Pläne Ich heiße Patric Gagne, und ich bin eine Soziopathin. Ich bin leidenschaftlich gern Mutter und Ehefrau. Ich bin eine einnehmende Therapeutin. Ich bin unglaublich charmant und beliebt. Ich habe viele Freunde und Freundinnen. Ich bin Mitglied in einem Countryclub.

Pläne

Ich lernte David im Alter von vierzehn Jahren beim Sommercamp kennen. Meine Mutter hatte mich bei einem Ferienprogramm für Kreative Künste angemeldet, nachdem ich mich geweigert hatte, mit Harlowe zusammen ins Ferienlager zu fahren. »Du wirst nicht den gesamten Sommer hier allein zu Hause hocken«, hatte sie zu mir gesagt. »Also gehst du entweder zum Camp oder du kommst mit mir zur Arbeit.«


Überraschenderweise liebte ich es. Das Programm wurde in einer der Winterresidenzen des Ölmagnaten John D. Rockefeller abgehalten. Ein paar Wochen nach meiner Ankunft hatte ich Gerüchte gehört, dass Rockefeller selbst den Bau einer Reihe von geheimen Tunneln unter dem Haus beaufsichtigt hatte, die Verbindungen zu diversen Gebäuden im Ort herstellten. Ich war wie besessen von diesem Gerücht und musste unbedingt herausfinden, ob das stimmte.


Im Büro der Organisatoren gab es eine Schublade voller Dokumente über das Haus. Weil ich die unbedingt in die Hände bekommen wollte, verbrachte ich all meine freie Zeit dort. Eines Tages lungerte ich also mal wieder in der Gegend herum, in der Hoffnung, herumspionieren zu können, als ein unfassbar schöner Junge durch die Tür gelaufen kam. »Wie geht’s?«, fragte er.


Ich war einen Augenblick lang sprachlos. David war ein wenig größer als ich, seine Haare passten zu seinen dunkelbraunen Augen und sein schlichtes weißes T-Shirt ergänzte ganz wunderbar seine dunkle Sonnenbräune. Er trug ausgeblichene pfirsichfarbene Boardshorts und hatte eine große Duffel Bag von ACA Joe über die Schulter geworfen. Ich fragte mich, ob ich wohl klein genug wäre, um reinzuklettern, damit er mich wohin auch immer mitnehmen konnte. »Patric«, sagte die Camp-Leiterin, als sie das Büro betrat und meinen bizarren Tagtraum unterbrach. »Das ist David. Heute ist sein erster Tag.« »Cool«, erwiderte ich, möglichst lässig.


Die Camp-Leiterin ging weiter in eins der Büros und ließ uns allein. David grinste mich an. Ich wendete meine Aufmerksamkeit der Schublade mit den historischen Dokumenten zu. Ich nutzte die Gunst der Stunde und riss sie schnell auf, um eine Reihe Pläne rauszunehmen. Dann drehte ich mich wieder zu David um, schenkte ihm ein breites Lächeln, während ich die alten Schriftstücke in meinen Rucksack stopfte. »Dein erstes Mal hier?«, fragte ich ihn. »Ja …«, erwiderte er und beäugte mich argwöhnisch. Die Camp-Leiterin kam zurück. Sie überreichte ihm das Willkommenspaket und eine Karte des Grundstücks. »Patric, würde es dir etwas ausmachen, David ein wenig rumzuführen?«, fragte sie mich. »Mache ich gern«, antwortete ich. »Du bist in guten Händen, junger Mann«, sagte die Leiterin lächelnd. »Patric kennt sich hier wahrscheinlich besser aus als ich!« Das stimmte. Weil mich das Gerücht der Tunnel nicht mehr losgelassen hatte, hatte ich jeden Quadratzentimeter des Grundstücks im Verlauf der letzten Wochen erkundet. Meist unternahm ich meine Touren während der Mittagspausen oder abends, wenn es niemanden interessierte. Aber dank Davids unerwarteter Ankunft hatte ich nun eine Ausrede, das gesamte Areal abzulaufen, ohne dass jemand dies infrage stellen würde. Zusammen stromerten wir über das Grundstück. Ich hielt detailliert alle drei Etagen des Hauses in meinem Notizbuch fest, machte mir Vermerke zu den Zimmern und Strukturen, die ich dann den Plänen zuordnete. »Du bist wirklich gründlich«, stellte David fest. Wir machten seit einer Stunde die »Tour« und ich hatte ihm noch nichts vom Anwesen gezeigt, was mit dem Camp zu tun hatte. »Na ja, es ist ein komplizierter Grundriss«, erklärte ich, während ich ihn einen weiteren Flur mit geschlossenen Bürotüren entlangführte. »Es ist wichtig, dass du weißt, wie du wo hinkommst.« »Dennoch bin ich mir nicht sicher, ob ich wirklich jedes einzelne dieser Zimmer sehen muss.« Dann fügte er hinzu: »Aber nicht, dass ich etwas dagegen hätte. Es kommt nicht jeden Tag vor, dass ich mit so einem hübschen Mädchen spazieren gehen darf.« Sein Kommentar erwischte mich kalt. Niemand außerhalb meiner Familie hatte mich je hübsch genannt. Ich schaute David neugierig an. Das war so ein kühner Move von ihm gewesen, der, so schlussfolgerte ich, mehr über ihn als über mich aussagte.

