Mrs. Rabbit Ich heiße Patric Gagne, und ich bin eine Soziopathin. Ich bin leidenschaftlich gern Mutter und Ehefrau. Ich bin eine einnehmende Therapeutin. Ich bin unglaublich charmant und beliebt. Ich habe viele Freunde und Freundinnen. Ich bin Mitglied in einem Countryclub.
Mrs. Rabbit
Wir zogen ein paar Monate später um. Das Stadthaus, so hatte Mom entschieden, war »zu erdrückend«. Sie wollte etwas anderes. Und so entschied sie sich nach ausgiebiger Suche für ein größeres und besseres Haus. »Das hier«, so sagte sie, würde unser »Für-immer-Zuhause« werden.
Ich mochte das neue Haus. Es hatte einen Pool, drei Schlafzimmer auf einer Etage – ich musste mir also nicht mehr eins mit meiner Schwester teilen – und es war nah genug am Strand, dass ich nachts beim Einschlafen immer noch die Wellen zählen konnte. Mein Zimmer, mit seinem riesigen Fenster nach vorn raus, war eine eigene kleine Welt. An dem Abend unseres Einzugs hatte ich stundenlang auf dem Bett gesessen und nach draußen gestarrt. Es erinnerte mich an C. S. Lewis’ Der König von Narnia, an Lucys geheimen Durchgang in die fantastische Welt. Das ist wie mein ganz eigener Eingang, dachte ich. Ich könnte einfach durchlaufen, wenn ich wollte. Und ich wollte es. Wie mein begrenzter Zugang zu Gefühlen war für mich auch das Konzept von Grenzen eher ein verworrenes. Das verfestigte mein Verständnis, dass ich anders war als Gleichaltrige. Die meisten Kinder schienen den Gedanken von Beschränkungen einfach so annehmen zu können. Sie wussten, wann sie anhalten und wann sie zu laufen hatten. Sie hatten eine emotionale Verbindung zu Richtig versus Falsch. Bei mir hingegen war das nie der Fall, vor allem nicht bei Regeln, bei denen ich das Gefühl hatte, sie seien offen für eigene Interpretationen. Wie das Stehlen von Gegenständen. Und das Lügen. Und das Einbrechen in unser altes Haus, um noch was zu holen, was ich brauchte.
Es war eine Woche nach unserem Umzug. Ich saß in meinem Zimmer und packte Kisten aus, als ich mein Medaillon plötzlich nirgends finden konnte. Auf der Suche danach durchsuchte ich mein gesamtes Zimmer, doch dann wurde ich mir der Realität bewusst: Ich hatte es hinter dem Gitter in meinem alten Wandschrank zurückgelassen. Entsetzt rannte ich in die Küche, in der meine Mom gerade unser Frühstücksgeschirr wegräumte. »Mom«, sagte ich zu ihr. »Ich muss noch mal in unser altes Haus zurück, ich habe da was im Wandschrank vergessen.« »Liebes, das kannst du nicht«, erwiderte sie traurig. »Sobald man ausgezogen ist, gehört alles, was man zurückgelassen hat, den neuen Besitzern. Das steht so im Gesetz.« Sie schüttelte verständnisvoll den Kopf. »Es tut mir leid, Süße.« Ich stapfte zurück in mein Zimmer und unterdrückte das Bedürfnis, zu schreien. Scheiß auf das Gesetz, dachte ich. Und scheiß auf Mom, die nicht proaktiver, nicht kreativer war. Das Medaillon gehörte mir. Ich konnte es nicht einfach dort zurücklassen. Ich wusste, dass niemand es jemals finden würde. Im Gegensatz zu allem anderen hinter dem Gitter hatte ich das Medaillon als weitere Sicherheitsmaßnahme unter einem losen Backstein versteckt. Ich hatte es so gut versteckt, dass selbst ich vergessen hatte, dass es dort war, als ich an dem Abend vor unserem Umzug meine Schätze hervorgeholt hatte.
