Geständnis Ich heiße Patric Gagne, und ich bin eine Soziopathin. Ich bin leidenschaftlich gern Mutter und Ehefrau. Ich bin eine einnehmende Therapeutin. Ich bin unglaublich charmant und beliebt. Ich habe viele Freunde und Freundinnen. Ich bin Mitglied in einem Countryclub.

Geständnis

Ich behielt diese Routine jahrelang bei, und diese Beständigkeit wirkte Wunder. Irgendwann war ich überzeugt davon, dass meine Theorie richtig war: Kleinere, gewohnheitsmäßige statt größerer, spontanere »schlechte« Handlungen waren die sicherere Wahl, um Druck abzulassen und meine soziopathische Angst im Zaum zu halten.  Geplante Verstöße ließen mich weniger wahrscheinlich aus Versehen aufzufliegen, und sie erlaubten mir, meiner eigenen Weisung zu folgen, niemandem wehzutun. Ich war wie eine gut geölte Maschine psychologischer und verhaltenstechnischer (wenn auch krimineller) Stabilität. Gut, ich stalkte immer noch halbwegs regelmäßig Menschen und nutzte gesetzeswidrigen Einbruch als »Behandlung«. Aber beides schien für mich nicht unter die Kategorie »verletzend« zu fallen. Im Gegenteil. Regelmäßige Dosen hielten meine dunklen Triebe davon ab, unkontrolliert zu eskalieren. Aufgrund dessen konnte ich aufblühen.

 

Ich war auf dem besten Weg zum Abschluss. Ich hatte mit meiner Forschung eine Menge erreicht. Man vertraute mir als Nanny. Ich hatte genau das getan, was ich geplant hatte: Ich hatte so etwas wie ein »normales« Leben für mich erschaffen. Trotz meines Erscheinungsbildes als verlässliche und angepasste, sozial akzeptierte junge Erwachsene kämpfte ich aber immer noch mit dem einen Problem, das ich schon als Kind gehabt hatte: Ich war allein.


Das, was ich als »soziopathisches Spektrum« bezeichnete, fühlte sich oft wie eine lebenslange Strafe in emotionaler Einzelhaft an. Niemand konnte das nachvollziehen. Niemand wollte Zeit mit mir verbringen. Nicht mit meinem wirklichen Ich zumindest. Ich war gänzlich allein. Und Einsamkeit, so war mir mit der Zeit bewusst geworden, konnte gefährlich sein.


Mein Vater war kürzlich in ein neues Haus in Beverly Hills gezogen und ließ mich im Haus am Coldwater Canyon wohnen. Das erste Mal in meinem Leben war ich gänzlich auf mich allein gestellt. Zuerst fand ich es großartig, denn vollständig ohne Beaufsichtigung und Rechenschaft zu sein, war wie ein warmes Bad. Aber nach einigen Monaten bemerkte ich einen Anstieg an destruktiven Zwängen. Zuerst fielen sie ganz subtil aus. So schossen mir brutale Fantasien durch den Kopf, wie aus dem Nichts. Mit der Zeit wurden diese immer extremer und ich begann, mir langsam Sorgen zu machen. Das lag aber nicht nur daran, dass die Zwänge immer intensiver wurden, sondern daran, dass sie gleichzeitig auch ausgeprägter wurden. Das erste Mal seit langer Zeit verspürte ich ein bestimmtes Verlangen nach körperlicher Gewalt, meist gegenüber Fremden. Weil ich es unbedingt verstehen wollte, führte ich Buch darüber, wann sie aufploppten. Mir fiel recht schnell auf, dass sie am meisten auftraten, wenn ich längere Zeit allein war. Das war vor allem an Wochenenden der Fall, wenn ich manchmal tagelang niemanden traf.