 
Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Kannst du ein Geheimnis für dich behalten?«, fragte ich ihn. Ich lief zu einem Konferenzraum in der Nähe und deutete ihm an, dass er mir folgen sollte. Dort breitete ich die Pläne auf dem Tisch aus und erzählte ihm von den geheimen Tunneln und meiner Mission herauszufinden, ob die Gerüchte stimmten. Es war riskant, jemand anderen in meine Pläne einzuweihen, und höchst untypisch für mich. Aber irgendetwas an David ließ in mir den Wunsch aufkommen, ihm … alles zu erzählen. Er hörte mir aufmerksam zu, schaute sich nachdenklich meine Notizen und die Pläne an. »Also sind wir hier«, sagte er nach meinen Ausführungen und zeigte auf eine Stelle des Grundrisses. »Ja«, erwiderte ich nickend. Ich nahm mir einen Bleistift und wollte eine Notiz auf dem Plan machen. Er hielt mich mit einem Griff nach meiner Hand davon ab. »Nicht darauf schreiben«, flüsterte er. »Das Blei könnte das Papier beschädigen.« Er grinste und fuhr fort: »Weißt du, wenn wir unsere eigene Kopie davon hätten, könnten wir so viel darauf herummarkieren, wie wir wollten.« Er ließ behutsam meine Hand wieder los, dachte einen Augenblick nach und fuhr sich mit den Fingern durch sein dickes braunes Haar. »Ich hab’ in einem der Büros einen Kopierer gesehen«, sagte er, dabei vorsichtig das brüchige Papier zusammenrollend. »Du hältst Wache. Ich bin gleich zurück.«


Ab diesem Zeitpunkt waren wir unzertrennlich. David hatte das letzte Schuljahr vor sich, war also mehrere Stufen über mir. Er hatte zwei Jobs, um seine Mutter und Schwester zu unterstützen. Er rauchte, hatte einen falschen Ausweis, fuhr ein eigenes Auto, das er von seinem eigenen Geld gekauft hatte. Und wie ich brach er schnell Regeln, die für ihn keinen Sinn ergaben. Aber unter dieser rebellischen Oberfläche lauerte ein Einserschüler, eine so liebe und fürsorgliche Seele, wie ich sie noch nie zuvor getroffen hatte. Wo ich sachlich und unterkühlt war, war David emotional und leidenschaftlich.

 
Meine (wenn auch starken) Gefühle für David konnte ich am Anfang nur schlecht verstehen. Zugegeben, ich hatte all mein Wissen über junge Liebe aus V. C. Andrews’ Romanen. Und obwohl ich positiv überrascht war, dass meine Gefühle weder inzestuöser noch ungestümer Natur waren, so fand ich es dennoch schwierig, sie mir vollständig zu eigen zu machen. Meine emotionale Verfassung ähnelte anscheinend einer billigen Box Buntstifte. Ich hatte Grundfarben zur Hand – Freude und Traurigkeit –, aber die differenzierteren Schattierungen – komplexe Gefühle wie romantische Liebe und Leidenschaft – lagen schon immer außerhalb meiner Reichweite. Ich wusste dank Büchern und Fernsehen, dass sie existierten, aber hatte sie noch nie nachempfinden können.

 
Wir hatten in der Schule Sturmhöhe gelesen. Die Mädels in meiner Klasse schwärmten für Heathcliff und bekannten sich zu einer innigen Verbindung zu Catherine »Cathy« Earnshaw, die Protagonistin, die sich in ihn verliebt (und letztlich darüber verrückt wird). Das Buch war für sie eine fesselnde Tragödie über eine Liebe, die unter einem schlechten Stern stand. Ich aber verstand die Geschichte nicht. An dem Abend, als ich das Buch endlich zu Ende gelesen hatte, gab ich einen erleichterten Seufzer von mir und schmiss es hinter das Sofa. Ich zog eine Grimasse in Richtung meiner Mutter. »Mochtest du es nicht?«, fragte sie. »Warum nicht?« »Weil Cathy eine Idiotin ist«, erwiderte ich. »Sie ist so eine Heather«, fuhr ich fort, auf den Klassiker aus den 80ern bezugnehmend. »Sie tut so, als sei sie so ›widerspenstig‹ und ›wild‹, dabei ist es völlig offensichtlich, dass das alles nur Show ist, weil sie eigentlich nur einen besseren Status und irgendeinen langweiligen Ehemann will. Und währenddessen wird sie ohnmächtig und heult Heathcliff nach. Dabei versteht sie ihn nicht mal.« Ich rollte die Augen. »Er ist übrigens auch nicht gerade ein Lottogewinn.« Ich schüttelte den Kopf und fuhr fort: »Ich kann einfach nicht glauben, dass das jetzt das Nonplusultra aller Liebesgeschichten sein soll. Ich würde mich umbringen, wenn ich mich so verhalten würde.«


»Warte du nur ab, bis du mal jemanden kennenlernst, den du wirklich gern magst«, hatte Mom erwidert. Und jetzt verstand ich es auf einmal. Aber es war so ganz anders als Sturmhöhe. Meine Gefühle für David waren weder zwanghaft noch besitzergreifend; sie waren mühelos. Ich geriet nicht außer Kontrolle oder wurde wahnsinnig wie Cathy über Heathcliff. Er riss mich auch nicht »von den Socken«, sondern meine Füße waren weiterhin fest auf dem Boden verankert. Vielleicht sogar das erste Mal in meinem Leben. Der beste Teil daran war auf jeden Fall, dass ich jetzt einen ziemlich coolen Menschen direkt neben mir auch verankert wusste – für mich der coolste Mensch auf Erden. David kennengelernt zu haben, fühlte sich an, als hätte ich endlich ein schwieriges Rätsel gelöst. Ah, dachte ich, so ist das also für mich.


Aus romantischer Sicht stand David nicht nur für alles, was ich je hatte haben wollen, sondern auch für alles, was ich je hatte sein wollen. Er hatte Zugriff auf das vollständige Spektrum an Gefühlen, die er auch ausdrücken konnte, gab mir aber nie ein schlechtes Gefühl, weil ich es nicht konnte. Ich glaubte nicht mehr, dass ich meine »dunklen« Geheimnisse für mich behalten musste, denn seine Akzeptanz gab mir Sicherheit, als könnte ich mit ihm über alles reden.


»Na dann, erzähl doch mal von diesem Druck«, sagte David zu mir. Ein paar Wochen nach unserem Kennenlernen im Büro der Camp-Leiterin saßen wir auf der Wiese mit Blick auf den Fluss. Das Rockefeller-Anwesen umfasste einen ganzen Landstrich am Wasser, inklusive eines Parks, der an das Flussufer grenzte. Mit einer Unmenge Weiden und einem riesigen Wasserrad, das von einem sich schlängelnden Bach angetrieben wurde, bot der Park viele urige Verstecke, die David und ich im Laufe unseres Kennenlernens häufig nutzten.