»Drecksscheiße«, zischte ich leise. Ich war normalerweise akribisch, machte nicht solche Fehler. Ich verlor nicht einfach Sachen oder mein Zeitgefühl oder VERGASS, MIR DAS EINZIGE, WAS MIR WIRKLICH WICHTIG WAR, VOR UNSEREM WEGZUG AUS SEINEM BESCHISSENEN VERSTECK ZU SCHNAPPEN. Ich murmelte den letzten Teil vor mich hin, während ich eine Kiste voller Schrott aus der Garage umtrat. Eine Fahrradklingel rollte auf den Boden und brachte mich auf eine Idee. Das Stadthaus war nur ein paar Straßenzüge entfernt. Wenn ich aus dem Fenster schaute, konnte ich die Hauptstraße sehen, die unsere neue Nachbarschaft mit dem Anfang unserer alten verband. Das ist nicht so weit, dachte ich. Das schaffe ich allein. Also schritt ich zur Tat. Kurze Zeit später stand ich unterhalb eines der Badfenster an der hinteren Seite des Stadthauses. Ich wusste, dass das Schloss kaputt war, denn meine Schwester hatte Jahre zuvor den Riegel zerbrochen, und Mom hatte sich nie die Mühe gemacht, ihn zu reparieren. »Das Fenster ist so klein«, hatte sie gesagt. »Da mache ich mir keine Sorgen, dass irgendwelche bösen Typen durchpassen könnten.« Das Fenster öffnete sich problemlos und ich lächelte, während ich es aufstieß und mich nach innen stemmte. Mom hatte recht. Ein böser »Typ« hätte nicht durchgepasst, aber ein böses Mädchen schon. Ich glitt die Wand nach unten, bis ich den Boden unter den Füßen spürte und wartete, lauschte. Es klang nicht so, als wäre jemand zu Hause. Perfekt, dachte ich. Ich schaute auf die Uhr. Ich hatte Mom versprochen, dass ich nur dreißig Minuten weg sein würde. Bis jetzt waren es zehn. Das gibt mir noch zehn Minuten, um das Medaillon zu holen, und zehn, um wieder nach Hause zu kommen, dachte ich und übte mich ein wenig in neuer Algebra. Ausreichend Zeit also. Ich steckte die Nase durch den Türspalt, um einen Blick in die Küche und das Wohnzimmer zu werfen. Überall standen wahllos viele Kisten und Möbel herum. Aber keine Menschen. Ich verließ das Badezimmer und ging den Flur entlang, durch das Esszimmer und die Treppe hoch. Die Tür zu meinem alten Zimmer war zu und einen Augenblick lang verlor ich mich in der Nostalgie, in der Erinnerung daran, wie es vor unserem Auszug ausgesehen hatte. Ich hatte mich so sehr in meiner Tagträumerei verloren, dass ich nicht mal daran gedacht hatte, das Zimmer vor dem Betreten zu überprüfen. Ich stieß die Tür auf und erschrak, denn auf dem Boden saß ein Mädchen. Sie hatte ein Notizbuch mit einem Pferd vorn drauf auf dem Schoß und malte gerade die weißen Hufe grell pink aus. Ich keuchte auf und das ebenso schockierte Mädchen starrte mir in die Augen. Sie sah aus, als sei sie ungefähr in meinem Alter. »Wer bist du?«, fragte sie mich. »Ich heiße Patric«, erwiderte ich und fing mich schnell wieder. »Ich habe früher hier gewohnt.« Das Mädchen blinzelte mehrere Male. »Ich heiße Rebecca«, sagte sie dann zögerlich.
Ich lächelte und beruhigte uns beide damit. »Es tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe!« Ich lachte, legte mir die Hand aufs Herz und lehnte mich leicht nach vorn. Das war eine von Harlowes Eigenarten, die die Menschen zu mögen schienen. »Ich habe unten gerufen, aber es hat niemand geantwortet.« Rebecca lächelte mich schüchtern an. »Ach«, sagte sie. »Das ist … okay. Meine Eltern haben sicherlich einfach die Tür offen gelassen. Sie sind nur schnell was einkaufen gegangen … sind aber gleich zurück.« Den letzten Teil hatte sie schnell hinzugefügt und ich konnte ihr die Nervosität ansehen. Ich jedoch war nicht nervös.