Es ergab keinen Sinn. Wenn ich allein war, fühlte ich mich am meisten wie ich selbst, fühlte mich so frei wie nie, um einfach ich selbst zu sein. Aber nach einer Reihe von ereignislosen Wochenenden hintereinander ohne sinnstiftende Interaktionen mit anderen bemerkte ich, dass ich eher zu gewaltsamen Fantasien neigte, wenn ich zu lange allein war. Es besteht ein großer Unterschied zwischen Eigenbrötlern und Einsamen. Es war bereits nach Mitternacht, und ich ging gerade nach einem langen Tag des Babysittens nach Hause. Ich frage mich, ob ein Teil von mir erwischt werden möchte, überlegte ich, während ich auf den Freeway fuhr. Oder gesehen werden möchte. Während der Fahrt schweiften meine Gedanken zu den Bildern ab, die ich von Columbine in Colorado gesehen hatte, zu den zwei Jungs, die in ihrer Highschool dreizehn Menschen erschossen hatten. Wie so viele andere hatte ich vor mich hingestarrt, war fassungslos gewesen, als die beiden an den Überwachungskameras vorbeigelaufen waren mit ihren automatischen Schusswaffen in den Händen. Aber wie nicht so viele andere verspürte ich ein akutes Gefühl beim Zuschauen: Wiedererkennung. Ich fühlte mich, als würde ich sie verstehen.


Ich hieß nicht gut, was sie taten, aber ich war davon auch nicht überrascht. Hatten sie auch mit der Apathie zu kämpfen? War diese furchtbare Tat einfach ein schrecklich fehlgeleiteter Versuch, gesehen zu werden? Ich wünschte, ich wüsste es. Ich wünschte, ich hätte in der Retrospektive ein riesiges Megafon gehabt, mit dem ich in die Welt hätte schreien können: 

»ACHTUNG! ACHTUNG! DIES GEHT AN ALLE SOZIOPATHEN UND ANTISOZIALEN AUSSENSEITER! KEINE PANIK! TU NIEMANDEM WEH! DU BIST NICHT ALLEIN! DU BIST NICHT VERRÜCKT!«

Das war das erste Mal, dass ich in Betracht zog, das Problem der Soziopathie außerhalb meiner selbst anzugehen. Eine surreale Erfahrung. Während ich mit dem Auto durch die Gegend fuhr und darüber nachdachte, wie es wäre, anderen Soziopathen zu helfen, fühlte es sich an, als hätte ich plötzlich und unwillentlich ein neues Gefühl erlernt. Tatsächlich klang der Gedanke, Menschen wie mich zu schulen, ganz interessant, vielleicht sogar unterhaltsam. Ich verließ den Freeway. Wer behauptet bitte, dass Soziopathen keine Empathie empfinden können? Ich wollte online ein wenig recherchieren, aber dann sah ich beim Einbiegen in meine Straße das Auto meines Vaters in der Einfahrt stehen. Der Fernseher im Wohnzimmer lief, und ich eilte nach drinnen, dankbar für die unerwartete Gesellschaft. »Dad? Du wohnst hier nicht mehr, hast du das vergessen?«, scherzte ich. Er lächelte und erwiderte: »Was soll ich sagen? Dieser Ort fühlt sich noch immer mehr wie ein Zuhause an als das neue Haus.« Er machte den Fernseher aus und umarmte mich. »Du hast doch nicht etwa jetzt erst Feierabend?« Unsere Umarmung fiel kurz aus, da ich mich rauswand, um mir etwas zu essen zu holen. Ich war richtig ausgehungert. »Doch«, sagte ich. »Die waren auf einer Premiere.« Dad folgte mir in die Küche, und ich durchforstete die Speisekammer. »Wie läuft’s an der Uni? Alles gut?«, fragte er, während er sich an die Kücheninsel setzte. Sein Tonfall klang deplatziert, und ich wurde argwöhnisch.


»Ja«, erwiderte ich langsam. »Das ist gut.« Er betrachtete mich einen Augenblick, dann fuhr er mit dem, was ich für seinen eigentlichen Punkt hielt, fort: 

»Weißt du … ich mag das gar nicht, dass du während des Semesters abends so lange arbeiten musst.«