An diesem Tag hatte er einen tragbaren CD-Player mitgebracht und wir hörten uns die Smiths an. Ich hob die Augenbrauen und griff nach der Zigarette zwischen seinen Lippen. Während ich lang daran zog, hielt ich meinen Fuß ins Wasser und wackelte im Takt zur Musik mit den Zehen. Es war das erste Mal, dass ich jemandem von dem Scheiß, der mir so durch den Kopf ging, erzählte, und ich musste überrascht feststellen, dass ich es mochte, mit ihm darüber zu reden. Ich fühlte mich dadurch
erwachsen. »Da gibt’s nicht viel zu erzählen«, erwiderte ich, während ich möglichst unauffällig ein Husten beim Ausatmen des Zigarettenrauchs unterdrückte. »Ich habe den schon, solange ich denken kann.« David runzelte die Stirn. »Okay«, drängte er weiter. »Aber wie fühlt es sich an?« Ich schaute nach unten und zupfte an Grashalmen, während ich über meine Antwort nachdachte. Die Halme fühlten sich wie winzige Satinschwerter zwischen meinen Fingerspitzen an. »Wie ein Pott voll Wasser auf dem heißen Herd«, begann ich vorsichtig. »Erst ist die Oberfläche glatt, dann steigen kleine Luftblasen auf.« Ich zog eine leichte Grimasse, während ich versuchte, es im Detail zu erklären. »Sobald es köchelt, fühle ich mich ganz hibbelig, weil ich weiß, dass ich jetzt etwas unternehmen muss, damit es nicht überkocht.« »Warum?«, fragte David. »Was passiert, wenn das Wasser überkocht?« »Dann werde ich gewalttätig«, antworte ich ihm. Ich hatte das noch nie so ungefiltert zugegeben. Es war gleichermaßen befreiend und angsteinflößend. Einen Augenblick lang dachte ich, ich hätte zu viel gesagt. Aber David nickte bloß.


»Also machst du so kleine Sachen, um das Überkochen des Wassers zu verhindern«, erwiderte er. »Wie das eine Mal, wo du zu der … der Dings nach Hause bist und ihr die Statue geklaut hast.« David schnipste mit den Fingern, während er versuchte, sich an die Details dieser Geschichte zu erinnern. »Amanda«, erinnerte ich ihn. »Und es war ein Pokal, keine Statue.« Amanda war der Star der Cheerleaderinnen an meiner Schule. Ich hatte ihm kurz vorher davon erzählt, dass ich sie hasste, seit sie mich mal dabei beobachtet hatte, wie ich den Campus verließ, und mich beim Schulleiter verpetzt hatte. Ich hatte meinen Kopf noch aus der Schlinge ziehen können, aber ihr nie vergeben, dass sie ihre Nase in fremde Angelegenheiten steckte. Amanda lebte in einem riesigen Haus unweit von meinem, und ihre Eltern schlossen die Garage nie ab. Während einer meiner Expeditionen schlich ich mich nachts in ihre Garage und weiter ins Haus, um ihren Cheerleading-Pokal – ihr wichtigster Besitz – vom Kaminsims im Wohnzimmer zu stehlen. David grinste mich schelmisch an. »Nach dem Camp musst du mich unbedingt auf eine deiner Expeditionen mitnehmen«, sagte er zu mir. »Warum kommst du nicht mit zu Amanda?«, neckte ich ihn, dabei einen provokanten Klang in der Stimme nachahmend, den ich bei einem der Reruns der Show Das Model und der Schnüffler gesehen hatte, die meine Großmutter so gern schaute. David kicherte.


»Du kannst mir dabei helfen, den Pokal zurückzustellen«, erklärte ich ihm. »Das wird sie richtig krass verwirren.« »Verdammt.« Er lachte. »Du hast ja düstere Gedanken.« Aus den Lautsprechern ertönte plötzlich »How Soon Is Now?« und ich sprang auf, um mit meinen eigenen lyrischen Interpretationen mitzusingen: »I am the queen / And the heir / Of a numbness that is criminally vulgar. / I am the queen and heir … / Of nothing in particular.« Ich machte die Musik lauter und schmetterte los: »You shut your mouth / How can you say / I go about things the wrong way? / I am human with no need to be loved. / Not like everybody else does!« David umfasste meine Taille, zog mich zu sich auf den Schoß. Er heftete den Blick auf mich. »Sind das deine tatsächlichen Gefühle? Über die Liebe?«


Ich schaute ihn an, verwirrt. In Wahrheit wusste ich das nicht. Ich wusste, dass die Mädchen in der Schule und die Figuren in Filmen über die Liebe sprachen, als sei sie eine Lebenskraft, als sei sie etwas, das sie zum Glücklichsein brauchten. Aber ich hatte mich nie so gefühlt. Liebe war für mich wie eine schöne Auswahl an lebloser Couture hinter einer dicken Schaufensterscheibe eines Warenhauses. Klar, ich konnte sie würdigen. Ich konnte es anerkennen, dass meine Mutter immer glücklicher wirkte, wenn ihr Freund in der Stadt war. Und Filme mit einem romantischen Ende schienen immer die beliebtesten zu sein. Jedoch hatte ich nie wirklich einen Sinn darin gesehen. Liebe wirkte wie eine großartige Idee in der Theorie, aber das Konzept schien auf praktischer Ebene eher gefährlich transaktional und – was mich betraf – stark von der Bereitschaft abzuhängen, sich an einen »normalen«, strengen Gesellschaftsvertrag zu halten.