»Super.« Ich ging ein paar vorsichtige Schritte zum Wandschrank und sagte: »Weißt du, das war früher mein
Zimmer.« Ich griff mit der Hand nach der Schiebetür. »Ich dachte, ich hätte alles eingepackt, bevor wir ausgezogen sind.« Während ich redete, drückte ich die Tür auf. »Aber heute Morgen fiel mir auf, dass ich etwas vergessen habe.« Ich stieg in den Wandschrank. »Also hab’ ich mir gedacht, ich komm’ und hol’ es
mir.« Ich drehte mich um, kniete mich vor das Gitter und riss es auf. »Hey, Rebecca!«, rief ich ihr zu. Ich wollte sie weiterhin im Auge behalten, um sicherzustellen, dass sie nichts Dummes tat. »Schau mal hier.« Sie tauchte in der Tür neben mir auf. »Was ist das?«, fragte sie und betrachtete das Loch in der Wand. »Das habe ich als Geheimversteck benutzt«, erwiderte ich. »Das kannst du auch, wenn du willst.« Rebecca stand hinter mir,
während ich den losen Backstein hochhob und die Halskette hervorholte. Ich schloss die Finger um das Medaillon zu einer Faust zusammen. Meine Erleichterung war unbeschreiblich groß. »Oh, krass«, sagte sie zu mir. »Das ist ja mega cool.« Ich steckte das Gitter vorsichtig wieder zurück und stand auf. »Ja,« erwiderte ich. »Das ist ein super Geheimnis.« Ich wartete darauf, dass Rebecca etwas erwidern würde, aber sie nickte nur.
Nach ein paar Augenblicken der Ungeduld lächelte ich sie höflich an und manövrierte mich an ihr vorbei zurück ins Zimmer. Ich hielt an der Tür kurz inne. »Na ja«, sagte ich. »Bis bald dann mal.« Rebecca lächelte. »Bis bald.« Ich winkte ihr zu, lief rückwärts aus dem Zimmer. Dann raste ich die Stufen nach unten, aus der Haustür raus und schaffte es mit nur wenigen Sekunden Puffer wieder nach Hause zu meiner ahnungslosen Mutter.
In dieser Nacht, mit dem Medaillon sicher in seinem neuen Versteck, lag ich im Bett und dachte über mein Abenteuer nach. Das war geil, dachte ich. Und der Grund dafür, mutmaßte ich, war, dass ich mich nicht von dem Druckgefühl hatte zu dem Gang drängen lassen. Diese »böse« Sache, die ich gemacht hatte, war nicht etwas gewesen, was ich hatte tun müssen. Es war etwas, was ich tun wollte. Ich wusste, dass es aus technischer Sicht falsch gewesen war, aber das war mir egal. Ich fühlte mich keinesfalls schlecht deswegen. Tatsächlich wollte ich es wieder tun.
Ich verstand langsam, warum ich … irgendetwas fühlte, wenn ich schlechte Sachen machte. Auch wenn es immer nur kurz war, so gab es mir doch das Gefühl einer Verbindung zu dem, was alle anderen andauernd fühlen mussten. Versteckt unter meiner Oberfläche wartete der Drang, mich herumzutreiben, zu stehlen oder zu lauern, manchmal sogar zu verletzen. Das lag nicht daran, dass ich das tun wollte, sondern weil ein Teil von mir verstand, dass ich mich dann besser fühlen würde. Es ließ mich fühlen, Punkt.
Mein gemäßigtes schlechtes Verhalten war eine Form des Selbstschutzes – ein unbeholfener Versuch, mich selbst davon abzuhalten, etwas wirklich Schlimmes zu tun. Die meiste Zeit hatte ich solches Verhalten rein zufällig an den Tag gelegt. Weil ich nach wie vor die Verbindung zu meiner Mutter aufrechterhalten wollte, war ich vorsichtig damit gewesen, hatte dem Drang nur nachgegeben, wenn ich wirklich musste. Aber jetzt lagen die Dinge anders. Ohne die Bürde, in den Augen meiner Mutter »gut« zu sein, war der Gedanke der Freiheit aufregend. Es bestand nur das Problem, dass ich mir ein wenig unsicher war, wie ich meine Handlungen steuern sollte. Auf mich allein gestellt, ohne etwas oder jemanden, der mich stoppte, könnte meine dunkle Seite das Ganze zu sehr auf die Spitze treiben, dessen war ich mir bewusst. Was aber wäre, wenn ich, statt gegen meine dunkle Seite zu arbeiten, ein Abkommen mit ihr schloss?