In der Speisekammer verdrehte ich gegenüber dem Essen, das so ordentlich in den Regalen einsortiert war, meine Augen. »Mache ich normalerweise ja auch nicht.« »Ich meine damit aber nicht nur heute«, fügte er mit einem besorgten Gesichtsausdruck hinzu. »Du stehst noch vor Sonnenaufgang auf, dann arbeitest du bis spätnachmittags, manchmal bis in die Nacht rein. Wann lernst du? Wann schläfstdu?« Wir hatten darüber schon mal diskutiert. Ich wusste, dass mein Vater kein Fan davon war, dass ich schon während meiner Studienzeit arbeiten wollte. Seiner Ansicht nach war die Unizeit eine entspannte und spaßige Angelegenheit. Im Versuch, das Gespräch wieder in heiterere Bahnen zu lenken, schlenderte ich zur Kücheninsel und grinste ihn an, während ich mich herzhaft über meinen Schokoriegel hermachte. »Schlaf ist eh überbewertet«, sagte ich, aber er ließ sich nicht von seinem Punkt abbringen. »Bleib mal bitte kurz ernst, Patric. Niemand schätzt harte Arbeit mehr als ich und ich finde es bewundernswert, dass du als Nanny arbeitest, und das als Kursbeste in allen Fächern.« »Danke.«  »Aber du übernimmst dich damit. Du musst mal langsamer machen. Genieß die Unizeit, bevor sie wieder vorbei ist.« Ich biss mir, langsam genervt, auf die Zunge. »Du verstehst das nicht«, erwiderte ich. Er griff über die Theke nach meiner Hand. »Dann tu mir den Gefallen, Süße, und lass es mich verstehen.« Er drückte sie. »Du bist jetzt seit fast vier Jahren hier. Was sind deine Hobbys? Wo sind deine Freunde?« Und dann: »Was ist los, mein Herz?« In dem gedämpften Küchenlicht sah er so ruhig aus, so rational. Was, wenn ich ihm die Wahrheit sage? Himmel, das war eine allzu bekannte Versuchung – mit der ich mein ganzes Leben zu kämpfen hatte. Selbst jetzt erwischte ich mich dabei, wie ich zwischen der Sicherheit der Schwindelei und der Freiheit der Wahrheit schwankte. »Die Wahrheit wird dich frei machen!« Ich hatte diesen Spruch schon so oft gehört und wünsche mir jedes Mal aufs Neue, dass er stimmen würde. Diese Regel schien aber, wie so viele andere, nicht auf Menschen wie mich zuzutreffen. Die Wahrheit stellt keine Freiheit für uns dar. Im Gegenteil. Die seltenen Male, bei denen ich die Wahrheit gesagt hatte, war ich in Schwierigkeiten geraten. Lügen hielten mich in Freiheit. Dennoch war die Lügerei, so effektiv sie auch meine Sicherheit gewährleistete, ganz schön kräfteraubend. Ich war eine monotone Kombination aus gefälschten Persönlichkeitsmerkmalen und verfälschten Geschichten, und ich hatte es satt, das alles zu jonglieren. Das war einer der Gründe, weshalb ich mich inzwischen so isoliert hatte. Es war einfacher, allein zu sein, statt andauernd eine Show abziehen zu müssen.


Aber vielleicht sollte ich mal einen Blick auf all das außerhalb der Schatten werfen, statt so viel Energie in die Unsichtbarkeit zu stecken? Ich war immer ehrlich mit David gewesen und hatte es kein einziges Mal bereut. Ich hatte mich niemals gefühlt, als sei ich nicht mehr sicher. Ich schaute meinen Dad an. Seine netten blauen Augen erinnerten mich an den Pazifik. »Ich sag dir, was los ist«, uns beide mit meiner Ehrlichkeit überraschend. »Aber es wird dir nicht gefallen.« Er drückte wieder meine Hand. »Schau’n wir mal.« Ich nickte, atmete tief ein und begann zu erzählen. Von meiner Apathie und meinem destruktiven Verlangen. Ich enthüllte die Sachen, die ich, sowohl als Kind als auch als Erwachsene, gemacht hatte, und die Wege, mit denen ich versuchte, mit meinen Trieben umzugehen. Ich legte detailliert meine Schwierigkeiten in der Schule und an der Uni dar, erzählte von meinen Gesprächen mit Dr. Slack. Dann beschrieb ich meine Forschung und die Gründe für meine Geschäftigkeit. »Darum brauche ich den Job«, erklärte ich ihm. »Ich darf nicht zu viel Freizeit haben. Mir darf nicht langweilig werden. Das ist schwierig zu beschreiben, aber wenn mir langweilig wird, dann ist es, als würde ich mich daran erinnern, wie es sich anfühlt, nichts zu fühlen. Und dieses Gefühl – das Gefühl, nichts zu fühlen – bringt mich dann dazu, schlechte Sachen zu machen.« Ich zuckte leicht mit den Schultern. »Manchmal zumindest.«