David stupste mich an, weil er auf eine Antwort drängte. »Ich weiß es nicht«, gab ich zu. »Ich hatte nie diesen … diesen Drang. Dieses Bedürfnis nach Liebe.« Ich machte mich auf eine, wie ich erwartete, enttäuschte Reaktion gefasst, aber David schien vielmehr beeindruckt zu sein. »Das ist so spannend«, sagte er. »Spannend?« Das überraschte mich. »Wie meinst du das?« »Weil du anders bist«, führte er aus. »Du bist bei Sachen objektiv, über die die meisten von uns keinerlei Kontrolle haben. Wie du schon gesagt hast, du kannst Liebe würdigen, du kannst sie sogar genießen, aber sie hat – da du nicht nach ihr gierst – keine Kontrolle über dein Leben.« Dann sang er: »Not like everybody else does.«


Ich dachte über das Gesagte nach. Da war es wieder, mein Jessica-Rabbit-Argument: Was wäre, wenn die schlechten Teile meiner Persönlichkeit gar nicht schlecht wären? Sondern einfach nur anders? Ich fiel immer wieder auf diese Idee zurück, und das aus gutem Grund. Ich hatte mein gesamtes Leben lang versucht, die Person, die ich war, zu kaschieren. Nicht weil ich sie untersuchen oder verstehen wollte, sondern weil ich sie verstecken wollte. Leugnen wollte. Auslöschen wollte. Erst jetzt – auf einmal – war ich plötzlich auf jemanden gestoßen, der das genaue Gegenteil tat. Ich zeigte David, wer ich wirklich war, und er wollte mich nicht verändern. Er akzeptierte mich. David, im Gegensatz zu allen anderen, die ich vorher getroffen hatte, schien mich tatsächlich zu sehen. Und noch besser: Er mochte sogar, was er sah. Auch das war eine gänzlich neue Erfahrung. Auch wenn ich mich selbst nie wirklich nicht gemocht hatte – es war mir auch nie in den Sinn gekommen, dass ich dazu eine Meinung haben könnte –, so hatte ich doch irgendwann akzeptiert, dass die Eigenschaften, die mich von anderen trennten, kein Lob verdienten. Aber jetzt begann ich, das zu überdenken.


Während unsere Zeit im Camp voranschritt, gewöhnte ich mich immer mehr an den Gedanken, dass ich, trotz meiner Unterschiede zu anderen, eine wertgeschätzte Person, eine gute Person sein könnte. Immerhin schien David das zu denken. Und er war der beste Mensch, den ich je getroffen hatte. Er war der coolste Mensch, den ich je getroffen hatte. Und was das Beste war: Er hielt mich nicht davon ab, meiner bösartigen Seite nachzugeben, stattdessen bot er sogar seine Hilfe an. »Das ist doch scheiße«, rief ich frustriert aus. Es war später Nachmittag und wir hatten uns aus dem Kunstkurs geschlichen, um uns auf die Suche nach einer Tür zu machen, die wir auf den Plänen entdeckt hatten. Wir hatten sie bis jetzt nicht finden können und gerade verstanden, warum. Der Ort, wo die Tür sein sollte, war jetzt mitten in einer Großküche und von einem imposanten Geschirrschrank verdeckt, der die halbe Wand einnahm. »Den bekommen wir auf keinen Fall vom Platz bewegt«, beschwerte ich mich. Ich ließ mich auf den Boden fallen und leuchtete mit meiner Taschenlampe unter den Schrank. Dort konnte ich, trotz meines schlechten Blickwinkels, den unteren Teil von etwas erkennen, was eine schmale Holztür sein könnte. »David!«, flüsterte ich aufgeregt und drehte meinen Kopf, um besser sehen zu können. »Sie ist hier!« Er reagierte nicht. Er saß in einer Ecke des Raums und konzentrierte sich auf etwas in seinem Schoß. Ich leuchtete ihn mit der Taschenlampe an. »David!«, flüsterte ich erneut, dieses Mal aber etwas lauter. »Hast du gehört, was ich gesagt habe? Ich kann die Tür sehen!«

 
»Psssssst«, erwiderte er. Er hatte sein treues Schweizer Taschenmesser in der Hand. »Ich schneide Filz«, sagte er ruhig. »Was soll das denn heißen?«, fragte ich ihn mit einem genervten Seufzer. »Wir haben keine Zeit für so was!« David drückte sich vom Boden hoch und lief zum Schrank. Dann musterte er das riesige Möbel und kippte es vorsichtig nach hinten. »Mach dich nützlich«, wies er mich an. »Halt ihn mal so fest.« Ich krabbelte hoch, um den Schrank in seiner Schräglage zu fixieren. »Das ist eigentlich ganz einfach«, erklärte er mir, als er sich hinkniete. »Der Stoff reduziert die Reibung.« Mir fiel die Kinnlade hinunter, als ich ihm dabei zusah, wie er das weiche Material unter den Schrankfüßen anbrachte. Oh Mann, er war so klug. Und so erfinderisch! David verbrachte jeden Sommer ein paar Wochen damit, Frachtgut für die Speditionsfirma seines Vaters in Boston zu verladen, er wusste also alles darüber, wie man Gegenstände bewegte. Er schien alles über alles zu wissen.