Meine Gedanken schweiften ab zu der Farm meines Großvaters in Mississippi und den Wildpferden, die er dort dressierte. »Am Anfang sind sie verrückt«, hatte Granddaddy mir mal erklärt. Wir befanden uns auf einer Graskoppel in der Nähe der Scheune. Ein junges Pferd stand neben dem Zaun und ich beobachtete meinen Großvater dabei, wie er darauf zuging und ihm vorsichtig ein Halfter umlegte. Das Pferd wehrte sich erst, beruhigte sich dann aber wieder. Granddaddy fuhr leise fort: »Sie treten. Sie buckeln. Sie versuchen, dich abzuwerfen. Wenn du aber dranbleibst, kannst du ihr Vertrauen gewinnen.« Er zog langsam an dem Halfter, brachte das Tier dazu, sanft den Kopf zu senken. »Du führst Druck ein, sodass sie lernen, ihren Willen abzulegen«, zeigte er mir. »Und, was noch viel wichtiger ist …«, Granddaddy griff in seine Tasche und holte eine Handvoll Zucker raus, »du belohnst sie dann für ihren Fortschritt, um ihren Gehorsam zu fördern.« Das Pferd mampfte eifrig auf der Belohnung herum und ich kicherte. »Und so«, sagte er augenzwinkernd, »reitet man ein Pferd zu.«
In meinem Zimmer entschied ich daher nun, dass ich mithilfe dieser Technik mit meiner dunklen Seite umgehen würde. Ich wollte sie jedoch nicht zureiten, nicht ihren Willen brechen, sondern sie zähmen. Und ich würde noch an diesem Abend damit beginnen.
Ich verließ das Bett und öffnete das riesige Fenster. Das Rauschen des Meeres drang mir ans Ohr, während der Wind ins Zimmer strömte und mir Salzluftküsse ins Gesicht drückte. Wie erwartet war der Drang, raus in die Nacht zu kriechen, fast nicht zu bändigen. Aber ich hielt durch. Ich stand einige Momente lang einfach nur da, sonnte mich in der Genugtuung meiner eigenen Disziplin. Dann zwang ich mich wieder zurück ins Bett.
Die nächsten Wochen lief es so weiter. Sobald die Sonne untergegangen war, schloss ich meine Zimmertür, machte die Lichter aus, öffnete das Fenster und schaute raus. Eine Zeit lang war das genug. Aber dann entschied ich eines Nachts, dass ich die Zügel etwas lockerer halten würde.
Es war abends unter der Woche, das Haus war still. Aus meinem silbernen Ghettoblaster auf meiner Kommode ertönte leise die Ballade »Sweet Jane« der Cowboy Junkies. Ich schritt durch den Raum und öffnete sachte das Fenster, gedämpft vor mich hin singend. »Heavenly widened windows, seem to whisper to me …« Das war eine meiner liebsten Beschäftigungen: die Texte zu den Melodien, die ich mochte, umschreiben. Da es so viele Lieder über Emotionen gab, war es oft schwer für mich, sie nachzuempfinden. Aber mit kleinen Veränderungen hier und da genoss ich das Mitsingen viel mehr. »Heavenly widened windows, seem to whisper to me«, sang ich erneut, »and I smile.« Die Wand hoch in Richtung Kante kletternd schubste ich das Fliegengitter weg und zog mich seitlich auf den Fenstersims. Ich starrte auf die Straße. Das Mondlicht zeichnete meinen gesamten Körper entlang eine Linie und beleuchtete meine linke Hälfte mit seinem hellen Schein. »Zur Hälfte Licht, zur Hälfte Dunkelheit«, sagte ich mit einem Grinsen. Diese Ausgeglichenheit war belebend. Ich lehnte mich zurück, warf einen Blick über den Garten hin zum Gehsteig und beobachtete die nächtlichen Spaziergänger. Auf unserer Straße, so nah am Strand, waren immer viele Menschen zu Fuß unterwegs. Es müssen nahezu ein Dutzend Fußgänger und Fußgängerinnen an diesem Abend gewesen sein. Aber sie konnten mich nicht sehen, denn ich wurde von den Schatten der großen Eiche in unserem Vorgarten versteckt, war selbst für die unsichtbar, die genau in meine Richtung schauten. Aber dennoch war ich da und beobachtete sie.