Dad hörte still zu und starrte dabei die Arbeitsfläche aus Marmor an. Dann schaute er hoch. »Herrgott, Patric«, flüsterte er. »Ich meine …« Er hielt inne, sich sichtlich unwohl fühlend. »Ich habe mich immer gefragt. Als du noch kleiner warst, da dachten deine Mutter und ich, wir dachten immer …« Er verstummte mitten im Satz. »Dass ich vielleicht zur Serienmörderin werden würde?« Er sah gleichermaßen traurig und peinlich berührt aus. »Nicht unbedingt.« Ich lächelte, wollte ihn beruhigen. »Dad, was war ein Scherz. Auf jeden Fall ist’s okay.« »Okay, dass meine Tochter denkt, sie sei eine Soziopathin? Wie kann das okay sein?« Ich schüttelte den Kopf und aß den Rest meines Schokoriegels. »Weil das Dasein als Soziopathin nicht das ist, was du denkst. Es ist tatsächlich nicht das, was alle denken.« Ich stand auf. »Schau mich doch mal an. Du würdest nicht denken, dass ich die Sachen mache, die ich mache. Ich bin eine verantwortungsvolle Studentin mit einer Vollzeitstelle, bei der sie auf kleine Kinder aufpasst, Himmeldonnerwetter.« »Die Autos klaut und in Häuser einbricht?« »Genau. Verstehst du mein Argument zur Freizeit jetzt?« Ich ging erneut zur Speisekammer. »Süße«, sagte er. »Das ist aber doch nicht nachhaltig. Wie wär’s denn mit einer Therapie?« »Hast du mir nicht zugehört? Kein Therapeut wird mir helfen. Soziopathie steht nicht mal im DSM.«


»Na ja, aber es könnte helfen, über deine Gefühle zu reden.« »Welche Gefühle?« »Sei nicht albern, Patric«, erwiderte er. »Ich weiß doch, dass du Dinge fühlst.« Ich kam mit einem weiteren Riegel zur Kücheninsel zurück. »Ja, du hast recht«, sagte ich und setzte mich neben ihn. »Natürlich fühle ich etwas. Du musst nur einfach verstehen, dass meine Gefühle nicht so sind wie die anderer Menschen.« »Dann erklär’s mir«, forderte er mich schließlich auf. »Wie fühlt es sich an, wenn du etwas fühlst?«


Ich dachte darüber nach, suchte nach einer nachvollziehbaren Metapher. »Weißt du, wie es ist?«, fragte ich dann. »Als hätte man schlechte Augen. Ich kann das meiste sehen, aber es gibt ein paar Dinge, da muss ich die Augen zusammenkneifen, um sie lesen zu können. Es ist das Gleiche mit Gefühlen. Freude und Wut – die sind klar und deutlich. Die sind mir angeboren. Aber andere eben nicht. So Sachen wie Empathie und Reue – ich kann zu ihnen eine Verbindung herstellen, wenn ich mich anstrenge –, aber das passiert nicht von allein. Manchmal passiert es gar nicht.« Ich runzelte die Stirn. »Dann muss ich so richtig die Augen zusammenkneifen.« Dad nickte andächtig. »Und diese Triebe … Wann … kommen die?« »Immer wenn ich zu lange nichts gefühlt habe«, erwiderte ich. »Die Sachen, die ich mache, sind wie Medizin. Ich breche in ein Haus ein oder klaue ein Auto und dann ist der Druck einfach … weg.« Ich machte mit meinen Händen einen Schmetterling nach. »Das ist ein verhaltensbezogenes Rezept.« »Und hast du jemals jemandem … wehgetan«, bohrte er vorsichtig nach. »Nicht seit der Mittelstufe.«


»Aber du wolltest es.«
Ich seufzte. »Irgendwie schon. Es ist nicht so, als würde ich es wollen, sondern eher, als würde ich es müssen.« Ich zuckte mit den Schultern. »Wie ich bereits gesagt habe, dieses Verlangen ist selten und ploppt nur auf, wenn ich zu lange nichts gefühlt habe. Oder zu lange allein war.« »Was heißt denn ›zu lange‹?«, drängte er weiter. »Heißt das so was wie ein Wochenende? Was passiert dann?« Auf die Frage war ich nicht vorbereitet, also zuckte ich wieder mit den Schultern und spielte mit einem Drehteller auf der Theke. »Ich beschäftige mich.«


Ich hatte in den letzten Monaten einen meiner Meinung nach harmlosen und effektiven Weg gefunden, um mich zu beschäftigen und das Alleinsein am Wochenende zu verhindern. Diese Aktivität lenkte mich nicht nur ab, sondern half sogar eine ganze Menge gegen den Druck. Aber ich wusste, dass mein Vater sie nicht mögen würde.