Unsere Fähigkeiten ergänzen sich wunderbar gegenseitig, dachte ich. Während ich lügen oder ein Portemonnaie klauen konnte, wusste David alles über Geschichte und Naturwissenschaften und hatte eine verblüffende Begabung für Lösungsansätze bei praktischen Problemen. Er ist das Yang für mein Yin, dachte ich, während ich ihm dabei zusah, wie er das letzte Stück Filz anbrachte. Er hatte den Stoff in kleine Quadrate geschnitten, um sie unsichtbar zu machen. Wenn man nicht gerade direkt auf die Füße des Schranks starrte, würde man gar nicht wissen, dass sie da waren. Er ging an die eine Seite des Schranks und drückte. Dank seiner neuen Filzpantoffeln glitt der Schrank fast mühelos von der Wand weg. Und dort, so wie es die Pläne gesagt hatten, befand sich eine schmale Holztür. Mit einem aufgeregten Seitenblick zu David drehte ich vorsichtig den Knauf, bis es Klick machte. Die Scharniere knarzten laut, als sich die Tür öffnete. Wir blieben wie angefroren stehen und warteten, ob es jemand gehört haben könnte. Als wir uns aber sicher waren, dass die Luft rein war, quetschten wir uns durch den Türspalt und verschwanden in der Dunkelheit. Ich richtete meine Taschenlampe nach vorne. Wie erwartet kam man durch die Tür direkt zu einer Reihe bröckelnder Stufen, die steil nach unten abfielen. Die dunkle Treppe führte zu einer weiteren Türöffnung, deren Rahmen grauenvoll verbogen war, als hätte ein Riese sich hindurchgequetscht. »Gruselig«, sagte David. Ich lächelte. Vorsichtig stiegen wir die Stufen hinab und duckten uns unter dem verformten Rahmen hindurch. Jetzt standen wir in einem Raum, der riesig und unfertig wirkte, der ungefähr die Größe des gesamten ersten Stocks des Hauses hatte. Ich leuchtete mit meiner Taschenlampe einmal quer durch den gesamten Raum, und wir keuchten beide auf, als ich in einer Ecke einen Durchgang anstrahlte, der von einer dicken Schicht Backsteinen zugemauert war. Davor hing quer eine dicke Eisenkette. Ich rannte hin und ließ meine Hand über die rötlichen Blöcke gleiten. Sie sahen neuer aus als die anderen im restlichen Keller. Das muss es sein, dachte ich und nahm einen Schritt zurück. »Und selbst wenn es das nicht ist«, murmelte ich, »so werde ich doch sagen, dass es das ist.« David stand direkt hinter mir. Er gab mir eine fette Umarmung und rief: »Krasser Scheiß! Du hast es geschafft!« Er wirbelte mich zu sich herum und sagte: »Du hast den Tunnel gefunden!« Und dann gab er mir einen Kuss.


Überrascht holte ich kurz Luft, was den Geschmack noch intensivierte. Er schmeckte wie rauchige dunkle Schokolade, mit einem Hauch Lakritz. »Hungrig« dürfte das Wort sein, das mein Gefühl am besten beschreibt. Ich war ausgehungert, gierig nach … was? Ich wusste es nicht. Ich bewegte eine meiner Hände zu seinem unteren Rücken. Seine Haut war warm. Er drückte mich fest an seinen Oberkörper und ich stellte fest, dass ich mir wünschte, ich könnte in sein T-Shirt krabbeln. Dann ließ ich die Taschenlampe fallen und wir tauchten ein in die Dunkelheit. Dieser Ausflug ins Kellergeschoss war einer von vielen. Im Laufe der nächsten Wochen ging ich bei jeder Gelegenheit nach unten, um diesen riesigen Raum zu erkunden und jeden Quadratzentimeter als meinen eigenen zu kartieren. Ich verbrachte ganze Nachmittage dort und genoss die Einsamkeit. Manchmal begleitete David mich, aber die meiste Zeit hatte ich den Ort für mich allein. Mein liebster Bereich war das Vestibül vor dem Tunnel. Bei einem meiner Trips schmuggelte ich einen Stuhl und einen kleinen Tisch nach unten, um so meinen eigenen kleinen Privatsalon zu erschaffen. Da hörte ich mit meinem Sony-Walkman Jazz bei Taschenlampenlicht.


Ich hatte Jazz dank unserer Familienausflüge in meiner Grundschulzeit für mich entdeckt. Mein Vater hatte ein kleines Apartment in New Orleans, einen Zweitwohnsitz im zweiten Stock eines Gebäudes im Französischen Viertel. Jedes Mal, wenn wir meine Großeltern in Mississippi besuchten, machten wir einen kleinen Abstecher in diese schwüle Südstaatenstadt und ich genoss jeden Augenblick dort. Die Nächte waren mir am liebsten. Harlowe und ich teilten uns ein Zimmer mit Balkon, von dem man auf die Decatur Street schauen konnte. Sobald alle schliefen, ging ich auf den Balkon raus und ließ mich von dem Blues, der aus den Bars unter mir hervorschwebte, in eine Trance versetzen. Jazz, so hatte ich entschieden, war mir die liebste Sache der Welt. In einem Universum, in dem alles mit allem in Verbindung zu stehen schien, war Jazz eine ganz eigene Welt. Die ungebundenen Töne versetzten mich nicht in der Zeit zurück oder zwangen mich zu Grübeleien über die Zukunft. Stattdessen hielt der Jazz mich an Ort und Stelle, sprang mit den Tempi hin und her, als müsste er ebenso wenig die Regeln befolgen wie ich.


Der versteckte Keller hatte wie Jazz auch keine Regeln oder erkennbare Strukturen. Nach ein paar Besuchen stellte ich fest, dass ich mich im Untergrund wohler fühlte als oben. Vor allem in der Zeit um das Mittagessen herum zog es mich nach unten, wenn ich unter den Holzdielen des Wohnzimmers sitzen und die Menschen über mir belauschen konnte. Ich bin wie ein Gespenst, dachte ich. Mein neuer Freund schien mir recht zu geben. »Du bist wie ein Gespenst!«, zog mich David auf. »Eine Minute bist du hier, die andere wieder weg.« Wir gammelten ein paar Wochen nach unserer Tunnelentdeckung im Park herum. »Warum magst du es da unten eigentlich so gern?« »Es entspannt mich«, erklärte ich ihm. »Ich bin gern unsichtbar.« Wir lagen auf einer Decke und ich blätterte gerade ein paar Bücher durch, die ich in der Bibliothek entdeckt hatte. Ich wollte nachschauen, ob ich noch mehr über den Tunnel herausfinden konnte. »Das sagst du oft«, stellte David fest. »Warum willst du so oft unsichtbar sein?« »Weil ich mir, wenn ich unsichtbar bin, weniger Sorgen darüber machen muss, ob Menschen merken, dass ich anders bin«, erwiderte ich aufrichtig. »Ich fühle mich am sichersten, wenn mich die Menschen nicht sehen können, weil ich dann einfach ich selbst sein kann.«