Wer sind diese Menschen?, fragte ich mich. Was machen sie? Wo gehen sie hin? Ich wünschte, ich könnte es herausfinden. Dann überkam es mich: Vielleicht kann ich das ja. Es war der Mann mit dem deutschen Schäferhund, den ich schon einige Male gesehen hatte und so interessant fand. War er verheiratet? Hatte er Kinder? Wo wohnte er? Es konnte nicht weit von hier sein; er lief fast täglich bei uns vorbei. Ich beobachtete
ihn, während er vor unserem Haus die Straße überquerte. Und dann – ohne groß darüber nachzudenken – manövrierte ich langsam meinen Fuß aus seiner bisherigen Position auf die Außenseite des Fensters und setzte ihn auf den Boden. Das war viel einfacher, als ich immer gedacht hatte. Ich hielt inne und wartete auf irgendeine Reaktion, wie eine Welle der Aufregung oder die Stimme meiner Mutter, die mich anschrie, wieder nach drinnen zu kommen. Doch nichts passierte. Ich war allein. Ich drehte meinen Körper und ließ auch den anderen Fuß auf den Boden gleiten. Die Gärtner hatten Mulch zwischen den Büschen unterhalb meines Zimmerfensters verteilt und die Stücke fühlten sich nass an meinen nackten Füßen an. Da fiel mir auf, dass ich Schuhe brauchte. Ich sollte mir ein Paar holen, dachte ich. Aber der Mann und sein Hund liefen zügig, sodass mir nicht viel Zeit blieb. Also lief ich ohne los.
Ein ruhiges Gefühl pulsierte langsam durch mich hindurch, während ich ihm folgte. Es fühlt sich so gut an, etwas zu fühlen, dachte ich. Ich ging etwas schneller. Er stand an einer Kreuzung ein paar Häuser weiter, und ich wollte ihn nicht aus den Augen verlieren, daher rannte ich los, als er abbog und ich ihn nicht mehr sehen konnte. Der Saum meines Nachthemds wurde beim Sprint über den Nachbarrasen, den ich als Abkürzung nutzte, nass, und dann sah ich ihn wieder. Der Mann lief eine Einfahrt zu einem Haus an der Straße hinter unserem Haus hoch. Es war mir vorher noch nie aufgefallen. Das Garagentor war offen und blieb es auch, nachdem er das Haus schon betreten hatte und in die Küche gegangen war, wo ihn eine Frau erwartete. Von meiner Warte aus konnte ich alles durch ihr Wohnzimmerfenster beobachten. Ich schüttelte den Kopf. Warum lassen die Menschen ihre Gardinen offen, obwohl das Licht drinnen leuchtet und es draußen dunkel ist? Das war wie eine Einladung. Der Mann küsste die Frau, die ein Baby in einen Hochstuhl setzte. Sie sind eine Familie, observierte ich. Ich schlich mich näher ran. War das Baby ein Junge oder ein Mädchen? Ich konnte es nicht erkennen. Ich ging noch ein paar Schritte weiter, bis ich nur noch wenige Zentimeter entfernt war. Die Frau öffnete eine Flasche Wein, und der Mann lächelte sie an. Es sah alles so normal und wunderbar aus. Eines Tages werde ich so sein wie sie, dachte ich. »HEY!«, rief jemand. »Was machst du da?« Ich wirbelte herum und sah ein älteres Ehepaar an der Straße stehen. Sie liefen jede Woche mehrmals mit einem jüngeren Mann, der vermutlich ihr Sohn war, bei uns vorbei. Ich trat von dem Fenster zurück. Der Vollmond ließ mein hellblaues Nachthemd in brillantem Weiß aufleuchten, was dem Mann unbehaglich war. Er hatte nicht damit gerechnet, ein junges Mädchen zu sehen. Ich zwinkerte ihnen zu und legte den Finger an die Lippen. »Psssssst«, flüsterte ich spielerisch. »Wir spielen Verstecken.« Dann warf ich ihnen ein schalkhaftes Grinsen zu und rannte davon. Der seitliche Garten führte zu einem Park, von dem ich wusste, dass er nur ein kurzes Stück von unserem Haus entfernt lag. Der Mond erhellte mir den Weg und ich kroch in null Komma nichts wieder zurück durch mein Fenster.