»Süße?«, hakte er nach. »Was machst du an den Wochenenden?« »Ich gehe in die Kirche«, antwortete ich. Das war nicht die ganze Wahrheit, aber ich war mir nicht sicher, wie ehrlich ich auf die Schnelle sein wollte. »Ich wusste nicht, dass du zur Kirche gehst«, sagte er. Und ich konnte sehen, wie aufgeregt er bei diesem Gedanken wurde. Dad war als Baptist in den Südstaaten, in Mississippi, aufgewachsen und hatte sich nie ganz von der Geistlichkeit lösen können. »Zu welcher gehst du? Ich würde wahnsinnig gern mal mitgehen, wenn du magst.« Ich wackelte mit meinem Kopf von einer Seite zur anderen. »Na ja, ich hätte da kein Problem mit. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass es dir wirklich gefallen würde.« Ich hielt kurz inne. »Das sind keine normalen Gottesdienste.« »Was meinst du damit?« »Es sind Beerdigungen.«


Es war vor ein paar Monaten losgegangen. Einer von Dads Freunden war gestorben, und er hatte mich gefragt, ob wir uns beim Forest Lawn Memorial Park für die Beerdigung treffen könnten. Ich hatte nicht viel erwartet, denn ich hatte den Freund nur einige Male getroffen und war davon ausgegangen, dass es bei der Beerdigung um viel Schein und Sein gehen würde. Ich hätte nicht falscher liegen können. Als wir die Kapelle betraten, traf mich das Geräusch einer weinenden Frau wie ein Schlag. Sie weinte nicht nur einfach, sondern heulte richtig, fast schon hysterisch vor Trauer. Es war die Ehefrau. Ich konnte sie, während wir unsere Plätze aussuchten, vornübergebeugt sehen, in einer der Kirchenbänke, mit bebendem Körper. Nie zuvor hatte ich eine solche Demonstration reiner Gefühle gesehen und ich war wie gebannt. Ich hatte mich umgeschaut, wollte wissen, wie die anderen reagierten. Mir fiel auf, dass auch alle anderen in der Kapelle davon mitgenommen wurden.


Das war anders als alles andere, was ich je erlebt hatte. Natürlich hatte ich meinen Anteil an Gefühlsausbrüchen erfahren, aber das hier war etwas völlig Neues. Ich war umzingelt davon. Wo ich auch hinschaute, standen Menschen umhüllt von einem Mantel aus Gefühlen. Manche trugen ihre Reaktion offen zur Schau, bei anderen war es dezenter. Aber alle fühlten … etwas. Sie wirkten, als wären sie durch einen unsichtbaren emotionalen Faden miteinander verbunden. Und dann passierte das Merkwürdigste: Meine Apathie löste sich auf.


Ich konnte das gar nicht glauben. Es war das gleiche Gefühl, das ich auch nach den Einbrüchen oder Autodiebstählen hatte, nur dass ich weder das eine noch das andere getan hatte. Dieses Gefühl war eine Kombination aus akutem Bewusstsein und völliger Entspannung. Ich fühlte nicht per se etwas, aber ich fühlte auch nicht nichts. Es war, als würde ich schweben, als ließe ich mich auf der Energiewelle anderer Leute treiben. Nach der Beerdigung lief ich wie in Trance mit Dad zu der Grabstätte. Mich hatten noch nie zuvor so viele gesteigerte Gefühle umgeben und das hatte einen transformativen Effekt. Es war, als würde ich der Apathie mithilfe von Osmose entkommen. Ich konnte nicht genug davon bekommen, ich war wie ein Gefühlsvampir. Sind alle Beerdigungen so? Ich musste es herausfinden. Nachdem mein Vater gegangen war, lief ich zurück zur Kapelle, wo bereits der nächste Gottesdienst begann. 