David runzelte die Stirn. »Du bist aber für mich nicht unsichtbar. Ich sehe dich.« Er legte fragend den Kopf schräg. »Bist du gestresst, wenn wir zusammen sind?« »Nein.« Ich lächelte. »Aber du bist auch einzigartig.« David antwortete nicht und ich fragte mich erneut, ob ich zu viel preisgegeben hatte. »Du solltest dir diese Bücher mal anschauen«, sagte ich fröhlich, das Thema wechselnd. »Du würdest sie lieben. Das ist genau deine Kragenweite.« David liebte alles rund um Geschichte. Und Literatur. Und Kunst. Er war wie meine Haus- und Hofenzyklopädie. Ich hörte mir gern seine Meinung zu Sachen an, vor allem zu Musik. Wir schlichen uns oft zu seinem Auto, hörten dort stundenlang alles, von Coltrane bis The Cure, nahmen die Texte auseinander und unterhielten uns darüber, wen wir alles noch live sehen wollten. David zeigte auf die durcheinandergewürfelten Bücher. »Ich schwöre, Patric«, sagte er und setzte sein bestes strenges Gesicht auf. »Wehe, du behältst auch nur eins davon. Büchereien beklauen, da ist echt Schluss bei mir.« »Dann solltest du zu Hause wohl besser meine Bücherregale nicht so genau anschauen«, murmelte ich. »Du bist so ein Paradox«, sagte er. Ich zuckte mit den Schultern. »Verstehe ich nicht.« Er grinste mich breit an, sprang dann auf und sang: »A paradox! A paradox! A most ingenious paradox!« Ich musste lachen. Ich wusste, dass es ein Zitat aus Die Piraten von Penzance war, der Lieblingsfilm seines Großvaters. Sie hatten ihn viele Male zusammen geschaut und David konnte jede Textzeile wiedergeben, eine schrullige Eigenschaft, die ebenso liebenswert wie nervig war. »Du bist so gar nicht hilfreich!«, rief ich über seinen Ausbruch hinweg.


»Doch, bin ich«, erklärte er, als ich ihn zu mir runterzog. »Ein Paradox tritt dann ein, wenn zwei widersprüchliche Ideen wahr sind. Frederick der Pirat war einundzwanzig, aber er hat nur fünf Geburtstage gefeiert.« »Hä?« »Er war am 29. Februar geboren. Obwohl er also aus technischer Sicht alt genug war, um seine Verpflichtungen als Pirat hinter sich zu lassen, konnte er es doch nicht, weil Piraten nun mal nur Geburtstage zählen. Und laut der Anzahl seiner war er gerade einmal fünf … und ein Viertel.« Ich zog die Augenbrauen hoch. »Ich bin also eine fünf Jahre alte Piratin?« »So ähnlich!« David lachte. »Denk doch mal darüber nach. Alles an dir ist widersprüchlich. Du bist herzlich und großzügig, aber manchmal scharfzüngig und gemein.« Ich zuckte mit den Schultern. »Das trifft auf alle zu.« »Vielleicht«, erwiderte er. »Aber bei dir ist es viel extremer.« Ich hörte eine leichte Spitze aus seiner Stimme heraus, die mir unangenehm war. Sie erinnerte mich an den Tonfall, den meine Mutter manchmal in San Francisco angeschlagen hatte, wenn ich ihr die Wahrheit gesagt hatte und sie wütend geworden war. Ich betrachtete Davids Gesicht eingängig aus den Augenwinkeln und verlagerte mein Gewicht leicht auf der Decke. »Oh«, sagte ich irgendwann, während ich mit einer Antwort kämpfte. »Okay, vielleicht kann ich da an mir arbeiten.« In dem Moment, in dem ich es aussprach, war ich genervt. Das war die gleiche Reaktion, die ich auch als Kind immer gezeigt hatte, wenn ich dachte, ich bräuchte Moms Hilfe, um nicht aus der Reihe zu tanzen. Damals, als ich noch alles dafür getan hätte, um die Verbindung zu ihr aufrechtzuerhalten, auch wenn das bedeutete, dass ich jemand sein musste, der ich eigentlich nicht war. In mir rumorte es: Woran genau soll ich bitte »arbeiten«? Damit ich so handele wie alle anderen auch? Es schüttelte mich schon bei dem Gedanken. Das erste Mal in meinem Leben mochte ich mich selbst – und das nicht nur in der Einsamkeit, sondern mit jemandem um mich! Ich wollte mich nicht ändern. Und ich wollte mich sicherlich auch nicht verstellen. Zum Glück schien mir David zuzustimmen.


»Sag nicht so ’nen Scheiß«, sagte er. »Das ist kein Charakterfehler.« Er grinste. »Du musst einfach nur vorsichtig mit deinem Dampfkochtopf sein.« Er tippte mir sanft gegen die Stirn. »Stell sicher, dass du das Ruder in der Hand behältst.« Ich nickte, aber überlegte dennoch: Habe ich das Ruder überhaupt in der Hand? Diese Frage stellte ich mir seit Jahren. Niemand zwang mich zu meinen Taten, aber dennoch gab es Zeiten, in denen ich das Gefühl hatte, ich könnte nicht anders. Der Druck schien immer einen Weg zu finden, um doch weiter anzusteigen, und die einzige Möglichkeit, um ihn aufzuhalten, war … was? Etwas Schlechtes machen, gestand ich mir leise ein. Ich erinnerte mich an einen Magazinartikel, in dem es um ein Kind mit zwanghafter Verhaltensstörung (OCD; Obsessive-Compulsive Disorder) ging. Menschen mit OCD haben unkontrollierbare Gedanken und Verhaltensmuster, zu denen sie sich immer und immer wieder gezwungen fühlen. »Gezwungen« war das perfekte Wort für meine Gefühle. Ich wusch mir jedoch nicht die Hände oder zählte Gehsteigquadrate, sondern folgte Fremden und brach in Häuser ein. Na und?, schlussfolgerte ich. War das nicht harmlos? Ähnelte mein Verhalten nicht auf irgendeiner Ebene dem ihrigen? Es wirkte zumindest so. »OCD ist eine Störung, über die die Betroffenen sehr wenig Kontrolle haben«, hatte in dem Artikel gestanden. Und ich konnte es nachvollziehen. Auch wenn ich mich theoretisch selbst davon abhalten konnte, etwas Schlechtes zu machen, so klappte das nie lange. Auch ich verlor meist den Kampf. Wie in dem Sommer in Virginia.