In dieser Nacht lag ich sehr zufrieden mit mir selbst im Bett. Ich hatte der dunklen Seite ein wenig Spaß gegönnt, aber immer die Zügel in der Hand behalten. Ich hatte Grenzen gesetzt – meine Grenzen. Meine dunkle und meine helle Seite bekämpften sich nicht mehr gegenseitig, sondern koexistierten. Und dennoch
musste ich noch ein paar Sachen rausfinden. Ein Einbruch in unser altes Stadthaus und das Verfolgen von Fremden nach der Schlafenszeit waren nicht die »richtigen« Sachen, die ich tun sollte. Das wusste ich mit Sicherheit. Aber wer entschied das? Wen verletze ich denn damit? Wenn Disziplin und Grenzen meine dunkle Seite in Schach hielten, dann wirkte das auf mich eher so, als wären nur ausdrücklich verletzende Handlungen wirklich »schlecht«. »Alles andere ist Freiwild«, sagte ich zu mir selbst. Ich fand ein Notizbuch und einen Stift in meinem Nachttisch und fing eine Liste an.
PATRICS REGELN schrieb ich.
1. NIEMANDEN VERLETZEN
Ich starrte die Seite einige Augenblicke lang an und lehnte mich dann zufrieden im Bett zurück. Das mag jetzt erst einmal nur eine Regel sein, aber für mich war es der Beginn eines sehr wichtigen Verhaltenskodexes. Auch wenn ich die meisten meiner schlimmsten Impulse immer unter Kontrolle hatte, so wusste ich doch nur allzu gut, dass physische Auseinandersetzungen mit anderen den klarsten Effekt auf den Druck in meinem Kopf hatten. Sei es das Rammen eines Bleistifts in Syd oder das Einsperren der Mädchen in der Toilette – ich wusste, dass ich mich lebendig fühlte, wenn ich anderen Menschen etwas Böses antat. Dennoch wusste ich ebenfalls, dass es keine langfristige Lösung sein konnte, anderen wehzutun. Auch das war eine Entscheidung zum Wohle des Selbstschutzes. Gewalttaten, wie effektiv sie auch den Druck reduzieren konnten, zogen viel Aufmerksamkeit auf sich und erhöhten die Gefahr, erwischt zu werden. Ich muss etwas weniger Extremes finden, dachte ich. Tatsächlich waren meine Möglichkeiten bis zur Middle School begrenzt gewesen. Als Kind waren Diebstahl und der gelegentliche Einbruch meine einzigen Ventile zur Druckminderung gewesen. Aber jetzt, wo ich älter war – und ohne die Fessel des mütterlichen Gewissens –, konnte ich mit anderen Methoden herumexperimentieren. In den nachfolgenden Monaten schlich ich mich weiterhin raus und verfolgte diverse Fremde durch unsere Nachbarschaft. Weil diese Methode der Regelverletzung Grenzen hatte, ging ich davon aus, dass ich endlich lernte, wie man Disziplin aufrechterhielt, und dass ich es ganz allein hinbekam. (Dass ich eigentlich Menschen stalkte wie eine Verrückte, kalkulierte ich nie in meine Entscheidungsfindung ein.) »Was der Mensch nicht weiß, macht ihn nicht heiß«, war zu meinem Mantra geworden. Im Einklang mit diesem Glaubenssatz nutzte ich Täuschung als natürliches Schutzschild. Lügen war mir schon immer leichtgefallen, und das nicht nur aufgrund meiner Charaktereigenschaften. Unehrlichkeit war für jemanden wie mich, zumindest meiner Ansicht nach, die logische Konsequenz. »Im Zweifelsfall die Wahrheit sagen. Die Wahrheit hilft den Menschen, etwas zu verstehen.« Je mehr ich darüber nachdachte, desto weniger glaubte ich daran. Als Kind, das niemals Reue empfand und nur selten Angst verspürte, hatte die Wahrheit den Menschen nie dabei geholfen, mich besser zu verstehen. Für gewöhnlich war sie sogar die verlässliche Ursache dafür, dass die Menschen nur noch unverständlicher für mich wurden und ich noch mehr in Schwierigkeiten geriet. Die Menschen verärgerte es meist, wenn ich ihnen die Wahrheit sagte. Lügen hatten mich wiederum immer geschützt.
