu dem intensiven Gefühl der Befreiung drifteten. Ohne diesen Stress, normale Reaktionen hervorrufen zu müssen, oder die Angst vor dem ansteigenden Druck konnte ich einfach ich sein. Das gefiel mir ziemlich gut. Ich war gern … ich. Ich war gern frei. Vielleicht ist es gar nicht so schlimm, allein zu sein, grübelte ich. Immerhin war ich durchaus zu guten Entscheidungen in der Lage. Und um mir das zu beweisen, werde ich Moms Ohrringe zurücklegen, sobald ich unbeobachtet in ihr Zimmer zurückkann, dachte ich. Als ich aber das Gitter wieder zurücksteckte und rückwärts aus dem Schrank kroch, scheute sich ein Teil von mir vor dieser Entscheidung. Mom hatte sich vielleicht selbst davon überzeugt, dass sie nur helfen wollte, aber was sie getan hatte, war schlichtweg gemein gewesen, und vor allem vorsätzlich. »Handlungen haben Konsequenzen«, sagte sie immer so gern. Meine dunkle Seite stimmte dem zu. Wenn man bedachte, was Mom mit Baby getan hatte, hatte sie den Verlust ihrer Ohrringe vielleicht doch verdient. Hör auf damit, sagte ich zu mir selbst und wehrte mich gegen die Finsternis. Du stehst jetzt auf eigenen Beinen. Du musste jetzt klüger sein.


Ausgelaugt ging ich zurück ins Bett. Gegenüber war ein Fenster, durch das man einen Zaun und dahinter das Meer sehen konnte. Ich starrte hinaus und beobachtete eine Katze, wie sie oben auf dem Zaun entlanglief. Ich wünschte, ich wäre eine Katze, dachte ich schläfrig. Und war, noch bevor ich mich versah, eingeschlafen.