Wir waren bei meiner Urgroßmutter in der Nähe von Richmond zu Besuch, kurz nachdem Mom uns nach Florida umgezogen hatte. Ich hatte mich von meiner besten Seite gezeigt, versuchte immer noch möglichst gut zu spuren, aber nichts in unserem Umfeld fühlte sich je wirklich richtig an, und nach unserer Ankunft in Virginia wirkte es auch nicht, als würde es besser werden. Meine Urgroßmutter lebte in der Nähe vom Strand, wo meine Mutter viele Monate ihrer Kindheit verbracht hatte. Ihre Hütte war wie ein zweites Zuhause für Mom und sie war hier wirklich entspannt und glücklich. Alle waren entspannt und glücklich, alle außer mir. Ich fühlte einen ansteigenden Druck, wie eine Bombe kurz vor der Explosion. Es gab dort nichts zu tun, keine Abenteuer zu unternehmen, keine Grenzen zu testen. Die einzigen Aktivitäten waren Kartenspiele und Spaziergänge den Strand hoch und runter. Es gab nicht mal einen Fernseher, um mich von meiner wachsenden Rastlosigkeit abzulenken. Als ich also mal einen Spaziergang machte und eine Katze neben der verwaisten Landstraße in der Sonne liegen sah, dachte ich nicht nach. Ich griff einfach nach ihr und zog sie fest in meine Arme wie eine Maus in eine Falle. Die Katze wehrte sich. Sie grub ihre Krallen in meinen Arm und versuchte, mir in die Hand zu beißen, aber ich ließ nicht locker. Ich hielt den Körper mit meinen Knien an Ort und Stelle, umfasste ihren Hals mit den Händen. Als ich sah, wie sie sich wand und versuchte, um Befreiung zu schreien, verlangsamte ich meinen Atem wie die Katze. Sekunden vergingen. Die Zeit schien stillzustehen, während ich immer fester zudrückte. Und dann ließ ich abrupt los. Die Katze drückte sich von mir weg, rang nach Luft und haute dann ins Schilf am Straßenrand ab. Ich beobachtete sie beim Weglaufen, fühlte mich euphorisch. Dann saß ich einen Moment da, sonnte mich in diesem Glanz der Gefühle, bevor ich mir letztlich die Wahrheit eingestand. »Das«, sagte ich zu mir, »war nicht gut.« Ich stand auf und starrte auf die Spuren der Katze, die sie beim Weglaufen hinterlassen hatte, meine Gedanken schweiften ab zu der Liste, die ich mal gemacht hatte. »Niemanden verletzen«, rief ich mir ins Gedächtnis. Diese Regel hatte für Menschen gegolten, aber ich wusste, dass es auch zählte, dass ich die Katze verletzt hatte. Ein paar Monate zuvor hatte Mom mich und Harlowe dazu gezwungen, Nicht unsere Tochter anzuschauen, wo ein Mädchen drogenabhängig wird. Meine Lieblingsschauspielerin Stockard Channing spielte darin mit, also schenkte ich dem Film meine Aufmerksamkeit. Ich hatte zu dem Zeitpunkt nicht verstanden, warum Mom sich solche Sorgen über das Rauchen von Gras machte oder was eine »Einstiegsdroge« war. Aber jetzt ergab es Sinn. Gewalt jeglicher Art war wie ein Dammbruch für mich, der mich potenziell in wirkliche Schwierigkeiten bringen könnte. Davon mal abgesehen wollte ich Tieren nicht wirklich wehtun. Ich wusste, dass ich so etwas nie wieder tun würde.


Ich schaute jetzt meinen Freund an. Wie er wohl reagieren würde, wenn ich ihm von der Katze erzählte?, fragte ich mich. Ich sollte das wohl herausfinden, entschied ich. Aber bevor ich gerade meinen Mund öffnen wollte, drückte David meine Hand. »Darf ich dir was sagen?«, fragte er mich, mit seinen großen braunen Augen tief in meine schauend. Ich nickte erneut. »Ich liebe dich«, sagte er sanft. Diese drei kleinen Wörter überrumpelten mich. Mir ploppte eine Melodie aus Cinderella in den Kopf. Das also ist Liebe, dachte ich. Aber es fühlte sich nicht an, als müsste ich ihm etwas zurückgeben. Als sei es an Bedingungen geknüpft. Als sei es gefährlich oder nutzlos. Dieses Gefühl war perfekt – es war eine perfekte Symbiose, denn ich erlebte gleichzeitig, wie es war, jemanden zu mögen, mit dem ich nicht verwandt war, und wie es war, mich dank dieser Verbindung selbst zu mögen. Das allererste Mal. »Ich liebe dich auch«, hörte ich mich sagen. Und ich meinte es auch so. Ich liebte ihn wirklich. David, eine Bastion der Freundlichkeit und Verantwortung, war der perfekte Typ für mich. Er war die lebende Verkörperung des Gewissens, bei dem ich vermutete, dass es mir fehlte. Und was noch besser war: Er war alles, was ich (wie ich jetzt merkte) schon immer gewollt hatte – ein Partner, der mich als die Person akzeptierte, die ich war, und mich ermutigte, ich selbst zu sein. Verständnis. Akzeptanz. Sicherheit in Ehrlichkeit. Ich hatte all dies schon so lange gewollt, und jetzt hatte ich es. David füllte all meine Leerstellen. Er schaute mich nie so an, und nach einer Weile merkte ich, dass ich keinen Druck verspürte, wenn wir zusammen waren. Ich liebte ihn mehr, als ich je für mich für möglich gehalten hätte. Die Tatsache, dass er mir auch noch das Gefühl gab, dass ich auch jemand war, die Liebe verdient hatte, war nur das Sahnehäubchen.