Ich setzte mich leise in die letzte Reihe und wartete. Diese nächste Beerdigungszeremonie war ganz anders. Die Verstorbene war eine ältere Frau gewesen, die ihrer langjährigen Krankheit erlegen war. Die wenn auch zahlreichen Trauernden waren gefasster. Niemand schien von der Trauer überwältigt zu sein, nur ein paar wenige weinten sichtbar, aber die Energie im Raum war die gleiche wie vorher. Wenn nicht sogar noch mächtiger. Danach war ich angefixt. Ich nahm fast jedes Wochenende an einer »Fremdbeerdigung«, wie ich sie nannte, teil. Am liebsten ging ich zum Forest Lawn Memorial Park, aber irgendwann erweiterte ich mein Territorium und ging zu Friedhöfen in ganz Los Angeles. Meine liebsten Beerdigungen fanden abends statt. Auch wenn es sie nur selten gab, so waren sie meist die emotional aufgeladensten, und nicht zuletzt auch die atmosphärischsten. Ich durchforstete die Zeitungen und Webseiten der Kirchen und Friedhöfe, um dann mein ganzes Wochenende um Abendbeerdigungen herumzuplanen.


Ich tat mein Möglichstes, meinem Vater meinen Enthusiasmus zu vermitteln. »Ich sage dir. Die nächtlichen Beerdigungen sind eine ganz andere Liga. Ich wünschte, ich wüsste, wer das so plant. Also ich wünschte, ich könnte die Leute vor ihrem Tod treffen. Ich wette, die sind großartig. Ohne Witz. Du solltest mal mitkommen.« Dad starrte mich an, sichtlich entsetzt. »Patric«, sagte er nach einer kurzen Pause. »Das ist nicht richtig.« »Zu Beerdigungen zu gehen?«, schnaubte ich. »Jetzt mach mal halblang.« »Hör mir mal bitte zu«, fuhr Dad fort, als ich ihn gerade unterbrechen wollte. »Vielleicht nimmst du ihnen nichts Handfestes weg, aber bitte irr dich nicht: Du klaust. Du nutzt ihren Schmerz zu deinem Vorteil. Das ist falsch, Schatz.« »Ich breche aber kein Gesetz«, argumentierte ich. »Was ich damit sagen will, ich weiß, dass der Diebstahl von materiellen Gütern verboten ist. Aber wer sagt denn, dass es falsch ist, auf die Beerdigung von Fremden zu gehen?« »Oh, Süße, nein«, sagte er, verzweifelt. »Eine Sache muss nicht illegal sein, um auch falsch zu sein. Das weißt du doch.« »Ja, ich weiß das«, sagte ich. »Es interessiert mich nur nicht.« Ich überlegte, wie ich ihm das erklären könnte. »Du sagst, dass es ›falsch‹ sei, weil es sich falsch für dich anfühlt.« »Ja. Weil du den Schmerz von jemand anderem für dich ausnutzt.« »Genau«, bestätigte ich. »Was du also damit sagen willst, ist, letztlich, dass du es nicht machen würdest, weil du das Gefühl nicht magst, das es in dir auslöst.« Er dachte einen Moment darüber nach und bestätigte dann widerwillig: »Ja.«


»Siehst du?«, hakte ich nach. »Das versuche ich dir gerade zu erklären. Ich habe das Gefühl nicht. Diese Scham. Da ist also weder innerlich noch äußerlich etwas, was mich von diesen Handlungen abhalten würde. Wenn ich dort hingehe, löst es bei mir nichts aus. Wenn überhaupt, dann führt es bei mir eher dazu, dass ich fein damit bin, dass ich nichts fühle. Es hilft mir, meine Nichtgefühle zu akzeptieren. Und diese Akzeptanz, glaube ich, hält meine ›soziopathische Angst‹ in Schach.« Ich lächelte, in der Erwartung, dass er von meiner Begründung beeindruckt sein würde. »Es ist ja nicht so, als würde ich da irgendwen stören oder mich respektlos verhalten oder so.« Er seufzte, stellte sich gerade hin. »Na ja, man könnte schon behaupten, dass deine Anwesenheit allein bereits respektlos ist.« »Sieh mal. Ich kann nichts daran ändern, dass ich keine Gefühle wie normale Menschen habe. Aber ich muss das kleinere Übel für mich aussuchen. Wie diese Beerdigungen«, erklärte ich. »Ich verstehe, dass die Menschen um mich herum traurig sind. Ich verstehe das. Aber es hilft mir. Wenn ich da also hingehe, dann bin ich sehr pietätvoll. Ich weiß nicht, wie ich das anders erklären soll. Das ist wie meine eigene Art der Organisation. Deswegen bringe ich auch immer Blumen mit.« Dad blinzelte. »Was?« »Also, außer die Familie hat um Spenden gebeten, dann schreibe ich einen Scheck.« Mein Vater schüttelte den Kopf und konnte das Gehörte nicht so recht verarbeiten. »Du schreibst … den Familien Schecks, den Familien, deren Beerdigungen du … sprengst?« »Na ja, meist geht der an irgendeine Wohltätigkeitseinrichtung. Aber, ja.« Ich trank einen Schluck Wasser und starrte ihn an. »Es ist dasselbe Prinzip wie mit den Autos. Wenn ich sehe, dass sie fast kein Benzin mehr haben, fülle ich den Tank. Und auch bei den Häusern. Einmal hatte jemand den Herd angelassen, den hab ich dann ausgemacht. Ich versuche so, das Karma auszugleichen.«