Diese Lebensstrategie erinnerte mich an »Erobere die Fahne«, ein Spiel, das wir in der Schule spielten. Man wurde in Teams auf den gegenüberliegenden Spielfeldseiten eingeteilt, und jedes Team bekam eine Flagge, die es auf der »Basis« verstecken musste. Um die Flagge des anderen Teams zu finden, musste man dessen Basis finden. Und die einfachste Art, um das zu tun, so argwöhnte ich recht schnell, waren Lügen. »Hey«, sagte ich zu einem Jungen namens Everett, während ich lässig auf das gegnerische Team zulief. »Wo ist die Flagge? Ich bin dran mit bewachen.« Everett starrte mich an. »Wovon redest du?«, fragte er. »Du gehörst nicht zu meinem Team.« »Wovon redest du?«, schoss ich zurück, die Hände fest in die Hüfte stemmend. »Du denkst also, ich würde hier einfach so rumstehen, wenn ich nicht in deinem Team wäre?« Ich rollte mit den Augen in seine Richtung, weil er angefangen hatte, sich über mich lustig zu machen. »Egal«, erwiderte er. »Du bist ein Mädchen.« »Das ist doch der Sinn dahinter, du Dummkopf.« Ich drehte mich um, schaute über meine Schulter zurück und nickte in Richtung meines tatsächlichen Teams. »Die würden niemals denken, dass wir ein Mädchen die Basis bewachen lassen würden.« Everett gab mir ein abfälliges Grinsen zurück und führte mich zur Flagge. Ich wartete, bis er genügend Sicherheitsabstand von mir hatte, und steckte sie mir dann in die Tasche, um entspannt auf die andere Seite des Feldes zu laufen. »Warte fünf Minuten und sag dann, du hättest sie im Gebüsch gefunden«, sagte ich zu meinem Teamführer, als ich ihm die Flagge übergab. Er schaute mich ungläubig an. »Willst du dafür gar keine Anerkennung?« »Nee«, erwiderte ich kopfschüttelnd. »Ich will nur den Sieg.«
So dachte ich auch über das Leben. Ich wollte keine Aufmerksamkeit oder Anerkennung, ich wollte einfach nur meine Ziele erreichen, um mein Leben nach meinen Regeln zu leben. Lügen waren eindeutig der beste Weg dafür. Es war wie eine Superkraft, deren Nutzung ich mir erst neuerdings erlaubte. Unehrlichkeit machte mich nicht nur unsichtbar, sie machte mich unschlagbar. Sie bedeutete, dass all das, was ich über mich selbst wusste, aber nicht ändern konnte – wie etwa, dass ich keine Reue oder Angst verspürte –, nicht gegen mich verwendet werden konnte.
Ich stellte fest, dass ich es fast mehr als alles andere liebte, mit meinen Geheimnissen allein zu sein. Ich liebte es, allein zu sein, Punkt. Wenn ich allein war, war das die einzige Zeit, in der ich einfach wirklich ich selbst sein konnte – und völlig frei. In der Mittelstufe hatten wir nach dem Mittagessen drei Stunden, die jeweils von Lehrern und Lehrerinnen gegeben wurden, die lange vor der Mittagszeit schon überarbeitet und überfordert waren. Ich wette, es würde niemandem auffallen, wenn ich nicht da bin, dachte ich eines Tages. Ich sollte einfach schwänzen. Also tat ich später am Nachmittag genau das. Anstatt mit meinen Klassenkameradinnen fürs Mittagessen in Richtung Cafeteria zu laufen, verschwand ich, überquerte nonchalant den Parkplatz und lief zur Straße, wo ich darüber staunte, wie leicht das gerade gewesen war. Zu Hause behielt ich mein Handy im Blick, denn ich ging nun doch davon aus, dass jemand aus der Schule meine Mutter über mein Fehlen informieren würde. Es war doch sicherlich jemandem aufgefallen, dass ich weg war, und man würde zu Hause anrufen. Doch das passierte nie.