Ich küsste ihn, ein starker Mix aus Zahnpasta und Tabak füllte meinen Mund, und mir fiel auf, dass ich weder Pläne noch Dunkelheit noch Keller noch irgendwas ganz anderes brauchte, denn in Davids Armen liegend fühlte ich mich nur zu einer Sache gezwungen … zum Hierbleiben. Und genau das tat ich. Den Rest des Sommers lang. Ich blühte auf in dieser geteilten Erfahrung einer Beziehung – und Freundschaft! Ich fühlte mich das erste Mal in meinem Leben nicht bar jeder Gefühle. Ganz im Gegenteil. Ich fühlte Liebe! David brachte mir, ohne es zu wissen, bei, wie ich mich bei so Sachen wie Kommunikation und Zuneigung anpassen konnte – Konzepte, bei denen ich immer gedacht hatte, sie würden andere Menschen von Natur aus leichter fallen als mir. David war wahnsinnig geduldig mit meiner Lernkurve. Auch wenn er mehrere Jahre älter war als ich, so wirkte er nie, als würde er das als eine Art Hindernis wahrnehmen. Er schien gern mein Freund zu sein. Dachte ich zumindest.


Am letzten Tag im Camp machte ich mich auf Richtung Küche. Ich hatte die aus dem Büro geklauten Pläne unter dem Küchenschrank verstaut. Während ich sie aus ihrem Versteck zog, musste ich grinsen, weil mir wieder der Moment einfiel, als ich sie das erste Mal gesehen hatte. »Packst du die zurück?«, rief David unverhofft von der Tür. Ich lächelte. »Ja«, erwiderte ich brav. »Das wollte ich auf meinem Weg nach draußen machen.« Er nickte und fragte: »Wann ist deine Mom hier?« Ich zuckte mit den Schultern und rollte die Augen. Er hatte angeboten, mich nach Hause zu fahren, aber Mom hatte – zu unserem Leidwesen – davon nichts wissen wollen. »Du bist vierzehn«, hatte sie gesagt, als ich sie während meines Anrufs gefragt hatte. »Und er, wie alt? Fast achtzehn? Auf gar keinen Fall.« Ich war enttäuscht. Wir hatten fast jeden Sommertag miteinander verbracht. Was war da schon eine armselige Autofahrt? Aber David verstand es und bestand darauf – Gentleman, der er war –, wenigstens mit mir zusammen zu warten. »Bald«, erwiderte ich.



Er schaute auf den Boden. Und ich sah, dass er traurig war. »Hey«, sprach ich ihn an. »Was ist los mit dir?« »Was denkst du denn?«, gab er ein wenig zu scharfzüngig zurück. »Ich werd’ dich vermissen.« Ich machte einen übertriebenen Schmollmund und lief zu ihm, legte die Arme um seine Taille. »Hmmm«, schnurrte ich. »Aber du wohnst ja gar nicht weit weg. Wir sehen uns einfach weiterhin andauernd.«


»Nicht wirklich.«
»Wovon redest du da?«, fragte ich zurück. »Du hast ein Auto.« »Ja, ein Auto, in das du deiner Mom zufolge nicht einsteigen darfst.« Er schwieg, während wir uns umarmten. Als ich nach oben schaute, entdeckte ich einen gleichermaßen traurigen wie wütenden Gesichtsausdruck. »Aber was spielt das schon für eine Rolle? Wir sind auf unterschiedlichen Schulen und nächstes Jahr geh ich an die Uni.« Er verlagerte das Gewicht und schüttelte den Kopf, als würde er sich selbst ins Gleichgewicht bringen wollen. »Ich meine ja nur, du bist erst in der Mittelstufe …« Ein gewohntes Gefühl des Unbehagens kroch in meine Brust. Ich drückte mich weg von ihm. »Falsch«, blaffte ich. »Ich fange jetzt mit der Highschool an, und überhaupt, seit wann interessiert dich das denn?«

 

Ich wurde wütend. Wir waren jetzt seit Wochen zusammen und David hatte mein Alter niemals erwähnt, oder die Tatsache, dass wir auf unterschiedlichen Schulen waren. Und jetzt nutzte er es als Rechtfertigung für … was? Um mit mir Schluss zu machen? Das ergab keinen Sinn. Weil ich nicht wusste, was ich sonst machen sollte, wechselte ich die Taktik. »Außerdem hast du gesagt«, erwiderte ich mit meiner verführerischen Das-Model-und-der-Schnüffler-Stimme, »dass du meine Nachbarschaft mit mir erkunden willst.«


Es war mein letzter verzweifelter Versuch, ihn wieder von dem loszureißen, was auch immer ihn gerade deprimierte. Es schien einen Augenblick lang zu funktionieren. Er fing an zu lächeln und schaute mit seinen riesigen braunen Augen in meine. »Das klingt tatsächlich nach Spaß«, gab er zu. »Siehst du?«, erwiderte ich, während ich erneut die Arme um seine Taille legte. Ich küsste ihn sanft auf die Wange. »Wie soll ich denn ohne dich weiterhin in Sicherheit bleiben?« Eine der Administratorinnen steckte ihren Kopf in die Küche. »Hey!«, sagte sie scharf. »Ihr Turteltauben solltet hier nicht drin sein.« Sie guckte David finster an. »Außerdem ist deine Mutter da, Patric.« »Ich muss los«, sagte er leise und ich wusste, dass mein Zauber gebrochen worden war. »Warte.« Ich schaute inständig die Administratorin an. »Können Sie uns vielleicht noch so zwei Sekunden geben, bitte?« »Ihr könnt alle Zeit der Welt in der Lobby haben.« »Nee, ist schon okay«, warf David ein. Er gab mir einen Kuss auf die Wange und flüsterte: »Bis bald.« Dann lief er durch die Tür nach draußen.