Dad vergrub das Gesicht in den Händen. »Was also willst du mir damit sagen, Patric?«, fragte er mit gedämpfter Stimme. »Dass du so eine Art soziopathische Buddhistin bist?« Ich riss die Augen auf, eingenommen von der Idee. »Yeah!« Er kämpfte um seine Fassung. »Das war ein Scherz.« »Oh.« »Süße«, fuhr er mit gesenktem Kopf fort. »Das ist verrückt. Was passiert, wenn jemand bei der Beerdigung wissen will, wer du bist? Ist dir das jemals in den Kopf gekommen? Dass irgendwer mal wissen wollen würde, wer die alleinsitzende große Blonde in der letzten Reihe sein könnte?« »Vertrau mir, Dad. Niemand beachtet mich da jemals. Was okay ist, weil ich nicht dort bin, um mit jemandem zu reden.« Er schüttelte den Kopf. »Warum gehst du dann überhaupt hin? Wenn du gar nicht mit Menschen reden möchtest?« Ich schloss die Augen und massierte mir die Schläfen. »Das ist so schwierig zu beschreiben«, sagte ich. »Weil ich nicht mit anderen Menschen eine Beziehung herstelle, so wie du, so wie die meisten Menschen. Mich interessiert das meiste, das normalen Menschen wichtig ist, überhaupt nicht. Ich interagiere nicht gern mit Menschen, weil sie zu mir keine Verbindung herstellen können. Und ich nicht zu ihnen.« Ich atmete tief durch. »Aber nur, weil ich es nicht kann, heißt das nicht, dass ich nicht wünschte, ich könnte es.« Ich schüttelte traurig den Kopf. »Ich habe mir das nicht ausgesucht«, sagte ich hilflos. »Ich habe nicht entschieden, jemand zu sein, der nicht wie alle anderen fühlt. Und ich glaube, ich akzeptiere es immer mehr, aber es ist immer noch scheiße. Ich bin allein. Körperlich, seelisch, emotional, all das.« Ich atmete verärgert aus. »Ich bin ein einziger beschissener wandelnder Gegensatz.« Dad sah traurig aus. »Ach, Süße.«


Ich schaute auf den Boden und meine Gedanken verschwanden im mexikanischen Fliesenmuster. »Weißt du, was das Schlimmste daran ist? Daran, eine Soziopathin zu sein? Die Einsamkeit. Man sollte das nicht glauben, aber es stimmt. Ich hätte gern Freunde und Freundinnen. Ich möchte Verbindungen eingehen, aber ich kann es nicht. Es ist, als würde ich verhungern, mich Essen aber krankmachen.« Dad antwortete nicht und ich konnte ihm ansehen, dass er sich an etwas zu erinnern versuchte. »Hey«, bot er dann nach einem langen Moment der Stille an. »Was ist denn mit David? Seid ihr zwei nicht befreundet?«