Selbst nach mehreren Wochen, in denen ich das alle paar Tage wiederholt hatte, rief niemand je zu Hause an. Da mich nun nichts mehr aufhielt, entschied ich, meine halben Tage als regelmäßiges Ereignis zu etablieren. Ich ging gerade oft genug zum Unterricht, um meine Hausaufgaben abzugeben und die Arbeiten zu schreiben. Aber an den meisten Tagen verließ ich den Campus auf der Suche nach etwas Interessanterem, was ich machen konnte. Die ersten paar Male lief ich einfach nach Hause. Es war schön, das Haus für mich zu haben, aber nach einer Weile fiel mir auf, dass ich einen besseren und langfristigen Plan brauchen würde. Ich brauche eine Basis, dachte ich. Ich versteckte mich unter meinem Bett, wartete darauf, dass Mom, die unerwartet während einem meiner Halbtagsnachmittage zu Hause aufgetaucht war, wieder ging. Sie war da bereits eine erfolgreiche Maklerin und verbrachte die meisten Wochentage damit, potenziellen Kunden und Kundinnen Häuser zu zeigen. Meine Zimmertür war leicht geöffnet und ich konnte ihre Füße sehen, wie sie den Flur hin- und herlief, bis ich endlich hörte, wie sich das Garagentor schloss. Die Luft war wieder rein. Ich beobachtete durchs Fenster, wie sie mit unserem Auto davonfuhr, und ging dann in ihr Büro, wo sie, wie ich wusste, eine Liste aller Häuser hatte, die gerade zum Verkauf standen. Ich hatte einen Großteil meiner Kindheit damit verbracht, leere Häuser mit meiner Mutter zu begutachten. Zu Tode gelangweilt hatte ich dem Ganzen nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt, aber ich hatte nie wieder vergessen, wie wir immer reingekommen waren: Neben jede Eingangstür hängte meine Mutter eine kleine Schließkassette mit einem Zahlenschloss, in der sie die Schlüssel zu dem Haus aufbewahrte. Immer mal wieder hatte sie Harlowe oder mich den Code eingeben lassen. »09127«, erinnerte ich mich. Ich verließ also weiterhin früher die Schule, aber, anstatt nach Hause zu gehen, ging ich zu einer der leeren Anwesen von Moms Liste und verschaffte mir Zugang mit dem Code und dem Schlüssel. Diese Nachmittage zählen zu den glücklichsten meines Lebens. Manchmal waren das riesige Anwesen, mit gebohnerten Parkettböden, hohen Marmorwannen und warmem fließenden Wasser. Andere Male waren sie winzig, mit muffigen Teppichen, schimmligen Tapeten und ohne Strom. Die Ausstattung war mir völlig egal, es war nur wichtig, dass ich entspannt und unauffindbar war und dass niemand außer mir die Wahrheit kannte.
»Warum haben die Menschen solche Angst vor dem Alleinsein?«, fragte ich mich eines Tages laut. Ich faulenzte auf dem Boden eines Strandhauses, die Meeresluft strömte durch das offene Fenster und ich konnte mir nichts Schöneres in diesem Moment vorstellen. Ich war fast trunken vor Glückseligkeit. Und dennoch nagte eine Wahrheit an mir: Ich wusste, dass das, was ich hier tat, gegen die Regeln verstieß, aber es scherte mich kein My. Es tut niemandem weh, dass ich mich in diesem Haus aufhalte. Und es fühlt sich nicht schlecht an, dachte ich. Wer sagt also, dass es das ist? Es war wie beim Schulschwänzen.
Meine Mittelstufe war ein offenkundiger Sumpf: Kämpfe, Sex, Drogen, alles, was man sich ausmalen konnte. Der Ort war furchtbar, und alle wussten es. Warum soll es also »schlimm« sein, dass ich gehe? Ich entschied mich dafür, mich selbst aus einem schlechten Umfeld zu nehmen und tat niemandem damit weh. Wie konnte das etwas Schlechtes sein? Das ergab keinen Sinn. Ich dachte mal wieder an Jessica Rabbit. »Ich bin nicht schlecht«, flüsterte ich. »Ich bin nur so gezeichnet worden.« Gab es noch jemanden, der so »gezeichnet« worden war wie ich? Oder, was noch wichtiger war, gab es irgendwo auf der Welt jemanden, der so jemanden wie mich mögen konnte? Es war nicht das erste Mal, dass ich darüber nachdachte. Obwohl ich so gut und gern allein war, musste ich dennoch immer wieder darüber nachdenken, ob ein Leben mit jemandem, dem ich mich wirklich anvertrauen konnte, noch mehr Spaß machen würde. Viele der Mädchen in der Schule hatten einen Freund. Würde ich jemals einen finden? Stand romantische Liebe für jemanden wie mich überhaupt in den Sternen geschrieben? Und wenn dem so war, interessierte mich das? Das sollte ich schon bald herausfinden.
Impressum