Allein der Klang seines Namens brachte mich zum Lächeln. »Ja«, antwortete ich. Dad hatte recht. David war mit mir befreundet, und das auch eng. Es verging kaum ein Monat, an dem ich nicht mit meiner Jugendliebe telefonierte. Wir hatten uns sogar ab und an im Laufe der Jahre getroffen, bei Urlaubspartys und zufälligen Veranstaltungen. Meist, wenn ich zu Mom und Harlowe nach Hause flog. Aber trotz unserer unbestreitbaren Verbindung fühlte sich diese Beziehung nicht greifbar an für mich, diese große Distanz. Ich war kein Kind mehr, und David auch nicht. »Du hattest Gefühle für ihn, oder?«


Ich zuckte schwach mit den Schultern. »Ja«, bestätigte ich. »Aber David wohnt nicht hier, Dad. Er hat sein eigenes Leben, fast fünftausend Kilometer entfernt. Sein eigenes normales Leben. Und das will ich auch für mich. Mein eigenes normales Leben. Weißt du, zumindest, soweit das möglich ist für mich.« Dad lehnte sich mit einem eigentümlichen Gesichtsausdruck gegen die Kücheninsel. »Dann lass uns also darüber reden.«  »Worüber reden?« »Du machst in wenigen Monaten deinen Abschluss«, fuhr er fort. »Was willst du dann machen?« Ich seufzte. Allein die enorme Tragweite der Frage erschöpfte mich. »Halleluja, Dad. Ich habe keine Ahnung.« »Na ja«, sagte er. »Darf ich einen Vorschlag machen?« »Konnte ich dich jemals davon abhalten?« »Ich glaube, du solltest danach für mich arbeiten.« Dad hatte oft mit einer der größten Talent-Management-Firmen der Branche zusammengearbeitet. Nun hatte er vor Kurzem entschieden, seine eigene Firma aufzubauen, und mich im Zuge dessen schon einige Male gefragt, ob ich ihm dabei helfen wolle. Ich hatte ihn nie ernst genommen. Ich schaute ihn an, als sei er verrückt geworden. »Für dich arbeiten? Als was?« »Du könntest Musikmanagerin sein.« »Ah, kann ich?« Ich schüttelte lachend den Kopf. »Welcher Idiot würde bitte mich als Managerin engagieren?« »Ich.« Grinsend legte ich den Kopf schräg. »Daddy«, sagte ich, ein wenig gerührt von seinem Angebot. »Ich liebe dich, aber das ist verrückt. Hast du mir nicht zugehört? Ich bin eine Soziopathin, Himmelhergott nochmal.« »Sagst du«, gab er zurück. »Ich will immer noch, dass du darüber mal mit einem Therapeuten redest. Tatsächlich bestehe ich darauf.«


»Na gut«, gab ich mich geschlagen. »Aber du musst mir keinen Job geben, um mich vor Schwierigkeiten zu bewahren.« »Mache ich nicht«, sagte Dad. »Ich denke da seit Monaten drüber nach. Du hast super Instinkte bei Musik, Patric. Und was würdest du außerdem« – er schaute sich um – »sonst machen? Willst du ein Leben lang Nanny spielen?« Ich schaute erneut den Drehteller an, zupfte an der Schüssel, die darauf stand und bewunderte die absolut symmetrisch angeordneten Äpfel darin. Ich hatte sie auf dem Wochenmarkt gekauft. Zu Hause hatte es mich eine Stunde meiner Zeit gekostet, sie exakt richtig anzuordnen. Dieses Tetris-Spiel war für mich ein guter Zeitvertreib, wie eine Runde Meditation. Allein ihr Anblick löste ein immenses Gefühl des losgelösten Friedens und der Zufriedenheit aus. »Also?«, hakte Dad nach. »Was denkst du?« Ich stand auf und schob mich von der Theke weg. »Ich denke, dass ich jetzt erschöpft bin. Ich habe noch eine ganze Menge Arbeit für meinen Kurs vor mir und will vor meinem Abschluss noch möglichst viel Zeit in der Bibliothek verbringen.« Ich zuckte mit den Schultern. »Ich brauche etwas Zeit, um darüber nachzudenken.«


Dad schnappte sich einen Apfel, verschob dabei die Schüssel und brachte das Arrangement durcheinander. Meine einst so symmetrische Fruchtinstallation brauchte jetzt dringend eine ernsthafte Umstrukturierung. Er lächelte und biss in den knackigen Granny Smith, das laute Geräusch schickte mir einen Schauer über den Rücken. »Ich geb’ dir zwei Wochen«, sagte er. Dann küsste er mich auf die Wange und ging.